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Der Ukrai­ne-­Kon­flikt – Kooperation statt Konfron­ta­tion

01. Februar 2015

Dossier im Auftrag des Monitoring-Projekts Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention. Aus: vorgänge Nr. 206/207 (Heft 2-3/2014), S. 163-178.

(Red.) Der Konflikt um die Ukraine hat in den vergangenen Monaten deutlich werden lassen, wie fragil die Friedensordnung in Europa und weltweit ist. Schnell gerieten die inneren Konflikte des Landes zwischen die internationalen Interessen von Russland, der EU und den Vereinigten Staaten. Der Konflikt droht mehr und mehr zu eskalieren.

Die Kooperation für den Frieden, ein Zusammenschluss von etwa 60 deutschen Friedensorganisationen, starte 2005 ein Projekt zum Monitoring, das anhand konkreter krisenhafter Situationen die Möglichkeiten einer zivilen Deeskalation oder gar Lösung solcher Konflikte aufzeigen soll. Daraus entstand das vorliegende Dossier, in dem die Eskalationsdynamik, die Interessen der verschiedenen Akteure und eine Road Map zur Lösung des Konflikts vorgestellt werden.

Die Grund­kon­stel­la­tion des aktuellen Konflikts

Was lässt sich über das scheinbare Chaos halbwegs sicher sagen?

Die Krim ist Russland einverleibt – das scheint nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt zu werden, obwohl diese Usurpation aus rechtlichen und pazifistischen Gründen nicht gebilligt werden kann. Sie ist aus machtpolitischen und militärischen Gründen zu erklären.

Sicher ist auch, dass am Ende des West-Ost-Konflikts US-Präsident Bush sen., US-Außenminister Baker und nicht zuletzt NATO-Generalsekretär Wörner Michael Gorbatschow versicherten, die Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts würden nicht Mitglieder der NATO werden. Die NATO würde also nicht an die Grenzen der Sowjetunion rücken.

Nichts dergleichen geschah. Die EU und im Gefolge die NATO expandierten gen Osten. Nach 1999 traten Polen, Tschechien, Ungarn, nach 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien und nach 2009 Albanien und Kroatien der NATO bei. Fast alle sind Länder, die einst zur Sowjetunion oder zum sogenannten Ostblock gehörten.

Sicher ist ebenso: Die Bemühungen um weitere NATO-Beitritte sind damit nicht beendet. Georgien, Moldawien und die Ukraine waren und sind die nächsten Kandidaten. EU-Assoziierungsabkommen dienen als Vehikel zu diesem Ziel.

Es ist ferner kaum zu bezweifeln, dass der Kreml diese NATO-Einkreisung als Bedrohung empfindet.

Am 13. 8. 2008 verkündete Georgiens Präsident Michail Saakaschwili in einer Fernsehansprache. „Die georgischen Häfen und Flughäfen werden unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums der USA gestellt, um humanitäre und andere Missionen auszuführen. Das ist eine sehr wichtige Aussage, um die Spannungen zu verringern.“ Saakaschwilis Worte und Georgiens Eingreifen in Süd-Ossetien waren der Versuch, die USA in den Konflikt einzubeziehen, und mussten in Moskau sehr bedrohlich wirken. So ist kaum zu bezweifeln, dass Moskau mit dem Eingreifen in Georgien 2008 eine erste deutliche Warnung an den Westen gab, diese Politik der militärischen Einkreisung nicht fortzusetzen. Doch der Westen blieb schwerhörig, wie er bereits ein Jahr zuvor warnende Äußerungen Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz ignoriert hatte.

Vor diesem historischen Hintergrund ist der Konflikt um die Ukraine vorrangig als ein strategischer Konflikt zwischen zwei nuklearen Großmächten und ihren Bündnispartnern zu verstehen. Diese Annahme ist angesichts der vehementen Unterstützung der aufständischen Kräfte in der Westukraine durch den Westen keineswegs abwegig, die angesichts der von Russland geförderten separatistischen Bewegungen in der Ostukraine übersehen wird. Die für Europa und Eurasien zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums Victoria Nuland berichtete am 13. Dezember 2013 in Washington vor der U.S.-Ukraine Foundation, die US-Regierung habe seit 1991 mehr als fünf Milliarden US-Dollar für eine „wohlhabende und demokratische Ukraine“ investiert. Mit dieser Summe sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, die Ukraine der EU zuzuwenden. Die westliche Strategie beruht auf dem ausgehandelten, aber dann vom damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch nicht unterzeichneten Partnerschaftsvertrag mit der EU. Der Vertrag hätte eine Westorientierung der Ukraine bewirkt. Die bisherige Bindung an Russland wäre deutlich verringert worden. Das Vordringen des Westens in den ehemaligen Herrschafts- und nun zumindest Einflussbereich Russlands ist die dominante strategische Komponente der aktuellen Auseinandersetzung über die Ukraine. Die große Heterogenität von Bevölkerung, Land und Wirtschaft sind vor allem als die taktischen Elemente in der Auseinandersetzung zu sehen.

Der Kreml will offensichtlich den Marsch des Westens nach Osten nicht länger hinnehmen. Nach dem Aufstand gegen die korrupte Janukowytsch-Regierung und der zweifelhaften Legitimität und demokratischen Bonität der neuen provisorischen Regierung in Kiew spielte Russland die alte Regierung gegen die neue aus und ging zur Unterstützung separatistischer Bewegungen über. Es lässt Janukowytsch aus dem Exil im russischen Rostow die neue Regierung in Kiew als faschistisch und anti-semitisch, sowie sich selbst weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten der Ukraine bezeichnen.

Der Konflikt löste Befürchtungen in den ehemaligen Mitgliedsländern des Warschauer Pakts wie Polen und den ehemaligen Sowjetrepubliken mit starken russischen Minderheiten (Estland, Lettland) aus. Könnten russische Übergriffe auch sie treffen? Sie fordern eine militärische Verstärkung. Doch haben sie wirklich als NATO-Mitglieder einen Angriff zu erwarten? Das wäre nur vorstellbar, falls es zu einer großen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO käme.

