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'Bildungs­paket' und 'Bildungs­karte' für Hartz-I­V-Kinder - keine angemessene Antwort auf das Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zu den Regelsätzen

25. September 2010

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 beschrieben, wie eine verfassungskonforme Bestimmung der Hartz IV-Regelsätze aussehen könnte. Mit dem Urteil bekamen Bundesregierung und Gesetzgeber klare Vorgaben für eine Neuregelung. Nachdem Ursula von der Leyen ihren Entwurf vorgelegt hat, prüfen wir, ob der Vorschlag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) den Anordnungen des Verfassungsgerichts auch gerecht wird.

Der Auftrag: Das BVerf­G-­Ur­teil vom 9. Februar 2010

Am 9. Februar 2010 hat das BVerfG in der Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder entschieden. Dabei kamen die Verfassungsrichter zu dem Schluss, dass die Kosten für Bildung und Teilhabe von Kindern aus Familien von Hartz-IV-Empfängern nicht angemessen berücksichtigt werden, d.h. dass die Art der Regelsatzbemessung verfassungswidrig ist und bei der bisherigen Regelsatzberechnung Bildungsausgaben für Kinder und Jugendliche durch einen systematischen Fehler nicht berücksichtigt wurden.

Im ersten Leitsatz hob das Gericht hervor, dass das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ neben den physischen Bedürfnissen auch „ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfasst. 

Dieses Grundrecht als ein ‚Gewährleistungsrecht‘, so führt das Gericht im zweiten Leitsatz des Urteils fort, „ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat.“

Im dritten Leitsatz erteilt das BVerfG dem Gesetzgeber den unmissverständlichen Auftrag in Bezug auf die Ermittlung des Anspruchsumfangs „alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.

Dieser Anordnung entsprechend hat der Gesetzgeber Neuregelungen bis spätestens zum 31. Dezember 2010 zu treffen. Dabei hat der Gesetzgeber laut BVerfG „bei der Neuregelung einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs […] zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ zwingend vorzusehen.

Die Idee: Der Bildungs­pa­ket­vor­schlag des BMAS

Schaut man auf die dem Gesetzgeber vorgegebene Frist, so muss man mit einigem Erstaunen feststellen, wie wenig doch seit Februar bezüglich der vom BVerfG geforderten ‚transparenten‘ Neuregelung geschehen ist. Wie das zukünftige Berechnungsverfahren genau aussehen soll, darüber hörte man vom BMAS bisher noch nicht viel, die Internetpräsenz  des BMAS verriet nur einige spärliche Details. Am 20. September 2010 – drei Monate vor Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist – hat das BMAS es nun endlich geschafft, einen ersten Referentenentwurf vorzulegen. Dieser enthält allerdings immer noch nichts Konkretes zur Berechnung der Regelsätze. Dadurch wird der Gesetzgeber durch einen engen Zeitrahmen unter Druck gesetzt.

Laut Homepage des BMAS soll es ein „transparent ermitteltes Arbeitslosengeld II für Erwachsene“, in welchem die unterschiedlichen Haushaltsstrukturen berücksichtigt werden, und ein „eigenständiges Sozialgeld für Kinder und Jugendliche geben.“ Diese Basisleistungen sollen auf der Grundlage von Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 berechnet werden (für Kinder „auf der Basis von Verbrauchsausgaben von Paaren mit einem Kind“).

Daneben soll der vom BVerfG festgestellte zusätzliche Rechtsanspruch für Kinder und Jugendliche „auf gezielte Förderung in den Bereichen Bildung und gesellschaftliche Teilhabe […] in einem eigenständigen Bildungspaket erbracht werden.“

Im August 2010 wartete die Bundesministerin für Arbeit und Soziales mit dem Vorschlag  für ein ‚Bildungspaket‘ mit ‚Bildungskarte‘ für Hartz-IV-Empfänger auf. Es soll ab Mitte 2011 zunächst in einigen Modellregionen und dann in der gesamten Bundesrepublik eingeführt werden. Ein Gesetzentwurf, der laut BMAS auch Details zur Berechnung der Regelsätze enthält, soll im September vorgelegt werden und im Oktober 2010 das Kabinett passieren.

