Der »hilflose« Sozialstaat und die hilflose Sozialstaatskritik
aus vorgänge Nr. 67 (Heft 1/1984), S. 67-75
Nicht erst seit der politischen Wende wird im Sozialstaat der Bundesrepublik abgebaut. Vor den »Operationen ’84 und ’83« der Konservativen stand bereits die Operation ’82, standen viele einzelne Maßnahmen und schließlich weit zurückliegend das »Haushaltsstrukturgesetz 1975« der sozialliberalen Koalition. Seit in der ersten Hälfte der siebziger Jahre weltweit und damit für die exportabhängige Wirtschaft der Bundesrepublik in besonderem Maße die Krise der kapitalistischen Akkumulation wirksam wurde, sieht sich der Sozialstaat quantitativ und qualitativ mit Anforderungen überzogen, denen er nicht gewachsen erscheint. Woran liegt das? Eigentlich ist der Sozialstaat doch dafür da, daß er gerade in der Krise einspringt und hilft. Warum gibt es jetzt berechtigte Sorge, daß er in dieser Krise überfordert sei? Warum lassen die »verantwortlichen« Politiker den Sozialstaat in dieser Krise nicht verstärkt einspringen, sondern bauen ab?
Und die Sozialstaatskritiker? Ihre »kritische« Position drückt sich im wesentlichen inzwischen darin aus, daß sie den Abbau des Sozialstaates kritisieren, daß sie gerade in der Krise die Aufrechterhaltung oder gar den Ausbau seines Leistungsniveaus verlangen. Weniger aktuell erscheinen im Moment die kritischen Anmerkungen, die früher zum Funktionieren des Sozialstaates, über seinen integrierenden und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse stabilisierenden Charakter gemacht wurden. Nun, wo es immer mehr Betroffenen an den Kragen geht, rücken ganz eindeutig die materiellen Zuwendungen des Sozialstaates wieder in den Vordergrund.
Was ist passiert, daß die früheren Sozialpolitiker momentan an der Demontage des Sozialstaates arbeiten, während die früheren Kritiker des Sozialstaates (und der Sozialstaatsillusion) zu seinem Verteidiger geworden sind? Ich denke, man muß sich zunächst eine klare Vorstellung von der Krise und von der Fähigkeit des Sozialstaates, Krisenfolgen zu bewältigen, verschaffen.
Gerade in der Diskussion um Sozialpolitik wird die Krise, die seit der ersten Hälfte der siebziger Jahre die »Grundfesten der Bundesrepublik erschüttert« (Bernd Klees in diesem Heft) unangemessen begriffen, wenn man nur auf ihre sozialen Folgen achtet. Krisen in kapitalistischen Gesellschaften haben ja immer zwei Seiten: was sich für Betroffene als Arbeitslosigkeit, Verschärfung ihrer Arbeitsbedingungen und erhöhte Ausbeutung erweist, das bedeutet für die Kapitalseite die Reorganisation mit dem Ziel der Wiederherstellung besserer Verwertungsbedingungen des Kapitals. In diesem Sinne ist die geläufige Unterscheidung zwischen konjunkturellen und strukturellen Krisen eigentlich theoretisch unsinnig. Was passiert, ist ökonomisch gesehen immer dasselbe. Immerhin macht die Unterscheidung einen Sinn, wenn es um die Frage geht, wo die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates liegen. Das Ausmaß der Krise, wie sie in den siebziger Jahren eingesetzt hat, begriffen als ein in viele Branchen von Produktion und Dienstleistungen eingreifender Prozeß der Reorganisation der Kapitalverwertungsbedingungen, hat im wesentlichen zwei Ergebnisse: er verringert dauerhaft die Nachfrage nach Arbeitskraft und erhöht dauerhaft die Ausbeutung der auch weiterhin eingesetzten Arbeitskraft durch das, was gemeinhin Rationalisierung, das heißt den Einsatz von verbesserten technologischen Produktionsbedingungen und die Intensität der Arbeit erhöhenden Organisationsstrukturen, genannt wird. Während also von der Kapitalseite her die Unterscheidung von konjunktureller und struktureller Krise wenig Sinn macht, ist von der sozialpolitischen Seite her die Unterscheidung gleichwohl sinnvoll. In einer konjunkturellen Krise sinkt kurzfristig die Nachfrage nach Arbeitskraft, um im Zuge der Umorganisation und Intensivierung der Akkumulationsbedingungen des Kapitals hernach mindestens auf dem alten Niveau wieder einzusetzen. Die jetzige strukturelle Krise erweist sich als ein Innovationsprozeß der Kapitalverwertungsbedingungen, der dauerhaft und mit zunehmender Geschwindigkeit die Nachfrage nach Arbeitskraft senkt.