Die Bürgerinnen und Bürger, die vor allem in Kiew und den westlichen Landesteilen der Ukraine den Protest gegen die Janukowytsch-Präsidentschaft getragen haben, fürchteten zu Recht, ihre demokratischen Freiheiten würden zunehmend erstickt werden. Sie hoffen wohl auch auf eine bessere wirtschaftliche Entwicklung durch den Assoziierungsvertrag. Ihr Aufstand wurde jedoch von sehr unterschiedlichen politischen Kräften getragen, darunter auch marginalen, aber höchst aktiven nationalistischen bis faschistischen. Während die westliche Ukraine schon seit langer Zeit trotz einer furchtbaren Vergangenheit auf Mittel- und Westeuropa kulturell und sprachlich ausgerichtet ist, orientiert sich der Osten in Teilen nach Russland und spricht auch Russisch. Die großen Bodenschätze liegen im östlichen Teil des Landes. Die dortige verarbeitende Industrie ist ein wichtiger Zulieferer für die russische Rüstungsindustrie.

Zu der Grundkonstellation des Konflikts gehören auch die Differenzen zwischen den USA und der EU. Die USA sind im Handel und mit Investitionen in Russland weit weniger involviert als die EU-Staaten. Sie sind außerdem nicht von Gas- und Öllieferungen aus Russland abhängig, die für die EU-Staaten von großer Bedeutung sind.

Die Fortdauer der west-öst­li­chen militä­ri­schen Abschre­ckungs­po­litik in ihrer Bedeutung für den Konflikt

Nach dem Ende des West-Ost-Konflikts hatten viele damit gerechnet, das System der gegenseitigen militärischen Abschreckung würde bald der Vergangenheit angehören. Die USA und Russland würden gemäß ihren Verpflichtungen aus dem Atomwaffen-Sperrvertrag ihre strategischen Waffen entsorgen. Das trat jedoch nicht ein. Es wurde zwar die Anzahl vermindert, aber insbesondere die USA arbeiteten konsequent auch während der Präsidentschaft Obamas an der Modernisierung ihrer Waffensysteme. Zuvor hatte Präsident Reagan den ABM-Vertrag einseitig gekündigt. Er sollte die Verwundbarkeit von Städten in beiden Ländern garantieren und damit einen totalen Schutz durch Raketenabwehrsysteme verhindern. So sollte die gegenseitige Zweitschlagsfähigkeit und damit die Sicherheit des Abschreckungssystems gefestigt werden. Die Kündigung erlaubte den USA jedoch, alle wichtigen Ziele in den USA mit Abwehrraketen abzusichern.

Parallel dazu bemühten sich die USA und die NATO hartnäckig um die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Europa. Angeblich seien sie gegen iranische Atomraketen gerichtet, die es jedoch noch gar nicht gab. Russlands Strategen dürften dies anders wahrnehmen. Die Raketenabwehr soll das Abschreckungspotential Russlands tendenziell ausschalten, indem sie russische strategische Raketen bereits nach dem Start abschießen könnte. Die US-Strategie zielt also mit den genannten Entwicklungen auf eine potentielle militärische Überlegenheit. Diese würde es den USA erlauben, einseitige militärische Aktionen vorzunehmen, ohne auf Russlands Einwände oder militärischen Potentiale Rücksicht nehmen zu müssen. Nach 1999 traten drei ehemalige Sowjetrepubliken der NATO bei, ebenso wie sechs frühere Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und zwei Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die Eskalation der ukrainischen Krise veranlasste die USA, in den drei baltischen Staaten sowie in Polen längerfristig kleine Kontingente von US-Truppen zu stationieren.

Verbindet man diese US-Militär-Bemühungen mit der systematischen Ausweitung der NATO-Mitgliedschaften gen Osten und der Perspektive, die Ukraine würde Bündnispartner der NATO, so lässt sich aus militärischer Logik der Griff Russlands auf die Krim begreifen, wenn auch nicht billigen. Man stelle sich vor, die NATO würde unmittelbar neben dem wichtigsten russischen Marinestützpunkt Sewastopol ihren eigenen Stützpunkt bauen. Zudem werden in der Ostukraine wichtige Komponenten für die russische Rüstungsindustrie gefertigt. Russische Kommentatoren haben die Osterweiterung der NATO des längeren mit den Roll-Back-Strategien der USA am Anfang des Kalten Krieges verglichen.

Die Eskala­ti­ons­ent­wick­lung des Konflikts

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine setzten sich Aufsteiger aus der sowjetischen Management-Schicht sowie den Geheimdiensten in den Besitz der entscheidenden Produktions- und Dienstleistungsunternehmen, verhinderten Entflechtungen und Reformen und kontrollieren seither die Volkswirtschaft der Ukraine. Die zwischen verschiedenen Oligarchen-Gruppen widerstreitenden Interessengegensätze – Russland-Beziehungen, West-Interessen – ermöglichten eine landesspezifische Parteien- und Medienvielfalt.

Diese Strukturen spiegelten sich deutlich zuerst in der Präsidentenwahl von 2004/2005 und der „Orangen Revolution“. Diese vermochte es nicht, den verschiedenen Oligarchen-Clans die politische Macht streitig zu machen. Sie bewirkte aber eine tiefere Spaltung zwischen Oligarchengruppen „pro-westlicher“ (Timoschenko, Juschtschenko) und „pro-russischer“ (Janukowytsch u.a.) Orientierung. Danach förderten westeuropäische Nichtregierungsorganisationen, aber auch staatliche und überstaatliche Institutionen einseitig die im Norden und Westen überwiegenden Parteien und Politiker. Die Wiedererringung der Mehrheit durch Janukowytschs Regierung – nach vielen Frontwechseln von Parteien und Politikern – und ökonomische Druckmittel (Erdgaslieferungen, Absatzmarkt Russlands für Rüstungsgüter u.a.) sorgten für größeren russischen Einfluss, der allerdings propagandistisch stark überzeichnet wurde.

Unterdessen zogen rechtsradikale Bewegungen besonders in der Westukraine größere Schichten an, die vom Versagen der „Orangen“ Bewegung desillusioniert waren. Eine unpopuläre Kultur- und Sprachpolitik der Partei der Regionen (Janukowytsch) vertiefte die bestehenden Gegensätze zwischen der Westukraine einerseits und der Ostukraine sowie der Zentralregierung andererseits.