Das Bildungspaket soll entsprechend einer Broschüre des BMAS vier Leistungen umfassen:

  • Lernförderung (wenn diese nachweislich erforderlich ist)
  • Schulmaterial als zweigeteilte Leistung (70 Euro zum Schulbeginn, 30 Euro zum 2. Halbjahr) und eine Kostenübernahme für eintägige Schulausflüge 
  • einen Zuschuss zum Mittagessen (wenn dies von den Schulen oder Kindertagesstätten angeboten wird) 
  • und die Förderung der Teilnahme an Vereins-, Kultur- und Ferienangeboten.

Diese vier ‚Säulen‘ des Bildungspakets finden sich weitestgehend auch in dem momentan vorliegenden Referentenentwurf wieder.

Bei der Umsetzung des Pakets legt das BMAS eine starke Betonung auf Vernetzung durch sogenannte ‚Bündnisse vor Ort‘. D.h., es soll ein „starkes Netz aus Staat und Zivilgesellschaft“ geschaffen werden, in welches neben dem Jobcenter – als zentralem Akteur der Abwicklung und Kontrolle – Schulen, Rathäuser, private Unternehmen, „Sport, Kultur und andere Anbieter vor Ort“, Stiftungen und Ehrenamtliche einbezogen werden sollen.

Eine von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales schon seit geraumer Zeit medienwirksam unter dem Motto „alles auf eine Karte“ inszenierte sogenannte ‚Bildungskarte‘ soll hierbei als Zahlungsmedium fungieren. Über diese soll garantiert werden, dass die gewährten Leistungen auch „unkompliziert und zweckgerecht“ verwendet würden. Um dabei möglichen Diskriminierungen entgegenzuwirken plant das BMAS, die Karte sukzessive für alle Kinder und Jugendlichen einzuführen. Außerdem soll die Karte laut BMAS „anschlussfähig [sein] an bestehende örtliche Angebote und Leistungen“, da das System offen sei für weitere Guthaben neben den durch den Bund auf die Karte geladenen ‚zweckgebundenen‘ Guthaben für SGB II Leistungen.

Erste Bewertung des Konzepts vor dem Hintergrund des BVerf­G-­Ur­teils vom 9. Februar 2010

Das BVerfG hatte in seinem Urteil dem Gesetzesgeber zwar einen eindeutigen Auftrag erteilt, räumt diesem bei der konkreten Ausgestaltung jedoch einen ‚Gestaltungsspielraum‘ ein. Diesen Gestaltungsspielraum scheint man sich im BMAS wohl besonders zu Herzen genommen zu haben – was vor allem in der Betonung des populistisch anmutenden Bildungspakets mit Bildungskarte zum Vorschein kommt.

Vor allem Anderen muss in Bezug auf das vorliegende Konzept bemängelt werden, dass es drei Monate vor Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist, immer noch nichts Konkretes zur Berechnung der Regelsätze enthält. Dies, zu einem solch späten Zeitpunkt (man bedenke, dass schließlich auch noch der Bundestag und Bundesrat beteiligt werden müssen), kann alleine schon nicht als ’nachvollziehbar‘ oder ‚transparent‘ bezeichnet werden. Ebenfalls kann davon keine Rede sein, dass die Vorgehensweise ‚realitätsgerecht‘ ist: Nur weil das BVerfG eine Frist setzt, heißt das schließlich nicht gleichzeitig, dass man diese bis zum letzten Tag ausreizen muss und sich die Bezieher von Arbeitslosengeld II und deren Kinder (die in ihren Grundrechten beschnitten werden) nun eben damit abfinden müssen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Vorgehensweise der Bundesministerin für Arbeit und Soziales wird dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 nicht gerecht. Mehr noch: Das von der Ministerin gewählte Verfahren verstößt eklatant gegen die Vorgaben des höchsten Gerichts. So gibt es bisher weder neue verlässliche Zahlen noch eine öffentliche und transparente Diskussion über ein realitätsgerechtes Berechnungsverfahren.

