Themen / Demokratisierung

Der Streit um die Versamm­lungs­frei­heit von „Coro­na-Leug­nern“

14. Oktober 2020

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 113-116

So zweifelhaft die Argumente vieler Corona-Leugner*innen sind, so fragwürdig sind die Methoden, mit denen Polizei und Verwaltung versuchen, ihre Demonstrationen zu verhindern. Martin Kutscha verweist in seinem Kommentar noch einmal auf die Reichweite der Meinungsfreiheit, die es auch beim Umgang mit abseitigen Demonstrationen zu schützen gelte.

Er sei „nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“, so verkündete vollmundig der Berliner Innensenator Andreas Geisel einige Tage vor der Großdemonstration am 29. August.[1] Zwar mag der Senator damit die Stimmung vieler seiner Wähler_innen getroffen haben. Allerdings offenbarte er damit auch seine Ignoranz im Hinblick auf die Reichweite des Grundrechts der Versammlungsfreiheit: Auch Corona-Leugnern oder „Reichsbürgern“ steht dieses Grundrecht zu, soweit sie sich dabei im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben halten. Seit dem berühmten „Brokdorf-Beschluss“[2] des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1985 ist – nicht nur unter Jurist_innen – anerkannt, dass das Grundrecht der Versammlungsfreiheit die öffentliche Artikulation gerade auch unbequemer und für die Mehrheit provokanter Minderheitspositionen schützen soll, wenn auch nicht schrankenlos.

Unter welchen Voraus­set­zungen darf verboten werden?

Will die zuständige staatliche Behörde einer Versammlung oder eine Demonstration („Aufzug“) wegen ihrer Meinungsinhalte verbieten, wie es offenbar dem Berliner Innensenator vorschwebte, gilt hierfür nach der Verfassungsrechtsprechung der Maßstab des Grundrechts der Meinungsfreiheit.[3] Dieses schützt Meinungsäußerungen unabhängig davon, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational, wertvoll oder wertlos, moderat oder übersteigert sind.[4] Nur unter engen Voraussetzungen darf dieses Grundrecht eingeschränkt werden, so z. B. bei der Verletzung von Straftatbeständen zum Ehrenschutz oder der verschiedenen Tatbestände der Volksverhetzung. Danach macht sich u. a. strafbar, wer in einer den öffentlichen Frieden störenden Weise die Verbrechen des NS-Regimes leugnet („Holocaust-Leugnung“, § 130 Abs. 3 StGB) oder generell „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ (§ 130 Abs. 4 StGB).[5] Die Leugnung der Existenz des Corona-Virus oder die Kritik an den staatlicherseits angeordneten Schutzmaßnahmen wie das Tragen einer Mund-Nase-Maske unterfällt dagegen keinem strafrechtlichen Verbot und ist damit vollauf von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Die Berliner Polizei hat ihre Verbotsverfügung für die Demonstration am 29. August denn auch mit guten Gründen nicht auf die angekündigten Meinungsinhalte gestützt, sondern auf eine „unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ gemäß § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz. Diese bestehe darin, dass die Demonstrationsteilnehmer_innen wie bereits bei der ersten „Querdenker“-Demo am 1. August die gebotenen Mindestabstände nicht einhalten und auch keine Masken tragen und damit Leib und Leben auch anderer gefährden würden. Das Verwaltungsgericht Berlin[6] sowie das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mochten dagegen dieser Prognose nicht folgen und schenkten statt dessen dem vom Veranstalter vorgelegten „Hygienekonzept“ Vertrauen. Als „milderes Mittel“ gegenüber einem Verbot, so die Gerichte, würden entsprechende versammlungsrechtliche Auflagen zum Schutz vor dem Virus ausreichen. Das richterliche Vertrauen wurde prompt enttäuscht: Trotz Aufforderung von der Bühne des Veranstalters liefen die Demonstrant_innen dicht an dicht und verzichteten auch auf das Tragen von Masken. Vorhersehbar war dies durchaus: Wer gegen die staatlichen Corona-Eindämmungsmaßnahmen demonstriert, dürfte wenig geneigt sein, sich genau diesen Vorgaben zu unterwerfen und sich damit in Widerspruch zu den eigenen Forderungen zu setzen.

Auf der Suche nach den Motiven der „Coro­na-Leugner_innen“

Was aber treibt die Teilnehmer_innen an den „Querdenker“-Demos um, und warum scheint es sie nicht zu stören, dass „Reichsbürger“ und Nazis zu ihren Weggefährten zählen? So unterschiedlich die politischen Vorstellungen der Demo-Teilnehmer_innen auch sein mögen, so lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten feststellen: Der Berliner Soziologe Peter Ullrich konstatiert eine „extreme Entfremdung“ von den politischen Institutionen,[7] und der Bewegungsforscher Edgar Grande verweist darauf, dass die auf der Demo repräsentierte „misstrauische Mitte“ das Vertrauen in die Regierung verloren habe.[8]