Nach 2008 wurde die rechtsradikale Partei Swoboda, die sich explizit auf Stepan Bandera beruft, zur stärksten Partei in zwei Regionen Galiziens, in denen allerdings administrative Maßnahmen die Wahlkandidatur der größeren „orangen“ Parteien verhindert hatten. Bandera (1909-1959) war als Führer des faschistischen Bataillons Nachtigall aus Exilukrainern verantwortlich für den Massenmord an 7.000 Juden in Lemberg 1941, darunter sämtlicher jüdischer Professoren. Kurzzeitig im KZ, wurde er 1944 für den Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion, der bis 1954 anhielt, reaktiviert. Präsident Juschtschenko wertete ihn 2009 zum Nationalhelden auf. In der Westukraine wird Bandera ebenso verehrt wie seine ‚Aufständische Armee‘ (UPA). In der Ostukraine gelten sie eher als Helfershelfer der NS-Diktatur.

Seit September 2008 hatten der damalige Präsident Viktor Juschtschenko und die EU über ein Wirtschaftsabkommen verhandelt. Über dessen militärpolitische Klauseln wurde die Öffentlichkeit kaum informiert. Ein halbes Jahr später trat die Ukraine der „Östlichen Partnerschaft“ der EU bei, einer Gruppe von Staaten, denen die EU wirtschaftliche Vergünstigungen und engere Zusammenarbeit oder sogar Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Es handelte sich um die ehemaligen Sowjetrepubliken Belarus, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan, Armenien (das allerdings enge Beziehungen zu Russland unterhält) und nun auch um die Ukraine. Deren wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland, mit dem die EU eine Reihe eigener Abkommen geschlossen hatte, sollten durch die „Östliche Partnerschaft“ nicht tangiert werden, jedoch warb Juschtschenko für den Beitritt.

Die Präsidentenwahl im Januar und Februar 2010 gewann Viktor Janukowytsch in der Stichwahl knapp gegen Julia Timoschenko. Gegen diese wurden alsbald – politisch motivierte – Strafverfahren wegen Machtmissbrauch während ihrer Amtszeit als Regierungschefin eingeleitet. Timoschenko durfte die Ukraine nicht mehr verlassen und wurde inhaftiert. Die politische Spaltung zwischen dem Lager Janukowytschs und dem Timoschenkos (und Juschtschenkos, der allerdings kaum mehr eine Rolle spielte) war tiefer geworden. Sie stellte sich auch als geographische Spaltung dar. Timoschenko wurde in der westlichen Öffentlichkeit zum Sinnbild der Demokratie stilisiert; ihre frühere Tätigkeit im Gasgeschäft, durch die sie vor 1996 zur reichsten ukrainischen Oligarchin geworden war, und damit zusammenhängende justiziable Maßnahmen wurden ausgeblendet.

Das EU-Abkommen unterzeichnete Janukowytsch nicht. Am 21. November 2013 fällte seine Regierung einen entsprechenden Beschluss. Gleichzeitig wurde Timoschenko ein weiteres Mal die Ausreise verweigert. Für ihre Freilassung und vor allem gegen die Korruption Janukowytschs und seiner Umgebung hatte es seit Mitte November Kundgebungen gegeben. Eine eindeutige Mehrheit für eine Annäherung an die EU oder gar für einen Beitritt haben Meinungsumfragen zu keiner Zeit zeigen können.

Neuer Massenprotest folgte in Kiew (Euromaidan; Maidan = Platz; nämlich der Unabhängigkeit) und Lemberg. Anfang Dezember stieg die Zahl der Demonstranten bis 800.000 an. Der Unabhängigkeitsplatz (kurz: Maidan), das Kiewer Rathaus und einzelne Ministerien wurden besetzt. Dabei traten rechtsextreme Gruppen – Swoboda, Prawy Sektor – besonders aktiv auf. Gegen die Kundgebungen schritt die Sonderpolizei Berkut ein und nahm (bis Januar) insgesamt 234 Demonstranten fest. Mehrere Demonstranten wurden erheblich verletzt.

Die auf dem Maidan, zunehmend auch in anderen Städten, Demonstrierenden forderten allgemein den Rücktritt der Regierung und des Präsidenten. Abgesehen von Forderungen nach Verringerung des Oligarchen-Einflusses wurden soziale Fragen kaum laut. Der „Maidan“ stellte sich als Protestbewegung des städtischen, intellektuellen Mittelstandes dar, was der Wählerschaft der Oppositionsparteien und dem Bild des ersten Maidan von 2004/2005 gut entspricht. Stimmen gegen die Übermacht der Oligarchen traten mehr in der westlichen und der nicht großstädtisch geprägten nördlichen Ukraine auf, in der Westukraine trat die Swoboda als Organisator der Proteste hervor.

Unter den Oligarchen hielten sich die wichtigsten Donbass-Wirtschaftsführer zurück. Ihre Geschäftsinteressen richteten sich sowohl auf Russland – dessen Präsident sich deutlicher hinter Janukowytsch stellte – als auch auf Westeuropa und Nordamerika. Lediglich der Oligarch Petro Poroschenko, der das Süßwarengeschäft monopolisiert hatte und dem ein landesweites Fernsehnetz gehörte, unterstützte die Protestbewegung offen. Sein Netz des Schokoladenhandels in Russland wurde dort boykottiert.
Russlands Präsident Putin kam am 17. Dezember 2013 der Regierung Janukowytsch durch den Aufkauf einer Staatsschuld von 15 Milliarden Dollar und eine erhebliche Senkung des Gaspreises entgegen. Den erwünschten Effekt auf die Demonstranten hatte dies nicht.

Als dynamische Kraft zeigte sich seit November 2013 eine unstrukturierte Volksbewegung. Sie bestimmte, unter zeitweilig starkem Druck weit rechtsstehender Elemente, den Fortgang der Entwicklung bis wenigstens zum Februar 2014, dem Sturz Janukowytschs und noch nach der Übergangs-Vereinbarung, die von den drei West-Außenministern erwirkt, vom „Maidan“ aber verworfen wurde.

