Themen / Sozialpolitik

Die Arbeits­losen als Problem­fall?

15. März 2002

Zu einigen Verkürzungen in der Debatte um den aktivierenden Sozialstaat.

Aus: vorgänge Nr. 158 (Heft 2/2002), S. 148-155

 

Die Spaltung der Arbeits­ge­sell­schaft

Alles begann im Frühjahr des Jahres 2001 mit einem Satz des Bundeskanzlers Gerhard Schröder: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit.” Dieser Satz polarisierte. Er war ein Tabubruch mit dem alten sozialdemokratischen Credo, dass die Arbeitslosen als die Opfer des kapitalistischen Systems anzusehen sind und dass ihnen deshalb die Solidarität der Gesellschaft gebührt. Schröders Satz verursachte auch deshalb eine solche öffentliche Aufregung, weil die Gesellschaft bis heute kein angemessenes Verhältnis zu dem Heer der Arbeitslosen entwickelt hat, und weil sie über das Fehlschlagen aller Anstrengungen zur Wiedererlangung der Vollbeschäftigung enttäuscht ist. Dennoch verweigert man sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den unfreundlichen Konsequenzen der Existenz einer millionengroßen Gruppe von Freigesetzten, und hofft immer noch, die alten Heilsversprechen einer Kopplung von Wachstum und Beschäftigung würden noch einmal eingelöst.
Die vom Kanzler ausgelöste Diskussion um die vermeintliche Faulheit und die mangelnde Arbeitsmotivation der Arbeitslosen lassen sich daher als Teil eines Frühwarnsystems verstehen, mit dem die Arbeitsgesellschaft gegen die Erosion ihrer grundlegenden Werte angeht.
Arbeitsgesellschaft heißt, dass die grundlegenden Koordinaten des sozialen Lebens auf die Sphären von Produktion und Erwerb bezogen sind, und dass die dort ausgebildeten Normen des Tätig seins und der Leistungserbringung allgemeine Geltung beanspruchen. Anderen nicht zur Last zu fallen und sich mittels Arbeit einen Lebensunterhalt zu ,verdienen‘, ist Teil eines normativen Curriculums, das für die gesamte arbeitsfähige, erwachsene Erwerbsbevölkerung gilt. Dass sich vor dem Hintergrund von Technologieschüben und Rationalisierungen, die mit Freisetzungen verbunden sind, Widersprüche auftun, liegt auf der Hand. Über vier Millionen Menschen sind in Deutschland aus den Erwerbszusammenhängen ausgegliedert und haben eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten an den arbeitsgesellschaftlichen Prozessen. Die prekäre Situation für Arbeitslose ist, dass von ihnen, denen ein Leben jenseits des Marktes zugemutet wird, gleichzeitig eine anhaltende Aktivität mit dem Ziel des Wiedereintritts in den Markt eingefordert wird. Dies ist um so widersprüchlicher, je offensichtlicher die wirtschaftliche Dynamik auf die Verminderung der klassischen Erwerbsverhältnisse ausgerichtet ist. In Zeiten dauerhafter und womöglich anwachsender Beschäftigungsdefizite keimt die Gefahr, dass sich das Schicksal der Arbeitslosigkeit verfestigt, und dass die Kluft zwischen den produktiven Sektoren der Gesellschaft, also denjenigen, auf deren Leistungskraft es im Arbeitsprozess ankommt, und zwischen den ausgegliederten Gruppen größer wird.