Eine Durchsicht des Referentenentwurfs vom 20. September 2010 bringt bezüglich der Ermittlung der Regelbedarfe, insbesondere aufgrund der noch fehlenden Berechnung, die erst am 27. September 2010 nachgereicht werden soll, keine Klarheit. Allerdings erscheint die Kopplung der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen (neben der Preisentwicklung der regelsatzrelevanten Güter zu 70%) zu 30% an die Lohnentwicklung noch als kritikwürdig. Hier drängt sich die Vermutung auf, dass diese Kopplung auf sachfremden Erwägungen beruht und dazu dienen soll, einen ‚Abstand‘ zu Geringverdienern zu schaffen, d.h. Bezieher von Hartz-IV (im Vergleich zu diesen) finanziell schlechter zu stellen. Die Ermittlung des zur Existenz notwendigen Minimums sollte sich allerdings nicht daran, sondern an den ‚Bedarfen‘ und den dafür notwenigen (existentiellen) Aufwendungen orientieren. Eine „Hochrechnung anhand der Preisentwicklung in den Ausgabepositionen“, hat auch bereits das BVerfG als eine Option zur Fortschreibung in seinem Urteil vom 2. Februar 2010 vorgeschlagen. Dieser Vorschlag scheint vom BMAS allerdings weder als brauchbar, noch als angemessene Übergangslösung angesehen zu werden, bis die (laut Referentenentwurf) ‚langfristig angestrebte‘ Fortschreibung anhand von Daten aus den laufenden Wirtschaftsrechnungen des Statistischen Bundesamtes erfolgen kann (die übrigens auch das BVerfG als zweite Option vorgeschlagen hat).

Zum existenziellen Bedarf hilfebedürftiger Schülerinnen und Schüler gehören laut dem Urteil auch „notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten“. Diejenigen, die diese Aufwendungen aufzubringen haben, sind in erster Linie die Eltern. Ihnen steht demnach diese Position auch zu. Sollten Eltern dieser Erziehungs- und Erfüllungsaufgabe nicht nachkommen (können), so müssen diesen auf der lokalen Ebene Beratungsangebote zur Verfügung gestellt werden. Vom Vertrauen in die Eltern und ihre vorrangige Erziehungsaufgabe jedoch ist in diesen Wochen überhaupt keine Rede. Die im BMAS Zuständigen scheinen sich stattdessen viel lieber mit der Frage beschäftigen, wie Hartz-IV-Familien mit Kindern unter Überwachung gestellt werden können.

So liegt der Fokus des BMAS offensichtlich weiterhin auf dem Bildungspaket, das erklärtermaßen einen ‚Paradigmenwechsel‘ herbeiführen soll. Die Zielrichtung dieses Wechsels ist klar: Der Bundesministerin geht es in erster Linie um eine neue Kontrollinstanz gegenüber Kindern und Eltern im Hartz-IV-Bereich. Sie setzt auf die medienwirksam in Szene gesetzten Vorurteile gegen die Familien im untersten Fünftel der Gesellschaft. In den Jobcentern will sie ‚Familienlotsen‘ ausbilden, die es bisher nicht gibt, und konterkariert damit vielfältige lokale Ansätze (z.B. die ‚Bündnisse für Familie‘), die sie noch als Familienministerin selbst massiv mit Geld gefördert hat. 

Dies ist die Fortsetzung einer ‚Politik der institutionellen Bevormundung‘ – sei es nun durch Gutscheine oder mittels einer Plastikkarte: Das Vertrauen in die Eltern wird dabei ersetzt durch ein Vertrauen in die Jobcenter, die, nachdem sie ‚Notwendigkeit‘ und ‚Erforderlichkeit‘ festgestellt haben, Gutscheine ausgeben oder aber die zweckgerechte Verwendung von Geldleistungen kontrollieren sollen.