Maßnahmen der Übergangsregierung verursachten die Rebellion in ostukrainischen Bezirken, besonders die Rücknahme des Sprachgesetzes der Janukowytsch-Regierung. Die Rücknahme wurde wahrheitswidrig von russischsprachigen Gruppen als Verbot der russischen Sprache dargestellt. Die so akzentuierte Regionalisierung zog Sezessionismus nach sich, der in weiterer Eskalation zur Konfrontation der NATO, der USA und der EU mit Russland führte. Im einzelnen ist zu nennen:

Am 16. Januar 2014 eskalierte die Lage, als das Parlament (Verchowna Rada) restriktive Demonstrationsgesetze erließ, und erstmals töteten Scharfschützen zwei Protestler durch gezielte Schüsse. In diesem wie in späteren Fällen blieben der Hintergrund und die politische Orientierung der Täter ungeklärt. Auch in dem den Maidan überblickenden Hotel, in dem viele Fernsehteams untergebracht waren, bewegten sich vermummte Scharfschützen in mehreren Stockwerken. Doch gelang es nicht, sie nach den Hintergründen und Motiven zu befragen. Oft wurde die Spezialpolizei Berkut als Tätergruppe genannt. Indizien scheinen die Verantwortung regierungsnahen Kräften teilweise zuzumessen. Doch ist eine Täterschaft, wenigstens Mittäterschaft, des rechten Flügels der Maidan-Besetzer nicht widerlegt worden. Die folgende Debatte nützte hauptsächlich der bürgerlichen Opposition, weil die Opfer durchweg zu ihr gehörten; außerdem wurden Berichte in den regierungstreuen Medien als noch weniger glaubwürdig wahrgenommen als deren Konkurrenten.

In den Bezirkshauptstädten der Westukraine besetzten in derselben Zeit Demonstranten die Sitze der regionalen Regierungen. Dabei waren Angehörige der rechtsgerichteten Swoboda-Partei aktiv. In Lwiw (Lemberg) und Ternopil hatte Swoboda als einzige dezidierte Opposition zuvor Regionalwahlen gewonnen – in Abwesenheit der dort administrativ nicht zugelassenen Koalition der Parteien Timoschenkos und Juschtschenkos.

Regierungschef Mykola Asarow trat am 29. Januar zurück. Das Parlament zog die scharfen Demonstrationsgesetze zurück und versprach, alle Anklagen gegen Demonstranten fallen zu lassen, wenn diese die besetzten Gebäude freigäben, was nicht geschah.

Bis zum 20. Februar nahmen die Kämpfe weiter zu. An diesem Tage wurden nach offiziellen Angaben 88 Menschen getötet, meist von Schützen in Tarnuniform und mit Masken. In Kiew bemühten sich die Außenminister Laurent Fabius (Frankreich), Frank-Walter Steinmeier (Deutschland) und Radoslaw Tomasz Sikorski (Polen) um Konfliktlösung. Die Einmischung der drei Außenminister bewirkte, dass Präsident Janukowytsch am 21. Februar die Bereitschaft zum Amtsverzicht erklärte bei gleichzeitig für Ende 2014 geplanten Parlamentswahlen, jedoch wurde diese Einigung bereits am selben Tag von der Protestbewegung abgelehnt, worauf Janukowytsch das Land verließ. Die Öffnung seiner sehr ausgedehnten Liegenschaft Mezhyhirja diente öffentlichkeitswirksam seiner Diskreditierung.

Als neue Machthaber präsentierten sich Arsenij Jazenjuk (stellvertretend für Julia Timoschenko und ihre Partei), Vitalij Klitschko (für die von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanzierte Partei Udar) und Oleh Tjahnibok (Chef der rechtsradikalen Swoboda). Die als faschistisch eingestufte paramilitärische Organisation Prawy Sektor (Dmytro Jarosch) wurde an der Macht beteiligt. Der informelle Maidan-Rat delegierte u.a. Andrij Parubij in die Übergangsregierung. Dieser gehörte der Partei Batkywtschina (Vaterlandspartei) Timoschenkos an. Vorher war er Mitgründer einer radikalen Vorläuferpartei der Swoboda. Als „Kommandeur des Maidan“ kollaborierte er mit dem Prawy Sektor des Faschisten Dmytro Jarosch. Vom 27. Februar bis 7. August 2014 war er Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine.

Die Funktionen des Präsidenten übernahm interimistisch Parlamentschef Oleksandr Turtschynow, der ebenso wie Jazenjuk der Batkytschina (Vaterlandspartei) angehört. In der Rada erklärten unterdessen die meisten Abgeordneten der Partei der Regionen (Janukowytsch), dass sie ihre Mandate weiter wahrnehmen; meist stimmten sie nun mit der bisherigen Opposition.

Damit war im Februar 2014 aus einem vom Mittelstand initiierten Volksprotest, dem Euromaidan, ein politischer Umsturz geworden. Die im Mai folgende Wahl des Oligarchen Petro Poroschenko zum Staatspräsidenten legalisierte den Umsturz nur teilweise. Bei den Wahlen entfielen auf die rechtsxtremen Gruppierungen zusammen nur zwei Prozent der Stimmen, eine Stichwahl war nicht erforderlich, da Poroschenko im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erhielt.

In der Zeit vor der Wahl am 25. Mai 2014 spielten sich außerhalb der Hauptstadt folgenschwere Ereignisse ab. Am 1. März billigte die russische Staatsduma den Antrag Putins, russische Streitkräfte in der Ukraine zum Schutz russischer Interessen einzusetzen. Der ukrainische Interims-Premier Jazenjuk bezeichnete das als eine „effektive Kriegserklärung“. Auf der Krim wurden pro-russische Bewaffnete aktiv. Putin bezeichnete sie als „nicht russische Soldaten, sondern Selbstverteidigungskräfte“.