Der aktivie­rende Sozialstaat

Der aktivierende Sozialstaat, der in jüngster Zeit quer durch alle politischen Fraktionen gefordert wird, kann als Programmformel gelesen werden, die den Szenarien einer fortgesetzten Spaltung der Arbeitsgesellschaft in Aktive und Passive entgegentritt. Sie tut dies nicht nur, weil die dauerhafte Ausgrenzung Einzelner und die Verneinung von Lebenschancen moralisch verwerflich erscheint, sondern auch, weil eine solche Kluft sozialen Sprengstoff in sich birgt. Es scheint immer schwieriger, sowohl der finanziellen Last, die die Arbeitslosigkeit mit sich bringt, als auch den Anforderungen an die Legitimitätsgewinnung gerecht zu werden. Die Arbeitslosenversicherung hatte ursprünglich die Aufgabe, eine Einkommensstabilisierung für Phasen der befristeten Erwerbsunterbrechung anzubieten. Befristet heißt, dass Arbeitslosigkeit als transitorisches Phänomen auftritt, als eine Übergangspassage von einer Beschäftigung in eine andere. Aus dieser Normalvorstellung zeitlich kurzfristiger Arbeitslosigkeit gewann die Arbeitslosenversicherung ihre Legitimität. Zwischen den Gebern und Nehmern innerhalb des Systems entstand keine Kluft, weil sich alle als Teil eines kollektiven Versicherungsarrangements sehen konnten, das dem Existenzrisiko der Arbeitslosigkeit begegnete.
Diese Grundvorstellung wurde in dem Maße erschüttert, in dem sich das Normalmodell der Arbeitsgesellschaft mit Vollbeschäftigung, kontinuierlichen Erwerbsverläufen und rein konjunktureller Arbeitslosigkeit erledigte und Dauerarbeitslosigkeit zum Massenphänomen wurde. Mehr denn je trat zum Vorschein, dass das Arbeitslosigkeitsrisiko kein ,natürliches‘ Risiko wie Krankheit ist, sondern äußerst ungleich verteilt auftritt. Einige Gruppen besitzen aufgrund sozialer, qualifikatorischer oder sektoraler Bedingungen ein ungleich höheres Risiko arbeitslos zu werden als andere.  Arbeitsmarktforscher markierten den Unterschied zwischen Kernbelegschaften, also jenen, die sich in gesicherten und vom Arbeitslosigkeitsrisiko relativ geschützten Zonen einer Beschäftigung erfreuen, und den Randbelegschaften, deren Erwerbsverhältnis eher prekärer Natur ist. Die Randbelegschaften haben eine deutlich schlechtere Position hinsichtlich der Beschäftigungssicherheit und sind einer ungleich größeren Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. In ihren Berufsbiographien kumulieren die Nachteile diskontinuierlicher Beschäftigung, denn mit mehrfacher Arbeitslosigkeitserfahrung wird es immer schwieriger, sich in den Kernsektoren des Arbeitsmarktes zu platzieren.
Diese Ungleichverteilung des Risikos ist gesellschaftlich vor allem deshalb problematisch, weil sie die kollektive Risikoabsicherung dem Vorwurf aussetzt, im Grunde ein Umverteilungsinstrument zu sein: Umverteilung von den aktiv Beschäftigten zu den Arbeitslosen im Wartestand. Unter diesen Bedingungen mögen sich die unterschiedlichen Risikogruppen aufgefordert fühlen, sich selbst im Verteilungssystem zu verorten; etwa in Abhängigkeit der eigenen Beiträge in Relation zu den Beiträgen anderer und in Abhängigkeit des eigenen Arbeitslosigkeitsrisikos in Relation zum Arbeitslosigkeitsrisiko anderer (vgl. Hamann et al. 2001: 31). Als Nettozahler und damit Umverteilungsverlierer werden sich jene Gruppen sehen, die einen relativ hohen Versicherungsbeitrag zahlen und die das Risiko der eigenen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit als relativ niedrig einschätzen. Je asymmetrischer die Verteilungssituation gesehen wird und je verfestigter die Kategorien der Nettozahler und der Nettoempfänger, desto eher muss die Arbeitslosenversicherung mit Akzeptanzproblemen rechnen.