Die Funktion der Sozialleistungen, insbesondere in dem zentralen Fall von Arbeitslosigkeit, besteht in der zeitweisen Ersetzung des Arbeitslohnes durch staatliche Zuwendungen. Das Ziel ist die Reintegration in den Arbeitsprozeß, weswegen Maßnahmen, die geeignet sein können, diese Reintegration zu fördern, wie etwa Fortbildung oder ähnliches, systemlogisch sind. Der Kern der Sozialleistungen ist an das Lohnarbeitsverhältnis gebunden; viele andere Sozialleistungen sind lediglich davon abgeleitet oder über Verwandtschaftsverhältnisse vermittelt. In dem Augenblick, wo die Chance zur Reintegration in Lohnarbeitsverhältnisse sich verringert oder aber ganz verloren geht, findet sich im Leistungsniveau eine deutliche Schwelle nach unten, wie sie etwa zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe besteht. Dieses System der kurzfristigen »Rückkehrhilfen« in geordnete Lebens- und Arbeitsverhältnisse wird disfunktional, wo bei dem Einzelnen die Rückkehr nicht mehr möglich (Invalidität), wo insgesamt, durch strukturelle Entwicklungen bedingt, auf dem Arbeitsmarkt die Nachfrage nach Arbeitskraft sinkt.
Dieser Zusammenhang ist in der Sozialstaatskritik (auch von mir selbst) zumeist bisher nur von der Finanzierungsseite her diskutiert worden (1). Die sogenannte »Finanzklemme« des Sozialstaates wies zurecht darauf hin, daß bei länger andauernden Krisen der kapitalistischen Akkumulation die haushaltsrelevante Nachfrage nach Sozialleistungen in dem Maße steigt, wie für den Steuerstaat auf der Einnahmeseite die Bilanz sich verschlechtert. Die Krise des Sozialstaates wurde in diesem Sinne im wesentlichen als ein Finanzierungsproblem begriffen. Berechtigterweise konnte dann gesagt werden, daß diese sogenannte Finanzkrise des Sozialstaates insofern ein Scheinproblem darstellt, insofern die Verteilungsrelationen zwischen den Einzelhaushalten als starr begriffen werden und zum Beispiel eine Infragestellung und Umverteilung aus dem Militärhaushalt oder aus anderen Bereichen nicht in Frage käme. Dieser Gesichtspunkt, wie er zum Beispiel auch in dem schon erwähnten Artikel von Bernd Klees zur tragenden Argumentationsfigur für die Kritik wird, bleibt nach wie vor berechtigt. Er berücksichtigt aber nicht das Problem, daß auch eine ausreichende sozialstaatliche Versorgung der aus dem Arbeitsmarkt Ausgegliederten mittelfristig nicht das eigentliche Krisenproblem in den Griff bekommt. Dieses Problem überschreitet die Grenzen der traditionellen Sozialpolitik, weswegen auch seine Lösungen nicht nur sozialpolitischer Natur sein könnten.
Die Grundlage der bisherigen Sozialpolitik, nämlich, daß der systembedingte Normalfall der Reproduktion in einer kapitalistischen Gesellschaft in einem Vollarbeitsverhältnis besteht, verliert zunehmend seine Evidenz. Selbst wenn man berücksichtigt, daß auch zu Zeiten der Vollbeschäftigung und Hochkonjunktur selbstverständlich eine große Zahl von Gesellschaftsmitgliedern (nicht nur Frauen und Kinder) ihre materielle Reproduktion nicht einer unmittelbaren Eingliederung in Arbeitsverhältnisse verdanken, so war bei der Zugrundelegung von »Haushaltseinkommen« (im Gegensatz zu Individualeinkommen) es doch berechtigt, von diesem Normalfall auszugehen.