Am 16. März sollen nach amtlichen Angaben 96,6 Prozent aller Wähler auf der Halbinsel bei einer Beteiligung von mehr als 80 Prozent für den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation gestimmt haben. Die Zahlen sind nicht plausibel. Rund 24 Prozent der Einwohner waren zu diesem Zeitpunkt Ukrainer, 12,1 Prozent Krimtataren. Beide Gruppen waren erklärtermaßen Gegner des Anschlusses an Russland. Indessen hätte auch ohne Zahlenmanipulation die russische Bevölkerungsmehrheit (58,5 Prozent) eine Majorität ergeben. Die Sezession der Halbinsel, die den Status einer Autonomen Republik innerhalb der Ukraine hatte, widersprach der Verfassung der Ukraine ebenso wie jener der Krim. Die ukrainischen Truppen verließen auf Anordnung des Interimspräsidenten der Krim Turtschynow in der letzten Märzwoche die Krim und übergaben ihre Einrichtungen an Russland. Überwiegendes Interesse am Anschluss der Krim hatte Russland einerseits wegen des hohen Bevölkerungsanteils der Krim-Russen, andererseits wegen des Flottenstützpunkts Sewastopol, bisher schon Heimathafen der Schwarzmeerflotte.

Im Zusammenhang mit der Sezession der Krim beschloss das ukrainische Parlament den Aufbau einer 60.000 Mann starken Nationalgarde. Die EU und die USA beschlossen Sanktionen: Reisebeschränkungen gegen Amtsträger in Russland und in der Ukraine sowie Einfrieren ihrer Auslandsguthaben.

Wegen der Sezession der Krim und wegen russischer Truppenkonzentrationen nahe der ukrainischen Grenze im Zusammenhang mit Manövern brach die NATO die gesamte zivile und militärische Zusammenarbeit mit Russland ab.

In den ostukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk, dem eigentlichen Donbass-Industriebezirk, übernahmen Anfang April 2014 in mehreren Orten bewaffnete Gruppen die Macht, die teils einen neuen Staat (Volksrepublik Donezk) ausriefen – auch unter dem Namen Neurussland –, teils den direkten Anschluss an Russland forderten. In Donezk und Luhansk erwies sich diese Besetzung als dauerhaft. In Charkiw dauerte sie nur wenige Tage. Den „Milizen“ der sogenannten Separatisten strömten Hilfskräfte aus Russland zu, darunter aus Tschetschenien und Dagestan, und übernahmen schrittweise das Kommando. Darüber wurde die westliche Öffentlichkeit ausführlich und in der Regel zutreffend informiert. Die Anwesenheit zahlreicher – bis zu 400 – Söldner amerikanischer „Sicherheitsfirmen“ in der Nachfolge von Blackwater, Academi usw., wurde nur kursorisch erwähnt, ihre Tätigkeit ist nicht näher beobachtet oder untersucht worden.

In der Hafenstadt Mariupol schlugen ukrainische Kämpfer, verstärkt durch Angehörige des rechten Prawy Sektor, die Besetzung öffentlicher Gebäude durch Separatisten am 17. April zurück. Die aus diesen Milizen hervorgegangene, vom Prawy Sektor dominierte Einheit war bei den folgenden Kämpfen in und um Donezk als Streitmacht der Kiewer Regierung entscheidend beteiligt. Es war die erste größere bewaffnete Konfrontation mit Rebellen-Milizen. Endgültig war Mariupol Mitte Juni wieder in der Hand der Regierung.

Wenige Tage später nahmen Rebellen in der Stadt Slawjansk (ukr.: Slowjansk) acht ausländische Militärbeobachter in Haft, die in Zusammenarbeit mit der OSZE, aber nicht in ihrem Auftrag, in der unmittelbaren Nähe der besetzten Stadt tätig waren. Eine weitere Gruppe wurde wenig später festgenommen. Beide wurden nach einigen Tagen wieder freigelassen. Während eines Angriffs der ukrainischen Armee auf Slawjansk schossen Rebellen erstmals Armeehubschrauber ab. Slawjansk, Standort eines großen Arsenals (über 10.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre), blieb neben den wesentlich größeren Industriestädten Donezk und Luhansk zunächst unter der Kontrolle von Rebellen.

In Odessa kam es am 1. und 2. Mai 2014 zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten für die nationale Einheit der Ukraine und – wie Interimspremier Jazenjuk sagte – pro-russischen Elementen. Viele seien aus dem nahegelegenen Gebiet Transnistrien gekommen, einem abtrünnigen Teil der Republik Moldau, das den Anschluss an Russland anstrebt. Sie hätten den Demonstrationszug, mehrheitlich organisierte Fans des örtlichen Fußballclubs Tschernomorez, attackiert. Die Polizei verhielt sich abwartend. Die pro-russischen Demonstranten flohen in das Gewerkschaftshaus. Dieses geriet in Brand, offenbar durch Benzinbomben (Molotow-Cocktails). 40 Personen verbrannten. Örtliche Blogger lassen unabhängig von ihrer politischen Einstellung keinen Zweifel daran, dass die Benzinbomben von „staatstreuen“ Demonstranten geworfen wurden. Versuche ukrainischer Nationalisten, das Leben Eingeschlossener zu retten, wurden aber ebenso dokumentiert.

Russland zog unterdessen Militärverbände, die im Verlauf der Krise nahe an die ukrainische Grenze gebracht worden waren, wieder zurück. Die Zusammenarbeit im Rahmen der OSZE ging weiter, und Russlands Regierung erklärte ihren Willen zu weiterer wirtschaftlicher Kooperation, garantierte die Belieferung Westeuropas mit Erdgas und die Erfüllung weiterer wirtschaftlicher Verträge.

Der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs am 17. Juli 2014 hatte neue Eskalation zur Folge, nunmehr endgültig in Form einer Konfrontation zwischen den NATO-Staaten und Russland. Während die den US-Geheimdiensten vorliegenden Fakten aus der Satellitenfotografie, Funküberwachung und anderen Quellen bisher weitgehend zurückgehalten werden, jene aus entsprechenden russischen und ukrainischen Quellen (Regierung und Separatisten) ebenfalls in zusammenhanglosen Bruchstücken vorliegen und augenscheinlich Belastungsmaterial der jeweiligen Gegner sein sollten, ist eine professionelle und unabhängige Untersuchung nicht möglich gewesen. Die aus den Milizen hervorgegangene, vom Prawy Sektor dominierte Einheit war bei den folgenden Kämpfen in und um Donezk als Streitmacht der Kiewer Regierung entscheidend beteiligt. Drei Wochen nach dem Abschuss waren die Absturzorte gründlich verändert, unter anderem durch Gruppen bewaffneter Rebellen und die späte Bergung der Todesopfer. Qualifizierte Untersuchungsgruppen wurden nur zögerlich von den Ort beherrschenden Rebellen zugelassen, die Forderung nach bewaffnetem Begleitschutz enthielt die Gefahr weiter eskalierender Zusammenstöße. Ferner fehlt noch die vollständige Veröffentlichung der Daten, die von US-Spionagediensten ermittelt worden sind.