Schon die Aufteilung des Schulpakets von 100 Euro zum Schulanfang, über deren ‚zweckentsprechende Verwendung‘ der zuständige Träger (sprich bei Hartz-IV-Empfängern die Agentur für Arbeit) auch noch einen Nachweis verlangen kann, stellt eine offensichtlich vom BMAS gewollte Entmündigung der Eltern dar. Die zur Begründung dieser Maßnahme im Referentenentwurf (bzgl. SGB II, § 28 Absatz 3 und SGB XII, § 34 Absatz 3) vorgetragenen Argumente erscheinen dabei widersprüchlich: Erstens, wird dort argumentiert, dass die ‚Praxis‘ gezeigt habe, „dass diese Leistungen eine gute Ausstattung auch der Kinder aus bedürftigen Familien zum Jahresanfang bewirkt hat.“ Dies spricht eindeutig dafür, dass Hartz-IV-Eltern durchaus gewährte Leistungen zweckgerecht einsetzen und diese auch bei den Kindern ankommen (dies wird ebenfalls vom BMAS in der Begründung zu SGB II, § 29 Absatz 1 Satz 2 festgestellt). Zweitens, wird für einen ‚weiteren Auszahlungspunkt zum Schulhalbjahr‘ das Argument, dass damit die Option ‚verbrauchte Gegenstände‘ ersetzen zu können geschaffen würde, ins Feld geführt – ohne jedoch dabei den ausgezahlten Betrag zu erhöhen. Damit wird den Eltern nun auferlegt, zum Jahresanfang nur 70% einer guten Ausstattung (eine mäßige Ausstattung?) beschaffen zu können, welche sie dann aber (bei gleichbleibendem Verschleiß?) zum zweiten Halbjahr teilweise ersetzen können.

Ähnlich problematisch sieht es in Bezug auf die Bescheinigung der ‚Notwendigkeit‘ von Nachhilfe durch die Schulen aus, aufgrund welcher dann Gutscheine für die hilfsbedürftigen Kinder ausgegeben werden sollen (Referentenentwurf zu SGB II, § 28 Absatz 4 und SGB XII, § 34 Absatz 4). Hierdurch werden die Eltern ebenfalls bevormundet: So soll ‚angemessene Lernförderung‘ nur dann anerkannt werden, wenn „diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen.“ Diesbezüglich ist in den Begründungen im Referentenentwurf noch weiter nachzulesen, dass schulische Lernförderung nur in „Ausnahmefällen geeignet und erforderlich und damit notwenig“ und außerdem in der Regel „nur kurzzeitig notwenig [sei], um vorübergehende Lernschwächen zu beheben.“ In der Praxis heißt das, dass eine ‚Notwendigkeit‘ nur dann vorliegt, wenn durch die Schule in Bezug auf das wesentliche Lernziel, d.h. die Versetzung, eine positive ‚Prognose‘ abgegeben wird. Sowohl für Schüler, die ‚voraussichtlich‘ nicht versetzt werden, wie auch für Schüler, die es ‚voraussichtlich‘ aus eigener Kraft gerade noch so schaffen werden, ist demnach Lernforderung „nicht geeignet“. Damit scheint schon das absolute Minimum festgelegt und ein ‚lernschwaches‘ Hartz-IV-Kind dauerhaft auf die Note ‚ausreichend‘ fixiert. Aber es geht noch weiter: Auch Sanktionen sind im Referentenentwurf implizit schon mitgedacht. So soll beispielsweise ‚unentschuldigtes Fehlen‘ oder ein vergleichbares ‚Fehlverhalten‘ einen Grund dafür darstellen, dass diese Leistung versagt werden kann. All diese Entscheidungen gehen an den Eltern vorbei und werden letztendlich auch den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht.

Schließlich gipfelt die Politik der Bevormundung darin, dass gemäß dem derzeit vorliegenden Referentenentwurf in SGB II, § 28 Absatz 6 und SGB XII, § 34 Absatz 6 ein ‚abschließender Katalog‘ von geförderten Angeboten zur gesellschaftlichen Teilhabe geschaffen werden soll – der in Form ‚personalisierter Gutscheine‘ oder durch eine Bildungskarte zugänglich gemacht werden soll. Der Begründung nach sollen dabei sowohl Fahrtkosten als auch ‚Kinoveranstaltungen‘ (da diese nur „ein geringes Potential bei der Einbindung in soziale Gemeinschaftsstrukturen“ hätten) von den ‚anerkannten Bedarfen‘ ausgeschlossen werden. Damit legt das BMAS zum einen eine recht enge Definition von kulturellen Zielen vor, an denen sich die Kinder von Hartz-IV-Empfängern ausschließlich orientieren dürfen. Zum anderen wird, durch den Ausschluss von Fahrtkosten bei gleichzeitiger Zurückweisung eines ‚Sicherstellungsauftrags‘ bezüglich der ‚Bereitstellung von Bildungs- und Teilhabeangeboten‘ (nachzulesen in der Begründung zu SGB II, § 29) von Seiten des Bundes billigend in Kauf genommen, dass „die sozialintegrativen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht befriedigt werden.“ Kinder sollen also nur die Leistungen bekommen, die an ihrem Wohnort und in ihrer Umgebung bereits vorhanden und ‚üblich‘ sind. Dies lässt zukünftig Fälle befürchten, bei denen etwa ein musikbegabtes Kind zwar im örtlichen Verein Fußball spielen darf – der Weg zur Musikschule in der 20 Kilometer entfernten Stadt ihm aber versperrt bleibt. Zwar könnten Geldleistungen auch nicht die infrastrukturellen Mängel beseitigen – jedoch wäre es wenigstens den Eltern möglich, mit einem etwas größeren Budget, selbst im Sinne der Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kinder wirtschaften zu können.