In diesem Zusammenhang wiegt eine zweite Besonderheit des Arbeitslosigkeitsrisikos schwer. Es ist anfällig für Fragen individueller Schuld bzw. Schuldzuschreibung. Für die Gewährung von Hilfe macht es einen gravierenden Unterschied. ob man die Arbeitslosen als Opfer des ökonomisches Systems sieht, oder ob die Arbeitslosigkeit mit individuellem Fehlverhalten in Verbindung gebracht wird. Wenn man den Sozialstaat als Solidaritätsvertrag betrachtet, kann man leicht einsehen, dass die Akzeptanz der Umverteilung von Ressourcen auch an die als gerecht wahrgenommene Lastenverteilung gebunden ist. Diejenigen, die zur Kasse gebeten werden, möchten versichert sein, dass die Hilfeempfangenden unverschuldet in eine Notlage geraten sind und dass sie diese Notlage nicht ausnutzen. Entsprechend spielt es im Zusammenhang mit der Unterstützung für Arbeitslose eine gravierende Rolle, ob den Leistungsbeziehern eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen unterstellt wird oder nicht (vgl. Liebig/Mau 2002). „Sozialschmarotzer”, die das kollektive Versicherungssystem ungerechtfertigt und über Gebühr belasten, sollen eben nicht belohnt werden.
Die moralische Intuition des gesunden Menschenverständnisses besagt zugespitzt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Man kann es auch zeitgemäßer formulieren: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht an den Privilegien der ,Neuen Mitte‘ teilhaben. So wird von den Arbeitslosen als Gegenleistung für staatliche Hilfe eingefordert, dass diese eigene Anstrengungen unternehmen, um möglichst bald wieder ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Arbeitslosen, die sich dieser Norm versagen, droht der Entzug der staatlichen Unterstützung. Daher erscheinen „aktivierende Maßnahmen” mehr und mehr als legitimes Mittel, um die Passiven der Arbeitsgesellschaft in den Arbeitsprozess zu bringen. Damit wird der Abschied von einem Verständnis des Wohlfahrtsstaates eingeleitet, bei dem die Setzung positiver Anrechte im Vordergrund stand. Aus sozialen Rechten, die im Gegensatz zum Markt stehen und seine Hegemonie begrenzen, werden voraussetzungsvolle, mit selektiven Anreizen operierende sozialpolitische Programme. Diese zielen darauf ab, die staatlich alimentierten Gruppen – soweit sie dazu in der Lage sind – in den Arbeitsmarkt zu bringen. Damit soll Sozialpolitik gleichsam zur Arbeitsmarktpolitik werden. Der Wohlfahrtsstaat soll nicht nur Verwalter von passiven Unterstützungsempfängern sein, sondern zur Aktivierung ihrer Selbsthilferessourcen beitragen.
Dieses neue Paradigma geht auf die zum Teil massive Kritik an den deaktivierenden Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge zurück. Besonders pointiert wurde diese von Charles Murray in seinem Buch Losing Ground (1984) vorgetragen, in dem der Autor auf die „perversen” Effekte des Sozialstaates hinwies. Ein großer Prozentsatz der Alimentierten, so Murray, würde Arbeitslosigkeit nicht erleiden, sondern selbst wählen, da großzügige Transferleistungen den Arbeitsanreiz verminderten. Aus dieser Sicht ist nicht nur der Markt, sondern auch der Sozialstaat mit seinen kontraproduktiven Anreizen ein Teil des Problems. Neben dieser ökonomisch argumentierenden Erklärung des Verhaltens der Arbeitslosen werden auch immer wieder soziale Gründe für eine geringe Arbeitsmotivation angegeben. Grundthese ist hier, dass wohlfahrtsstaatliche Anreizsysteme die falschen Werte und Einstellungen befördern. Der Ökonom Assar Lindbeck (1994) spricht in diesem Zusammenhang von „gelernter Hilflosigkeit”. Damit ist gemeint, dass Menschen, die sich auf Dauer in Arbeitslosigkeit einrichten, sich von den Werten der Arbeitsgesellschaft entfernen. Sie werden passiv und entwickeln ein affirmatives Selbstverständnis ihrer eigenen Lage. Schon allein um die Selbstachtung nicht zu verlieren. Eine ,Kultur der Arbeitslosigkeit‘ entsteht, die immer weniger auf die Werte des Erwerbslebens Bezug nimmt.