Hatten Massenmedien schon zu Beginn des Euromaidan Russland und besonders Putin zum „Brandstifter“ (Spiegel) erklärt, so folgten nun Schuldzuweisungen an dieselbe Adresse, ohne dass eine Beteiligung Russlands an dem Flugzeug-Abschuss oder gar die Verantwortung Putins dafür nachgewiesen wäre (Spiegel-Schlagzeile: „Stoppt Putin jetzt“ auf der Titelseite, die mit teils widerrechtlich beschafften Porträtfotos der Todesopfer unterlegt war).

Die These, das Flugzeug sei durch eine Flugabwehrrakete vom Typ SA-11 (Buk) abgeschossen worden, ist keineswegs bewiesen. Falls sie zutrifft, muss geklärt werden, welche Mannschaft die Abschussrampe bedient hat. Dafür kommen Spezialisten mit einschlägiger Ausbildung in Frage, Angehörige oder ehemaliger Angehörige sowjetischer bzw. russischer oder ukrainischer Truppen, außer regulären auch ehemalige Soldaten, etwa Überläufer aus der ukrainischen Armee zu den Separatisten usw. Letztere Annahme hat höhere Plausibilität als jene, die eine funktionierende Kommandostruktur einer Armee voraussetzt. Denn dies würde die staatlich beschlossene Tötungsabsicht voraussetzen.

Falls Rebellen mit Spezialkenntnis den Abschuss vorgenommen haben, ist zu klären, ob sie das Zivilflugzeug versehentlich abgeschossen haben, aus Verwechslung mit einer großen Militärmaschine oder infolge einer Fehlbedienung der Abschussrampe. Ein Abschuss „aus Versehen“ (so wegen der Verwechslung mit einer Militärmaschine) scheint plausibel, ist aber ebenfalls nicht bewiesen.

Sollte aber die Luftabwehr eines Staates die Tat mit Vorsatz vollbracht haben, so könnte dies zum casus belli werden. An einem Krieg über den Rahmen der Kämpfe in der Ostukraine hinaus dürfte Russland wenig interessiert sein. Schon deshalb sind Schuldzuweisungen der betreffenden Medien und Institutionen (NATO) unverantwortlich. Andererseits kann die Ukraine wegen der eigenen militärischen Schwäche einen Krieg mit Russland nicht wollen. Schließlich ist ein Interesse anderer Mächte, die über die nötigen Verbindungen zur Szene – oder ganz andere technische Mittel zum Abschuss – verfügen, nicht nachweisbar. Die Annahme, der Abschuss sei versehentlich erfolgt, ist immer noch wahrscheinlicher.

Die Folge war aber eine substanzielle Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und Drohungen mit einer noch verstärkten NATO-Präsenz u.a. durch deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Nun konterte Russland mit Gegenmaßnahmen wirtschaftlicher Art – die Sanktionen der NATO-Staaten, der USA und der EU betrafen ebenfalls die Wirtschaft – bis zur Erwägung, bestimmten Fluggesellschaften die Überflugrechte zu entziehen. Die Eskalation erreichte eine neue Schärfe. Demgegenüber dienen Unterstellungen russischer Verantwortung der Verstärkung eines Feindbilds – von diversen Verschwörungstheorien bis zu Kommentaren sonst seriöser Medien, die nach schärferer Konfrontation verlangen. In diesen Zusammenhang gehört die Verhängung immer neuer Sanktionen, die Gegen-Sanktionen nach sich ziehen und so eine gefährliche Eskalation einleiten würden.

Zusam­men­hänge mit dem globalen Wandel von einer unipolaren zu einer multi­po­laren Welt

Nach dem Ende des West-Ost-Konfliktes hatten die USA eine einzigartige dominierende Position inne. Man sprach von einer unipolaren Welt. Sie nutzten sie für viele militärische Interventionen (z.B. Kosovo, Afghanistan, Irak, Libyen). Die damit verbundenen Misserfolge, das Aufkommen sogenannter Mittelmächte auf dem Wege zum Status von Großmächten (BRICS : Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und der relative Abstieg ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Potenzen haben die Situation hin zu einer multipolaren Welt verändert. Die USA kämpfen in ihr nun um ihre Position in der globalisierten Welt.

Russland, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Großmacht sehr zurückgefallen war, versucht dagegen seine Weltbedeutung wieder aufzubauen und in diesem Zusammenhang – neben einem wirtschaftlichen Zusammenschluss mit benachbarten Staaten – seine Stellung als ernst zu nehmender Partner der USA in dem System gegenseitiger atomarer Abschreckung zu sichern. Dabei wendet Moskau auch militärisch unorthodoxe und subversive Methoden wie auf der Krim und in der Ost- Ukraine an. Gleichzeitig verstärkt es den Ausbau seiner Militärpotenziale.

Beide Mächte setzen in ihrer Konkurrenz also vorwiegend auf militärische Gewalt. Bei der Angliederung der Krim an Russland trifft Moskau allerdings auf Ablehnung aus vielen Teilen der Welt – vor allem der Vielvölker-Staaten – die bei sich selbst separatistische Bewegungen bekämpfen oder fürchten. Die veröffentlichte Meinung in Europa und den USA stellt diese Entwicklungen einseitig dar. Eine kritische Untersuchung unterbleibt meist.