Nun gibt es durchaus Gründe, der herrschenden Politik nicht blindlings zu vertrauen: Zu zahlreich sind die Belege dafür, dass die Regierung sich vor allem als Dienstleister für die deutsche Wirtschaft versteht. Erinnert sei nur an das Werben der Bundeskanzlerin für „Wirecard“ in China nach dem Lobbying des ehemaligen Verteidigungsministers Theodor v. Guttenberg oder an die 16 Millionen Euro Staatshilfe für das Unternehmen Lufthansa, die ohne Vorgaben beispielsweise für den Klimaschutz überwiesen wurden.[9] Und in der Außenpolitik gelten doppelte Standards, z. B. beim Anprangern von Menschenrechtsverletzungen: Während gegen den alten Erzfeind im Osten der Kalte Krieg mit Macht wiederbelebt wird, verhält man sich gegenüber NATO-Staaten wie der Türkei oder den USA sowie bei wichtigen Handelspartnern wie China wie die berühmten drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Die Behauptung, dass die Regierungen von Bund und Ländern bei der Bekämpfung des Corona-Virus den Einflüsterungen „dunkler Gestalten“ wie z. B. Bill Gates oder jüdischen Verschwörern Folge leistet, ist allerdings absurd. Richtig ist freilich, dass die unterschiedlichen Maßnahmen durchaus nicht frei von Widersprüchen sind. Manche davon, wie z. B. das zeitweilige Totalverbot für alle Versammlungen, lässt sich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für Grundrechtseingriffe nicht vereinbaren.[10] Allerdings gilt es dabei auch die Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeiten zu berücksichtigen, die Ausbreitung des Virus möglichst effektiv zu stoppen. „Immer noch besteht kein hinreichendes Maß an Gewissheit über Inhalt und Umfang der Gefahren sowie über die Eignung und Erforderlichkeit der ergriffenen beziehungsweise alternativer Maßnahmen“, schreibt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier.[11], Problematisch im Hinblick auf den Geltungsanspruch demokratischer Entscheidungsverfahren ist auch die Praxis des „Durchregierens“ der Exekutive auf der Grundlage einer bloßen Generalklausel im Infektionsschutzgesetz sowie die Rolle berühmter Virologen, deren Einschätzungen quasi die Wirkung von Gesetzen entfaltet haben.[12]

Was diese Punkte anbetrifft, ist die auf den „Querdenker“-Demos geäußerte Kritik durchaus zutreffend. Zu Recht indessen wendet sich der Soziologe Peter Ullrich gegen einen „unsolidarischen Grundgedanken“ vieler Demo-Teilnehmer_innen: „Ich lasse mich in meiner Freiheit nicht wegen Gefahren für Leib und Leben anderer einschränken. Das ist die Inkarnation von rechtem, menschenfeindlichem Gedankengut. Das wird so nicht explizit artikuliert, aber faktisch zelebriert.“[13] Ein solche Haltung, sich selbst als erfolgreichen Einzelkämpfer zu fühlen, der einen „fürsorglichen“ Staat nicht braucht, entspricht allerdings durchaus dem neoliberalen Zeitgeist: Wer schwach ist, krank oder ökonomisch nicht erfolgreich, hat eben „Pech gehabt“ oder war vielleicht nicht clever genug – der Starke hingegen braucht keinen Sozialstaat.

Ein solche sozialdarwinistische Einstellung ist durchaus anschlussfähig an die Ideologie der Rechten, wenn auch deren völkisch-rassistische Elemente möglicherweise nicht geteilt werden.[14] Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass das Nebeneinander von Nazis, „Reichsbürgern“ und lauthals ihre Freiheit fordernden „Querdenkern“ weniger einer demokratischen Toleranz geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck eines zumindest teilweise übereinstimmenden Gesellschaftsverständnisses ist. Die sich bei den Protesten gegen die Anti-Corona-Maßnahmen abzeichnende „postdemokratische Empörungsbewegung“[15] ist nach ihrer Ausrichtung jedenfalls alles andere als ein Engagement für Bürgerrechte, sondern eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt.

MARTIN KUTSCHA  Jahrgang 1948, Prof. Dr. iur., Professor a. D. für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Mitglied des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit (FÖPS) sowie einige Jahre Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union.

Anmerkungen:

  1. Zit. n. „Berliner Zeitung“ v. 29./30. 8. 2020, S. 8.
  2. Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 69, S. 315 ff.
  3. Vgl. im Einzelnen Dieter Deiseroth/Martin Kutscha, in: Michael Breitbach/Dieter Deiseroth (Hg.), Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, 2. Aufl. Baden-Baden 2020, Art. 8 GG Randnummer 274 ff.
  4. Vgl. nur Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 61, S. 1 (hier: S. 7) – „CSU – NPD Europas“.
  5. Zur Problematik und Auslegung dieser Straftatbestände näher Joachim Renzikowski, in: Michael Breitbach (Anm. 3), S. 1113 ff.
  6. VG Berlin, Beschluss v. 28. 8. 2020, Az. 1 L 296/20.
  7. Peter Ullrich, „Es gibt einen unglaublichen Zorn“, Interview in der „Berliner Zeitung“ v. 29./30. 8. 2020, S. 10.
  8. Edgar Grande, Interview in www.tagesschau.de v. 31. 8. 2020.
  9. Vgl. Wolfram Grams, Ein Virus zeigt uns die Bruchstellen, in: Vorgänge # 229 (1/2020), S. 111 (hier S. 113 f.).
  10. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. 4. 2020, Az. 1 BvR 828/20; Jan Fährmann/Hartmut Aden/Clemens Arzt, Versammlungsfreiheit auch in Krisenzeiten, www.verfassungsblog.de v. 15. 4. 2020 sowie das Positionspapier der Humanistischen Union zur Covid-19-Pandemie „Grund- und Menschenrechte gerade in der Krise bewahren“, in: HU-Mitteilungen # 241 (1/2020), S. 3 ff.
  11. Hans-Jürgen Papier, Umgang mit der Corona-Pandemie: Verfassungsrechtliche Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35-37/2020, S. 4 (hier: S. 5).
  12. Vgl. Hans-Jürgen Papier a. a. O., S. 7; Evelyn Moser, Rückzug des Politischen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte‚ 35-37/2020, S. 23 ff.
  13. Peter Ullrich, a. a. O. (Anm. 7).
  14. Vgl. dazu Christoph Butterwegge, Die zerrissene Republik, Weinheim 2020, S. 386 ff.
  15. So Peter Ullrich, a. a. O. (Anm. 7).

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