Ich denke, daß die derzeitigen Entwicklungen der kapitalistischen Gesellschaften diesen »Normalfall« abschaffen. Und zwar von zwei Seiten her. Bereits Anfang der achtziger Jahre bestanden mehr als ein Viertel der »verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte« nicht mehr aus unmittelbaren Arbeitseinkommen, sondern aus sogenannten Transfereinkommen, das heißt, über das Sozialleistungssystem im weiteren Sinne politisch vermittelten Einkommen (2.) Die bisherige Sozialstaatskritik hat im wesentlichen diese »sekundären Einkommen« unter Gesichtspunkten der Verteilungsgerechtigkeit analysiert und kritisiert; kritisiert deshalb, weil empirisch nachweisbar diese politisch vermittelten Transfereinkommen keineswegs zu einer Umverteilung von »oben nach unten«, sondern zu einem System der selektiven Begünstigung von Gruppen und sozialen Schichten geführt haben, die keineswegs zu den Ärmsten gehören.
Mir erscheint aber im Augenblick bedeutsamer, daß sich mit dem Ausmaß der politisch vermittelten Transfereinkommen an den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte in dieser Größenordnung entwicklungsmäßig eine Entkopplung von dem die kapitalistische Vergesellschaftung logisch und historisch begründenden Lohnarbeitsverhältnis und der unmittelbaren Beziehung zwischen Kapital und Arbeit andeutet. Eben das passiert aufgrund der Intensivierung des kapitalistischen Verwertungsprozesses (für Ökonomen: durch die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals), indem immer weniger erwachsene Mitglieder dieser Gesellschaft in den Produktionsprozeß im engeren wie in ein Beschäftigungsverhältnis überhaupt im weiteren Sinne integriert werden. Die Zahl der Beschäftigten nimmt absolut und relativ seit 1970 in der Bundesrepublik kontinuierlich ab (3). Ganztägig und regelmäßig in einem vollen Arbeitsverhältnis zu stehen, wird zunehmend vom Normalfall zum Sonderfall. Die oben angesprochene Krise wird die Entwicklung gerade nicht umkehren, sondern »Krise« ist in diesem Falle die Bezeichnung für einen Prozeß der Umstrukturierung der Verwertungsbedingungen des Kapitals (4), der diese Entwicklungen entfaltet und verstärkt. Das heißt nun in der Konsequenz, daß die ursprüngliche Funktion von Sozialpolitik und Sozialleistungen, nämlich die Reintegration in Arbeitsverhältnisse dazu tendiert, disfunktional zu werden. Über die Probleme der Finanzierbarkeit hinaus steht also der Versuch, wieder mehr Arbeitskraft in den Verwertungsprozeß des Kapitals zu integrieren im Widerspruch zu dessen Tendenz, seine Verwertungsbedingungen zu verbessern. Hier, und nicht bei der auf der rechten wie auf der linken gleichermaßen behaupteten These, der Sozialstaat werde zu einem Problem für sich selbst (5), liegt meines Erachtens das eigentliche Problem.
Welche politischen Prozesse kommen durch diese Entwicklungen in Gang? Im Zuge der Diskussion über das »Modell Deutschland« (6) und inzwischen in den Grundsätzen einer »ökologischen Sozialpolitik« der Grünen (7) ebenso wie im Bewußtsein der Soziologen (8) verankert, führt diese Entwicklung zu einer »Spaltung der Gesellschaft«. Diese »Spaltung der Gesellschaft« unterscheidet jene, die aufgrund eines vollen und sicheren Arbeitsplatzes über eine dauerhafte Reproduktionsbasis in dieser reichen Gesellschaft verfügen, und die wachsende Zahl der anderen, die an die »Ränder« der Gesellschaft verdrängt werden, wo sie weder dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis, noch angemessene Sozialleistungen und in der Folge also auch keinen akzeptablen Lebensstandard realisieren können.