Differenzen zwischen den USA und der EU in Bezug auf den Ukrai­ne-­Kon­flikt

USA und EU reagieren unterschiedlich auf die von Russland unterstützten separatistischen Bestrebungen in der Ost-Ukraine. Beide machen Russland dafür verantwortlich, doch die USA drängen stärker auf wirtschaftliche und politische Sanktionen als die EU. Für die USA steht die Ausweitung der NATO nach Osten unter militärstrategischen und wirtschaftlichen Aspekten der Globalisierung im Vordergrund. Dies führt zu einer harten Gangart der USA gegenüber Moskau. Sanktionen sollen den Kreml in die Knie zwingen, während die EU weit mehr auf Verhandlungen drängt, um Kooperation mit Russland weiter zu ermöglichen und in der Perspektive zu erweitern. Eine Politik der eurasischen Kooperation, die den Spielraum der EU gegenüber den USA vergrößern würde, ist zudem für die USA auch unter dem Gesichtspunkt, die Bedeutung des Dollars als Leitwährung gegenüber dem Euro zu sichern, negativ besetzt. Die EU ist stärker bemüht, Dialoge zu organisieren. Besonders engagiert sind der deutsche, der französische und der polnische Außenminister. Dabei spielen wirtschaftliche Interessen – Investitionen in Russland, Technologie-Exporte und vor allem Gas- und Ölimporte in die EU – eine entscheidende Rolle. Für die EU betragen die Exporte nach Russland 2,6 Prozent der Gesamtexporte (taz 2.8.2014, S.7). Dies ist kein sehr hoher Anteil, doch wird der russische Markt für die Zukunft als Wachstumsmarkt eingeschätzt.

Für die USA, die in Russland weniger wirtschaftlich involviert sind, besteht ein Interesse, EU-Einkäufe verstärkt auf US-Angebote und Angebote aus dem Dollar-Raum zu lenken. Sie fürchten, die EU würde durch eine engere Kooperation mit Russland eine größere Eigenständigkeit gewinnen und sich ihrem Einfluss tendenziell entziehen. Die Folge dieser Konstellation besteht darin, dass die USA eine besonders enge Beziehung zu Kiew aufbaut, so dass die EU nur noch geringen Einfluss auf dessen Verhalten hat. Dabei machen sich die USA die Aversionen gegen Russland zu nutze, die in ostmitteleuropäischen Staaten, besonders in Polen, aus historischen Gründen verbreitet sind.

Stimmen gewichtiger US-Politiker lassen erahnen, ein Zusammenprall zwischen EU und Russland, der beide Seiten schwächt, könne durchaus im Interesse von US-Strategien liegen. Die EU würde sich dann stärker unter die Obhut der USA begeben müssen. Die betont provozierende Haltung der USA könnte einer solchen Orientierung entsprechen. Ob die drei Außenminister das erkannt haben?

Deutsch­lands Bezug zum Ukrai­ne-­Kon­flikt

Die Ukraine ist im 20. Jahrhundert zweimal von deutschem Militär besetzt worden. Im Zweiten Weltkrieg vernichteten die Wehrmacht, die SS und andere militärische Kräfte die Industrieanlagen und große Teile der Infrastruktur der Ukraine, spätestens bei ihrem Rückzug. Unter der deutschen Besetzung und infolge der Kriegshandlungen kamen rund 20 Prozent der ukrainischen Bevölkerung und faktisch ihre gesamte jüdische Bevölkerung ums Leben. Dabei halfen ukrainische Hilfstruppen, die – obwohl am Aufbau eigener Verwaltungen nachhaltig gehindert – für das Hitler-Reich in der letzten Kriegsphase und darüber hinaus Partisanenkrieg gegen die Sowjetunion führten.
Deutschland ist ein führendes Mitglied in der NATO wie auch in der EU. Es hat eine bedeutende diplomatische Rolle bei der Überwindung des West-Ost-Konflikts gespielt, wobei die Nichtausweitung der NATO nach Osten versprochen wurde. Trotzdem hat es seit den 1990er Jahren die Ausweitung der NATO stets unterstützt und mit exekutiert. Der EU-Assoziierungsvertrag mit der Ukraine, der auch gewichtige militärische Komponenten enthält, wurde von Deutschland ebenso mitgetragen, wie die massive Unterstützung der Maidan-Revolte. Eine Einmischung sondergleichen! Eine Rolle Deutschlands als Vermittler dürfte deshalb von russischer Seite mit großer Skepsis gesehen werden.

Benennung von legitimen Interessen in diesem Konflikt

Erläuterung des Begriffs „Legitime Interessen“ (allgemein)

Unter legitimen Interessen werden hier solche verstanden, die mit der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übereinstimmen. Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates konstituieren nicht unbedingt legitime Interessen, da sie auch von den partikularen Interessen mächtiger Staaten bestimmt sein können. Trotz dieses zunächst klaren Bezugs des Begriffs werden immer wieder Probleme auftauchen, besonders, wenn – wie im Falle der Ukraine – machtpolitische und militärpolitische Konstellationen eine große Rolle spielen, die nicht im Rahmen der Bearbeitung des engeren Konflikts auflösbar seien werden.

Ukraine

  • einen Bürgerkrieg im Lande zu vermeiden
  • Abbau von Feindbildern in der eigenen Gesellschaft und nach außen
  • Minderheiten im Lande angemessen in ihren Interessen zu berücksichtigen, auch wenn sie keine Mehrheiten in den zentralen politischen Institutionen haben
  • Zulassung und Förderung regionaler, sprachlicher und religiöser Besonderheiten in den Regionen der Ukraine
  • Demokratische Verhältnisse, so weit vorhanden, zu sichern und auszubauen
  • Sicherung des Handels und guter politischer Beziehungen zu allen umliegenden Staaten unter Berücksichtigung der ukrainischen entwicklungspolitischen Bedürfnisse
  • Überwindung der Korruption und des illegitimen großen Einflusses der Oligarchen.