Zu einigen Mythen der Debatte

Ohne sich vom Eifer des derzeitigen politischen Veränderungwillens mitreißen zu lassen, lohnt es sich, die vorgebrachten Argumente auf ihren Gehalt zu prüfen. Fangen wir mit den Zahlen an. Derzeit wird diskutiert, ob ein großer Teil derer, die in der Arbeitslosigkeitsstatistik geführt werden, überhaupt als arbeitslos gelten können, da sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.
Aufschluss über die Anstrengungen der Arbeitslosen, ins Erwerbsleben einzutreten, gibt nun eine jüngst veröffentliche Studie des Umfrageinstituts infas. Von den 20.000 befragten Arbeitslosen gab nur die Hälfte an, mit aller Kraft nach einer Arbeit zu suchen. Die anderen, so schrieb die Illustrierte stern, seien „Karteileichen oder Arbeitslose mit mehr oder weniger großen Motivationsproblemen”. Die Karteileichen (27 Prozent) setzen sich allerdings recht heterogen zusammen, und bei einem Teil dieser Gruppe ist tatsächlich zu fragen, ob die Arbeitsämter die richtigen Ansprechpartner für sie sind. Fünf Prozent gelten als beim Arbeitsamt vorübergehend ,geparkt‘ und haben schon eine Stelle in Aussicht. Fünfzehn Prozent sind Erwerbstätige, die nach eigenen Angaben keine Stelle mehr antreten wollen, weil sie bereits eine Zusage für eine Vorruhestandslösung haben oder auf die Verrentung warten. Die Leistungen für diese Gruppe sind von Florian Gerster, dem neuen Chef der Bundesanstalt für Arbeit, kritisiert worden, weil sie es Unternehmen leicht machen, ältere Arbeitnehmer für die Privatwirtschaft kostenneutral an das Sozialleistungssystem zu übergeben. Die restlichen sieben Prozent gaben an, sich im Übergang zum Wehr- oder Zivildienst zu befinden oder in den Erziehungsurlaub gehen zu wollen. Sie nutzen die Meldung beim Arbeitsamt, um sich Rentenansprüche zu sichern.
Kommen wir zu den Arbeitslosen mit „mehr oder weniger großen Motivationsproblemen”, die auf 20 Prozent geschätzt werden. Von ihnen heißt es, sie gingen nur mit „mittlerer Aktivität” auf die Suche nach einer neuen Arbeit. Sie lesen die Jobannoncen in der Zeitung, hören sich im Freundes- und Bekanntenkreis um oder warten, bis ihr Arbeitsvermittler ihnen etwas anbietet. Es ist eine Frage des Standpunktes, wie man dieses Ergebnis bewertet. Für manche mag ein solches Verhalten skandalös klingen, andere mögen sagen, das Gesetz verlange mehr Einsatz, dritte dürften angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der Schwierigkeit, im Erwerbsleben Fuß zu fassen, diese Zahlen eher positiv bewerten. Schließlich kann fortgesetzte Zurückweisung zu Resignation führen, und es ist eher unwahrscheinlich, dass ein Arbeitloser über Jahre des sozialen Ausschlusses eine hohe Motivation beibehält. Über die Zeit vermindert sich die Aussicht auf einen Vermittlungserfolg und dies bleibt nicht ohne Folgen für die unternommenen Anstrengungen. Als richtige Drückeberger lassen sich gemäß der infas – Studie aber nur zwei Prozent der Arbeitslosen bezeichnen. Sie entziehen sich mit Tricks und ärztlichen Attesten den Vermittlungsangeboten des Arbeitsamtes. Die Studie nennt sie „aktiv passiv”, und das Verhalten dieser kleinen Gruppe ist es, das am Pranger steht und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung im Misskredit bringt.
Auch die Leistungshöhe der Unterstützung für Arbeitslose ist zur Zielscheibe der Kritik geworden. Teile der Arbeitgeberverbände beklagen, für viele Arbeitslose gäbe es nur einen geringen Anreiz zur Arbeitsaufnahme, da der Abstand zwischen den Sozialleistungen und den auf den Arbeitsmarkt erzielbaren Einkommen zu gering sei. Dieses Argument, so plausibel es auf den ersten Blick klingt, ist allerdings zu einfach gestrickt. Denn der Wunsch Arbeit aufzunehmen, ist nicht direkt proportional zu dem möglichen finanziellen Gewinn. Finanzielle Anreize wirken nur unmittelbar verhaltenssteuernd und stellen allenfalls eine Randbedingung für soziale Präferenzen dar (vgl. Marmor et al. 1990). Der Vergleich von bessergestellten und schlechter gestellten Arbeitslosengruppen kann gut belegen, dass andere Faktoren (z.B. Qualifikation) um vieles schwerer wiegen, wenn es um die Wahrscheinlichkeit des Wiedereinstiegs in den Arbeitsmarkt geht. Die subjektive Orientierung auf Erwerbsarbeit lässt sich gleichfalls nicht unvermittelt auf die finanziellen Härten zurückführen, die mit der Arbeitslosigkeitserfahrung verbunden sind (Gallie/Vogler 1994). Für das breite Spektrum der Arbeitslosen gilt relativ unabhängig von der Höhe der Arbeitslosenunterstützung: ihr wichtigstes Anliegen ist der Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt. Arbeit ist eben nicht nur finanzielle Gratifikation, sondern ermöglicht zugleich soziale Teilhabe, Anerkennung und Integration. Ob die Daumenschraube der Bezugskürzung nicht statt zur Wiedereingliederung zu sozialen Härten führt, sollte unbedingt bedacht werden. Schließlich lebt die Mehrzahl der Arbeitslosen im Familienverbund.