Auch hier gibt es Ähnlichkeiten zwischen linken Analysen und rechten Ideologien, wie zum Beispiel der über die »Neue soziale Frage«. Unübersichtlich ist auch die politische Konfliktlage: während sich Heiner Geißler und ein bestimmter Teil der Unionspartei Mitte der siebziger Jahre demagogisch zum Anwalt der Betroffenen der »Neuen sozialen Frage« zu machen suchten, dabei aber spätestens 1978 vom wirtschaftsnahen Flügel der Union zurückgepfiffen wurden, sind es heute vor allem die Grünen und die neuen sozialen Bewegungen, die auf der Basis solcher Spaltungsthesen Überlegungen über die politische Mobilisierbarkeit anstellen. Zum Kern der Gesellschaft rechnen demgegenüber vor allem auch die Gewerkschaften, die zwar im Moment mit ihrer Kampagne für eine »Umverteilung der Arbeit« durch die generelle Einführung der 35-Stunden-Woche einen hilflosen Versuch machen, der oben angesprochenen Entwicklungslogik entgegenzuwirken, die aber im übrigen verstärkt um eine Sicherung des materiellen Reproduktionsniveaus für die Arbeitsplatzbesitzer und gegen eine Umverteilung zugunsten der nicht mehr in den Arbeitsmarkt Integrierten tendieren. Dieser Punkt läßt sich zum Beispiel eindeutig mit dem Widerstand der Gewerkschaften gegen die Flexibilisierung bestimmter selektiv wirkender Beschäftigungsbedingungen und der restriktiven Verknüpfung von Kompetenz- und Statusverhältnissen belegen. Allerdings sei den Gewerkschaften zugestanden, daß sie sich interessenpolitisch und argumentativ in einem Dilemma befinden. Der Kampf um das einmal erreichte Niveau für die von ihnen vertretenen Mitglieder ist moralisch und politisch allemal gerechtfertigt.
Die Frage ist nur, wer vertritt die Interessen der Nichtbeschäftigten. Daß es zu diesem Gegensatz aber überhaupt kommen kann, liegt nicht, wie die »Neue soziale Frage« und Heiner Geißler demagogisch zu suggerieren versuchte, an der Übermacht der organisierten Interessen in den Gewerkschaften, sondern das liegt an den oben angesprochenen strukturellen Voraussetzungen einer kapitalistischen Vergesellschaftung, in der zwar einerseits nach wie vor materieller Status und individuelle Lebensperspektive an ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis gebunden werden, in der aber zunehmend aufgrund der ökonomischen Entwicklungsbedingungen solche sicheren Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr für alle Gesellschaftsmitglieder bereitgehalten werden können. Die unbedingte Fixierung der Gewerkschaften auf die Sicherung der Arbeitsverhältnisse und das Fehlen einer politischen Strategie, die sich auch auf die Analyse und Veränderung der angesprochenen Verhältnisse beziehen, machen die Gewerkschaften auch hilflos gegenüber den im Moment wirksamen Prozessen der kapitalistischen Krisenregulierung und ihrer politischen Begleitmusik durch die neoliberale und konservative Regierungsstrategie. Diese besteht im Aufbauen der erpresserischen Alternative, entweder die Arbeitslosigkeit oder aber eine Einkommensminderung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Einmal den Zwang der kapitalistischen Verwertungslogik (unbegriffen) unterstellt und internalisiert, ist es leicht voraussehbar, daß die Gewerkschaften, um immer noch mehr Arbeitslosigkeit auch der von ihnen Organisierten zu verhindern, den bitteren Canossagang von Einkommensminderung (im Durchschnitt haben wir Realeinkommensabsenkungen seit 1980) und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen werden mitmachen müssen.