Russland

  • Verhinderung einer militärischen Einkreisung durch die NATO und Verschiebung des Systems der gegenseitigen Abschreckung zu Ungunsten Russlands
  • Sicherung des Handels mit der Ukraine zu angemessenen Bedingungen
  • Entfaltung eurasischer Kooperation und Stärkung der OSZE
    Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale
  • Entfaltung von Vertrauen bildenden Maßnahmen und Abbau von Feindbildern

EU

  • Ausbau von wirtschaftlicher und politischer Kooperation nach Osten
    Abbau gegenseitiger Bedrohungspotentiale
  • Stärkung der OSZE und Ausbau von Methoden und Institutionen ziviler Konfliktbearbeitung
  • Abbau von Feindbildern und Entfaltung von Vertrauen bildenden Maßnahmen

USA

  • Stabilisierung der eurasischen Beziehungen, um Konflikteskalationen in dieser Region vorzubeugen.
  • Zugang zu den euroasiatischen Märkten unter Berücksichtigung deren entwicklungspolitischer Bedürfnisse
  • Abbau gegenseitiger Bedrohungssysteme
  • Verbesserung der Kooperation mit Russland, um Konflikte in Mittel- und Nahost besser befrieden zu können.
Vorschläge oder Road Map und Anfor­de­rungen

an die involvierten Akteure für eine zivile Lösung des Konflikts mit weit reichender Perspektive für Vertrauensbildung und Kooperation.

Was kann also getan werden, um Deeskalation und eine friedliche Überwindung des Konflikts voranzutreiben? Hier Vorschläge für eine Road Map:

  • Es besteht die Gefahr einer nicht gewollten militärischen Eskalation zwischen den Großmächten. Die NATO und Russland erklären deshalb, sie wollen auf keinen Fall den Konflikt militärisch austragen. Deshalb solle zwischen NATO und Russland ein rotes Telefon und ein entsprechender Krisenstab eingerichtet werden.
  • Die EU begrüßt diese Erklärungen und bietet Hilfe zur Deeskalation an.
  • Russland stimmt diesem Vorschlag zu und beteiligt sich an dessen Verwirklichung.
  • Die NATO erklärt, sie beabsichtige nicht, die Ukraine als Mitglied aufzunehmen und auch nicht in anderer Form mit ihr militärisch zu kooperieren.
  • Die EU erklärt, sie betrachte alle Teile des mit Kiew abgeschlossenen Assoziierungsabkommens, die sich auf eine militärische Kooperation beziehen, als ungültig.
  • Kiew erklärt sich als neutral, wie es bereits in der Verfassung von 1996 festgelegt ist. Es werde keinem Militärpakt beitreten.
  • Die USA erinnern Russland an den trilateralen Vertrag zwischen der Ukraine, den USA und Russland vom 13.1.1994 in Moskau. Dabei wurden der Ukraine unter anderem Grenzgarantien zugesichert.
  • Russland erklärt sich mit den Neutralität der Ukraine einverstanden und will sie dauerhaft respektieren.
  • Russland beendet daraufhin stillschweigend seine Unterstützung für die Separatisten in der Ost-Ukraine.
  • USA und EU akzeptieren die Neutralitätserklärung der Ukraine und bringen zum Ausdruck, sie dauerhaft respektieren zu wollen. Sie kündigen einen Plan an zur stufenweise Beendigung ihrer Sanktionen gegen Russland und fordern dieses auf, es ihnen gleich zu tun.
  • Kiew erlässt eine Amnestie für die Separatisten und gestattet ihren unbehinderten Abzug nach Russland.
  • Kiew erarbeitet eine neue föderale Verfassung mit angemessenen Autonomierechten, die auch Minderheiten schützen. In ihr ist eine Wirtschaftsordnung festgelegt mit gleichberechtigten Beziehungen nach West und Ost unter Berücksichtigung der entwicklungspolitischen Bedürfnisse der Ukraine.
  • Die NATO zieht die Streitkräfte wieder ab, die sie während des Konflikts in Mitgliedsstaaten mit einer Grenze zu Russland stationiert hatte.
  • Kiew fordert eine neue Volksabstimmung auf der Krim über deren Sezession. Dabei wird Russland vorab vertraglich zugesichert, dass das Areal um den russischen Kriegshafen Sewastopol unabhängig vom Ausgang der Volksabstimmung exterritoriales Gebiet Russlands bleiben würde. Die Volksabstimmung solle unter strikter Kontrolle der OSZE erfolgen und die Ergebnisse wären verbindlich für alle. Russland müsse sich verpflichten, die kulturellen Rechte der Krimtataren zu respektieren, falls die Abstimmung die Angliederung der Krim an Russland bestätigt.
  • Russland erklärt sich bereit, über die Modalitäten dieses Vorschlags zu verhandeln.
    USA, EU und NATO heben ihre Sanktionen gegen Russland auf.
  • Russland erklärt sich bereit, mit Kiew über die Lieferung von Öl und Gas und die Verrechnung bestehender Schulden erneut zu verhandeln.
  • Deutschland schlägt in Übereinstimmung mit der EU eine dauerhafte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) vor – eventuell im Rahmen der OSZE. Auf ihr sollen in mehreren „Körben“ die verschiedenen Themen behandelt und zur Schlichtung von Kontroversen beigetragen werden.
  • Kiew fordert Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien auf, sich ebenfalls für einen neutralen Status zu entscheiden und in regionaler Kooperation bestehende Differenzen – etwa bezogen auf Bergkarabach und Transnistrien – beizulegen und gemeinsame Interessen zu vertreten.
  • Die NATO verzichtet darauf, sich um einen Beitritt dieser Länder zu bemühen, falls diese sich für neutral erklären sollten.

Würde nach dieser Road Map verfahren, könnte die Ukraine eine wichtige Rolle als Brücke zwischen West und Ost und zur Befriedung vieler Länder in der Region spielen.

Eine friedliche Lösung wäre möglich, wenn die alten Verhaltensweisen der Konfrontation zugunsten einer Politik der Kooperation und der zivilen Konfliktbearbeitung in Europa aufgegeben werden. Abbau von Misstrauen und Aufbau von Vertrauen sind erforderlich. Die Zivilgesellschaften aller beteiligten Länder können dazu beitragen, indem sie sich gegen Feindbilder und Verhetzungen wenden.

PROF. DR. ANDREAS BURO   ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Koordinator des Monitoring- und des Münchhausen-Projekts sowie des Dialog-Kreises. Aachener Friedenspreis 2008, Göttinger Friedenspreis 2013.

DR. KARL GROBE   ist freier Autor. Er war leitender außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau.

CLEMENS RONNEFELDT   ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.

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