Anstatt allerdings einmal in diese Richtung zu denken, favorisiert das BMAS für die Umsetzung des Bildungspakets offensichtlich auch weiterhin die Bildungs(chip)karte. Während Bundesministerin von der Leyen gegenüber der Presse zwar nur von einem ‚Vorschlag‘ spricht, wird mit dem Referentenentwurf (unter SGB II, § 29 Absatz 4) versucht, alle Voraussetzungen zu schaffen, um eine solche Karte gegebenenfalls auch gegen Widerstände möglichst einfach seitens des BMAS „durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates“ (per Verordnungsermächtigung also) durchsetzen zu können. 

Außerdem möchte sich das BMAS zusätzlich noch den „gesetzlichen Auftrag, ein elektronisches Abrechnungssystem für Leistungen nach § 29 in Modellregionen zu erproben“, in dem geplanten neuen Gesetz erteilen lassen. Und auch in der vom BMAS im Internet zu Verfügung gestellten Präsentation ‚Das Gesamtkonzept: Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche‘ ist die Bildungskarte immer noch alternativlos integriert.

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union hat den Gesetzgeber in einem offenen Brief aufgefordert, sich an die Vorgaben des Gerichts zu halten und ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze zu wählen, in dem auch andere Ansätze und Vorschläge, wie sie z.B. der Paritätische Gesamtverband vorgelegt hat, gleichwertig und öffentlich diskutiert werden. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass die im BVerfG-Urteil vom 9. Februar 2010 benannten Mängel auch für andere Personengruppen, wie z.B. Personen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, zutreffen. Nicht zuletzt muss in diesem Zusammenhang auch an die (in Deutschland geborenen) Kinder mit ‚ungesichertem Aufenthaltsstatus‘ (der meist mit dem ‚ungesicherten Status‘ der Eltern verbunden ist) gedacht werden. Auch für diese Kinder müssen Regelsatzänderungen realitätsgerecht und in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz erfolgen. Deshalb wäre ein weiter gefasstes Reformpaket sinnvoll, das allen betroffenen Gruppen gerecht wird.

Daneben muss eine kritische öffentliche Auseinandersetzung in Bezug auf die vom BMAS geplante Umsetzung der vom BVerfG geforderten Neuregelung zur „Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs“ in Form eines ‚Bildungspakets‘ mit ‚Bildungskarte‘ stattfinden. Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union lehnt die Einführung einer Chipkarte ab, da diese entmündigend, bürokratisch, stigmatisierend, teuer und zudem unnötig ist. Bereits ein Gutscheinsystem, aber besonders ein Chipkartensystem stellt einen eklatanten Eingriff in die Privatsphäre dar: Es spricht den Eltern ab, individuelle Entscheidungen und Handlungen frei treffen und wählen zu können und bedeutet eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Zudem beschränkt die Bildungskarte als Zugangs-/Kontrollmedium soziale Teilhabe mehr als sie diese befördert, ist datenschutzrechtlich bedenklich und bedeutet einen weiteren Schritt hin zum gläsernen Menschen.

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union fordert deshalb die Bundesregierung und die Bundestagsabgeordneten auf, von Gutschein- oder Berechtigungsscheinmodellen und insbesondere von einer Chipkarte Abstand zu nehmen und dem BMAS dafür keinen ‚Freifahrtsschein‘ auszustellen. Die Eltern müssen in ihrer Erziehungsaufgabe bestärkt und dürfen nicht durch derartige bürokratische Entmündigungen beschämt werden.

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