Ich glaube, Georg Vobruba hat als erster darauf hingewiesen (9), daß mit den oben beschriebenen Abkopplungen von immer mehr Gesellschaftsmitgliedern von dem systemkonstitutiven Lohnarbeitsverhältnis und der Zunahme politisch beeinflußbarer Einkommensbestandteile bzw. Einkommen für immer mehr Leute möglicherweise auch Chancen für eine grundsätzliche Reflexion der politischen Möglichkeiten einer solchen Krise gegeben sein könnten. Der Kürze halber »politisch« genannte Einkommen unterliegen ja sowohl in ihrem Zustandekommen als auch hinsichtlich des Bewußtseins der Betroffenen möglicherweise ganz anderen Gesetzmäßigkeiten, als das für die von Marx in klassischer Weise beschriebenen Lohneinkommen und das dabei entstehende falsche Bewußtsein von der »Gerechtigkeit« des bezahlten Preises für die Ware Arbeitskraft der Fall ist (10).
Der Empfänger von Transfereinkommen oder anderen Sozialleistungen macht die Erfahrung, daß es schon in der kapitalistischen Gesellschaft Reproduktionsmöglichkeiten gibt, die jenseits der kapitalistischen Leistungslogik liegen. In den wenigsten Fällen werden diese Erfahrungen wohl die aus vielen empirischen Untersuchungen bekannten negativen Folgen der Erfahrung von Arbeitslosigkeit, die in psychischer Verelendung im schlimmsten Fall enden können, übersteigen. Gleichwohl gibt es Ansätze für eine »neue Marginalität« (11), das heißt für einen kreativen Umgang mit dieser Situation. In England spricht man von »unsefull unemployment«. Was Konservativen, darunter vielen Sozialdemokraten, als Trittbrettfahren und Ausnutzen der Solidargemeinschaft des Sozialstaates erscheint, das dient heute in vielen alternativen Projekten einer sinnvollen Förderung alternativer Lebens- und Arbeitsverhältnisse (12).
Politisch relevant wird es aber erst, wenn man den Blick von den marginalen Minderheiten auf die gesamtgesellschaftlichen Prozesse und die großen Mehrheiten richtet. Hier gilt es zunächst mehr Fragen zu stellen als Antworten vorschnell zu finden. Die aktuell laufende Diskussion über eine »Umverteilung der Arbeit« bleibt meines Erachtens politisch folgenlos, weil innerhalb der Logik des Sozialstaates wie der kapitalistischen Gleichung Arbeit = Lohn stecken, solange es nicht zu einer politisch relevanten Diskussion über die Entkopplung von Beschäftigung und materiellen Reproduktion kommt.
Einhundertfünfzig Jahre Expansion des industriellen Kapitalismus haben diese Frage mit wenigen Ausnahmen überflüssig gemacht. Für diese Ausnahmen war der Sozialstaat vorhanden und funktional. Für die große Masse aber galt, daß die Erarbeitung gesellschaftlichen Reichtums über das individuelle Beschäftigungsverhältnis gleichzeitig für eine individuelle materielle Reproduktion der Gesellschaftsmitglieder gesorgt hat. Zu diskutieren waren angesichts dieses »Normalzustandes« nur Verteilungsfragen, die sich aus den Eigentumsverhältnissen und der damit konstituierten systembedingten Aneignung des Mehrwertes ergaben.
Nun aber entwickelt sich die kapitalistische Gesellschaft in eine Richtung, in der für die Produktion eines wohl weiterhin wachsenden gesellschaftlichen Reichtums immer weniger Menschen in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis benötigt werden. Der Sozialstaat, der für die Organisation von Transfereinkommen zugunsten einer Minderheit in dem bisherigen Normalzustand notwendig und funktional war, erscheint grundsätzlich überfordert, mit dieser Entwicklung fertig zu werden. Die Aufrechterhaltung einer kapitalistischen Verwertungslogik »Arbeitsleistung = angemessenes materielles Reproduktionsniveau« einerseits, eine ständig zunehmende Zahl von Gesellschaftsmitgliedern, die aus dieser Logik ausgekoppelt ein vom Staat zugeteiltes und politisch verantwortetes Transfereinkommen besäßen anderseits, konstituierte einen politischen Widerspruch, der kaum zu integrieren wäre.
