Themen / Frieden

Anmerkungen zur Demokra­ti­sie­rung in Serbien

01. Dezember 2000

Mitteilung Nr. 172, S. 90-91

Auf die Podiumsdiskussion „Frieden schaffen durch Krieg?“ am 22. September 2000 in Marburg (Verbandstag) und den zusammen-fassenden Bericht des HU-Bundesvorsitzenden hierzu bezieht sich Jürgen Roth mit seinem nachstehenden Leserbrief.

Der Vorstand der HU macht es sich nach meiner Auffassung mit seiner Bewertung der Nato-Angriffe auf Serbien leicht. Sein Beharren auf der angeblichen Völkerrechtswidrigkeit wirkt angesichts einer brutalen Vertreibungs- und Repressionspolitik allzu beckmesserisch. Verkannt wird, dass der Krieg gegen alle anderen Ethnien im früheren Jugoslawien vom Milosevic-Regime ausging. Ohne Intervention von außen – bei all ihren Problemen – hätte die korrupte Clique des Diktators die Kriege gegen Bosnien und im Kosovo gewonnen. Wer diese Zusammenhänge gedanklich beiseite mogelt, degradiert das Völkerrecht zum Recht der Regierenden über die Völker. Nach dieser – vor allem von China vertretenen – Auffassung darf es in der Tat keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder geben. Dabei ist es egal, was dort passiert. Verbrechen können danach kein Unrecht sein, weil sie von Staaten begangen werden. Völkerrecht schützt nach dieser Auffassung die Staaten voreinander, nicht aber die Menschen vor staatlicher Unterdrückung. In der Asylpolitik kennen wir bis heute die Auswirkungen dieser fatalen Lehre. Opfer nicht-staatlicher Verfolgungen werden nur in großen Ausnahmefällen als Asylberechtigte anerkannt.
Rufen wir uns in Erinnerung: es war ausschließlich die Haltung von China und Rußland, die mit Hilfe des Veto-Rechts eine geschlossene Haltung des Weltsicherheitsrates gegen Milosevic anfangs blockiert hatte. Während die chinesische Führung ihr Massaker in Peking rechtfertigt, brauchte Boris Jelzin freie Hand für seinen Krieg gegen die Tschetschenen. Die Motive für die Blockade der internationalen Staatengemeinschaft zu Beginn der Luftangriffe waren nicht dem Recht geschuldet, sondern der Rechtfertigung eigener Rechtsbrüche. Es ist ein Verdienst der deutschen EU-Präsidentschaft, die internationale Staatengemeinschaft endlich doch wieder in ihr Recht gesetzt zu haben.
Der Vorstand der Menschenrechtsvereinigung HU muss sich fragen lassen, ob die demokratische Umwälzung in Serbien bei dem militärischen Sieg von Milosevic im Kosovo möglich gewesen wäre. Die Rückkehr Serbiens in die Gemeinschaft der europäischen Völker ist auch der Einsicht der Serben geschuldet, dass Massenmorde und Vertreibungen nur Schande und Elend über das eigene Volk bringen. Diese Lektion ist bitter und ungeheuer schmerzhaft. Wie Deutschland nach 1945 müssen aber alle europäischen Völker lernen, ohne Gewalt und Unterdrückung miteinander zu leben. Nach Srebrenica ist das Wegsehen und Verharmlosen jedenfalls nicht mehr erlaubt. Auch international kann Schweigen Mittäterschaft bedeuten.
Jetzt kommt es darauf an, den Menschen so schnell und wirkungsvoll wie möglich unter die Arme zu greifen, damit der Demokratisierungs-prozess fortschreitet. Alle Völker des Balkan sollten jetzt mit offenen Armen in Europa empfangen werden.

Jürgen Roth

Anm. der Diskussionsredakteurin: Jürgen Roth greift hier ein heißes Eisen auf, das ja auch bereits auf der Veranstaltung „Internationale Konfliktlösung und ‘neues‘ Völkerrecht“ des HU-Bildungswerks NRW am 4./5. März 2000 ausführlich behandelt wurde. Da es sich aber hierbei nicht um eine abgeschlossene Angelegenheit handelt, sondern womöglich um einen Präzedenzfall mit erheblichen Auswirkungen in der künftigen völkerrechtlichen Behandlung solcher Kriegseinsätze, möchten wir unsere Mitglieder einladen, uns weitere Meinungsäußerungen zukommen zu lassen.

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