Man muß sich hüten, vorschnell in neue Klassenkampftheorien oder Analogien der alten Konstellation hineinzugeraten. Solange es die systemkonstitutiven Produktionsverhältnisse gibt, so lange werden auch die materiellen Werte dieses Systems durch das Privateigentum an Produktionsmitteln primär verteilt werden und so lange werden alle Systeme der Sekundärverteilung sich dieser Primärlogik fügen müssen. Denn die Transfereinkommen, über die politisch entschieden wird, bleiben ja abhängige Variable des nachwievor im »privaten Bereich der Gesellschaft« ablaufenden Vergesellschaftungsprozesses. Gleichwohl müßte der oben angesprochene Widerspruch politisiert werden, um aus der fatalen Integrationslogik herausgekommen, die einen stets zur Anerkennung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zwingt. Solange die Reproduktion in der Gesellschaft von den privaten Verwertungsbedingungen des Kapitals abhängig ist, so lange wird es in der Krise auch zu jener fatalen Internalisierung kapitalistischer Rationalitäts- und Effektivitätsgesichtspunkte kommen, nach der Arbeitnehmer bereit sind, zugunsten einer vermeintlichen oder wirklichen Verbesserung ihrer zukünftigen Situation kurzfristig auf Einkommen oder angemessene Arbeitsbedingungen zu verzichten, um die Verwertungsbedingungen des Kapitals, von dem sie ja abhängig bleiben, zu verbessern.
Die Politisierung der oben angesprochenen Frage erscheint mir zum Beispiel über die verstärkte Diskussion eines »Mindesteinkommens« oder »Bürgergehalts« möglich, das völlig unabhängig von einem Arbeitsverhältnis, also losgelöst aus der Logik des bisherigen Versicherungssystems, jedem Gesellschaftsmitglied zustünde. Eine solche Forderung ist derzeit in den »Thesen für eine ökologische Sozialpolitik« der Grünen enthalten; sie spielt aber auch zum Beispiel in der skandinavischen Sozialpolitikdiskussion eine gravierende Rolle und war zeitweilig in der Sozialgesetzgebung Dänemarks verankert, bis die Konservativen Ende der siebziger Jahre auch dort mit einem Sozialabbau begannen. Ein »Bürgergehalt«, das unabhängig von einer Ermittlung von Lebenslagen und unabhängig von einem Versicherungsbeitrag als Rechtsanspruch besteht, bricht mit der herrschenden Systemlogik. Richtig wird in den genannten »Thesen« darauf hingewiesen, daß eine solche Orientierung von dem bisher im Sozialleistungssystem dominanten Kausalprinzip, nach dem die gewährte Hilfe abhängig von den Ursachen der Notsituation ist, wegführt und sich generell an einem gesellschaftlich definierten Bedarf für ein angemessenes Leben in der Gesellschaft orientiert. Damit wird auch die in der bisherigen Sozialpolitik konstitutive Individualisierung gesellschaftlicher Probleme überwunden. Die Sicherung eines angemessenen Lebensniveaus in einer prinzipiell reichen Gesellschaft erscheint nicht länger als individuelle Verantwortung, das Mißlingen nicht als persönliche Schuld oder persönliches Versagen.
Die »Kommission für Wirtschafts- und Finanzpolitik beim SPD-Vorstand« hat im Dezember 1983 unter dem Titel »Arbeit für Alle — die Zukunft gestalten« (abgedruckt in der »Frankfurter Rundschau« v. 31. 12. 83 und 2. 1. 1984) nunmehr als Oppositionspartei ihre Perspektive für die Überwindung der Krise vorgelegt. Um es vielleicht in der Verkürzung etwas ungerecht zusammenzufassen: die SPD hat in der Opposition wenig dazugelernt. Die »Massenarbeitslosigkeit« als Hauptproblem wird vor allem als finanzielle Belastung des Sozialstaates (»zur Zeit mit mehr als 50 Milliarden DM…«) begriffen. Ihr soll durch eine »Modernisierung unserer Wirtschaft« sowie durch eine »Erhöhung und Verstetigung öffentlicher Investitionen« beigekommen werden; erstere soll »sozialverträglich« gestaltet werden.
Wie eine »Modernisierung der Wirtschaft«, das heißt ihre Befähigung zur Konkurrenz auf dem Weltmarkt erreicht werden soll, die sich für die Arbeitnehmer »sozialverträglich« gestaltet und die gleichzeitig die Nachfrage nach Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt erhöht, das wird wohl ein Geheimnis der SPD bleiben. Auch die Rede von der Verstetigung öffentlicher Investitionen, also das Festhalten an antizyklischer keynesianischer Investitionspolitik der öffentlichen Hand übersieht, daß die derzeitige Krise nicht in einen konjunkturellen Zyklus, den es nur zu »überbrücken« oder zu »untertunneln« gelte, eingebettet ist. Bei der Frage der Arbeitszeitregelung hat sich der SPD-Vorstand gerade auf einen »klugen« Kurs festgelegt: er nimmt für keinen der im Konflikt und in der Diskussion befindlichen Vorschläge Stellung, sondern fordert nur ganz generell die »Verkürzung der Arbeitszeit« und die Einbeziehung »aller Formen« in die Überlegungen. Unabhängig davon, ob man die Festlegung der Gewerkschaften auf die 35-Stunden-Woche für der Weisheit letzten Schluß hält, ist die »Offenheit« der SPD hier politisch ein bemerkenswertes Ereignis. Sie kündigt meines Erachtens an, daß es in der laufenden Tarifrunde für die Gewerkschaftsbewegung nur eine Niederlage mit ihrer generellen Forderung geben kann und daß die SPD zu klug ist, sich nach allem auch noch diese Niederlage einhandeln zu wollen.
Die voranstehenden Bemerkungen sind sicher in manchem widersprüchlich und haben insgesamt keine eindeutige Perspektive. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß sie ungeeignet sind, in der konkreten Situation von Arbeitskämpfen und Widerstand gegen den Abbau von Sozialleistungen zur Denunziation der Kämpfenden und ihrer Forderungen verwandt zu werden. Gleichwohl denke ich, daß dieser aktuelle Kampf sich auf Dauer nicht unreflektiert auf die Basis des Sozialstaates wird stellen können. Die Basis des Sozialstaates ist konzeptionell an die bestehenden gesellschaftlichen Herrschafts- und Produktionsverhältnisse gebunden. Zu denen verhält sich der Sozialstaat korrektiv und kompensatorisch. Forderungen, die neben dem Einklagen einer sofortigen Hilfe und Gewährleistung für die Betroffenen der Krise auch grundsätzlich für den Ausbau und die Erhaltung des Sozialstaates plädieren, bekommen damit eine politisch prekäre Ambivalenz. Ich denke, daß die Interessen all derer, die von der gegenwärtigen Krise der kapitalistischen Akkumulation schon betroffen sind oder die es in Zukunft sein können, am besten dadurch verfolgt werden können, daß über einen gesellschaftlichen Zustand diskutiert und politisch gestritten wird, in dem ein Sozialstaat zur nachträglichen Korrektur und Kompensation der durch die primäre Vergesellschaftung aufgetretenen sozialen Probleme überflüssig wird.
Verweise
1 Ausführlich über Funktionen und politische Probleme des Sozialstaates habe ich früher geschrieben: Soziale Probleme und politische Antworten — Sozialpolitische Konzeptionen und Konflikte der siebziger Jahre, in: Greven/Prätorius/Schiller, Sozialstaat und Sozialpolitik. Krise und Perspektiven, Neuwied 1980, S. 91-196; speziell zu den repressiven Aspekten, die Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik auch(!) hat: Reform und Repression. Über den Zusammenhang von Sozialpolitik und »Innere Sicherheit«, in T. Ellwein (Hg.), Politikfeldanalysen 1979, Opladen 1980, S. 331-347; schließlich zum Verhältnis von Sozialstaat und historischer Emanzipation: Sozialstaat und Freiheitsrecht — Historische Genese und aktuelle Krise unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet, in: Freiheit & Gleichheit, 3, 1981, S. 61-76.
2 Siehe zu den Problemen sog. Transferbilanzen H.-H. Krupp / W. Glatzer (Hg.), Umverteilung im Sozialstaat. Empirische Einkommensanalysen für die Bundesrepublik, Frankfurt/New York 1978; Methoden und empirische Werte solcher Transferbilanzen stellen aber immer noch große Probleme dar. Zu den Begriffen ganz knapp: primäre Einkommen = die rein aus einem Beschäftigungsverhältnis oder selbständiger Arbeit stammenden Einkünfte; Transfereinkommen = solche Einkommensbestandteile oder ganze Einkommen (z.B. Sozialhilfe), die aus öffentlichen Haushalten stammen.
3 In den siebziger Jahren sind netto pro Jahr etwa 100.000, d.h. insgesamt etwa eine Million Vollarbeitsplätze verloren gegangen; gegen Ende der siebziger und zu Anfang der achtziger Jahre beschleunigt sich diese Entwicklung.
4 Eine gute theoretische Einführung in die »Reinigungsfunktion« von Krisen im Kapitalismus, durch die die Kapitalverwertungsbedingungen verbessert, nicht wie der Wortsinn suggeriert, »verschlechtert« werden bei V: M. Bader u.a., Krise und Kapitalismus bei Marx, Frankfurt 1975, bes. S. 313 ff; zu den aktuellen Problemen der öffentlichen Verschuldung auf dem Weltmarkt und zu Aspekten des historischen Vergleichs mit dem Ende der zwanziger Jahre: E. Altvater, Der Teufelskreis der Auslandsverschuldung — Der Weltmarkt und die Kreditkrise, in: Prokla 52, 1983, S. 3-40.
5 Von konservativer Seite soll damit zumeist die sog. »Anspruchsinflation« oder »Überversorgung« bekämpft werden, wie es in der Strategie der sog. »Neuen Sozialen Frage« der CDU zum Ausdruck kommt; dazu: H. Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976; politisch wird das flankiert von einer Begründung, der Staat müsse sich wieder auf seine eigentlichen Funktionen, die Ausübung staatlicher Gewalt besinnen, bei N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981; meine Kritik der Neuen Sozialen Frage: Sozialwissenschaftliche Konsistenz und politischer Kontext der »Neuen Sozialen Frage« — keine neue Strategie der Konservativen, in: H.J. Becher (Hg.). Die Neue Soziale Frage, Opladen 1982, S. 58-99; meine Kritik an Luhmann: Vom Wohlfahrtsstaat zum autoritären Staat der »reinen« Politik? in: Politische Vierteljahresschrift 2/1982, S. 143-152. Eine entsprechende Argumentation von links, mit ganz anderer politischer Zielsetzung also, findet sich bei G. Vobruba, Politik mit dem Wohlfahrtsstaat, Frankfurt 1983 (»Der Sozialstaat als Problem für sich selbst«), S. 83 ff und etwa auch beim Arbeitskreis kritische Sozialarbeit, Alternative Sozialpolitik als antihegemoniale Strategie, in: Widersprüche, 8, 1983, S. 57-71 (einem Strategiepapier aus dem Umkreis der Hamburger Alternativen Liste).
6 J. Hirsch, Der Sicherheitsstaat. Das »Modell Deutschland«, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, Frankfurt 1980; J. Esser, Gewerkschaften in der Krise, Frankfurt 1982.
7 Die Zukunft des Sozialstaates, hrsg. von den Grünen Baden-Württemberg, 1983; M. Opielka / M. Schmollinger / A. Fohrann, Umbau statt Abbau des Sozialstaates. Thesen für eine ökologische Sozialpolitik, in: Widersprüche, 8, 1983, 5. 7-18 und N. Diemer mit einer solidarisch-konstruktiven Kritik daran ebd. S. 19-46.
8 Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages, hrsg. von J. Matthes, Frankfurt 1982.
9 Siehe Anmerkung 5.
10 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin (Ost) 1970, Erstes Kap. Abschnitt 4 (»Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«).
11 Mein Beitrag, Parteiensystem, Wertwandel und neue Marginalität, in: J. Matthes (Hg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Frankfurt 1979, S. 574-590.
12 E. Körner, Möglichkeiten der Förderung von Selbsthilfegruppen durch die öffentliche Hand — Thesen und Vorschläge; und: Peter Grottian, Steuergelder für Alternativprojekte? Vor einem mutmaßlichen grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikt, beide in: (P. Grottian / W. Nelles (Hg.), Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel 1983.