Diejenigen, die von mangelnden Anreizen durch zu großzügige Sozialleistungen reden, stehen in der Pflicht zu belegen, welche Schwellen unterschritten werden müssen, um die gewünschten Beschäftigungseffekte zu erzielen. Die vollständige Kürzung aller Sozialleistungen oder druck ausübende workfare – Programme können Menschen natürlich in Billiglohnjobs drücken, aber es ist nicht ausgemacht, welche sozialen Folgeschäden dadurch entstehen. Der Nobelpreisträger Robert Solow (1998) hat nachgewiesen, dass sich — wenn Transferleistungsbezieher mit Beschäftigungsauflagen in den Niedriglohnsektor gedrückt werden — das Armutsproblem sogar noch verschärfen könnte. Die Folge wäre nämlich, dass die Arbeitsleistungen vor allem auf dem Niedriglohnsektor angeboten würden und damit ein Verdrängungswettbewerb mit weiteren Lohndruck ausgelöst würde. Dies könnte wiederum einen größeren Personenkreis am Rande oder knapp oberhalb des so genannten Niedrigeinkommens hinabziehen und zu Besitzern von Billigarbeitsplätzen machen. Dann wäre der Staat gezwungen, Einkommenssubventionen oder Beihilfen zum Lebensunterhalt für eine tendenziell größer werdende Gruppe zur Verfügung zu stellen. Nicht zuletzt gibt es auch einen Konsens darüber, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung den Einzelnen davor schützen sollen, jede Arbeit zu jedem Preis annehmen zu müssen. Die jetzige Regelung sieht ja schon vor, dass bei einer abgelehnten Vermittlung deutliche Einkommenseinbußen (in den ersten drei Monaten 20 Prozent weniger als die Bemessungsgrundlage, dann 30 Prozent, ab dem siebten Monat sogar weniger als das Arbeitslosengeld) hingenommen werden müssen. Auch berufsfremde Beschäftigung und tägliches Pendeln bis zu zweieinhalb Stunden gelten als zumutbar. Viel weiter lassen sich die gesetzlichen Vorgaben wohl nicht dehnen.
Ein ähnliches Problem entsteht, wenn, wie jetzt diskutiert wird, Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe zusammengelegt werden. Es ist wahr, dass diejenigen Arbeitslosen, die von Sozialhilfe leben, durch die Arbeitsämter nicht die notwendige Unterstützung erhalten, da sie nicht der Bundesanstalt für Arbeit, sondern den Kommunen auf der Tasche liegen. Aber die drastischen Sanktionen des Leistungsentzugs bis in das Sozialhilferecht auszudehnen ist nicht mit den Prinzipien der Vergabe sozialer Leistungen für einkommensarme Familien zu vereinbaren. Für die mangelnde Leistungsbereitschaft eines Familienvorstandes würde dann in einer Art Sippenhaftung die ganze Familie mit Einschränkungen sanktioniert. Da sich Sozialhilfe auf die finanzielle Situation von Haushalten bezieht, bleibt zu fragen, warum Kindern materielle und soziale Härten zugemutet werden, um ihre Eltern zur Arbeit zu zwingen. Sozialhilfe muss auf Lebenslagen der Bedürftigkeit reagieren. Wo sie zur Sozialdisziplinierung eingesetzt wird, packt sie ein unzweifelhaft vorhandenes Problem am falschen Ende an. Dass nur eine gezielte Zusammenarbeit von Sozial- und Arbeitsämtern Exklusionskarrieren durchbrechen und zur mittelfristigen Arbeitsmarktintegration beitragen kann, ist inzwischen erkannt worden. Das Mainzer Modell hat gezeigt, dass es flankierende Maßnahmen zur Familienförderung braucht, um Sozialhilfeempfängern mit Kindern eine Perspektive im ersten Arbeitsmarkt zu geben.
Auch im Rahmen ökonomischer Verhaltensmodelle ist eine Leistungsabsenkung nicht notwendigerweise positiv zu beurteilen. Die ökonomische Suchtheorie stellt einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeitsunterstützung und dem Angebotsverhalten auf dem Markt her. Den Kern bildet hier die schon erwähnte kausale Annahme, dass die Kargheit sozialstaatlicher Unterstützung auf das Arbeitsangebot wirkt; d.h der individuelle Anreiz, eine Arbeit anzunehmen, ist dann besonders groß, wenn der Abstand zwischen den Transferzahlungen und dem erzielbaren Markteinkommen besonders groß ist. Darüber hinaus geht ein solches Erklärungsmodell davon aus, dass Menschen die Entscheidung darüber, ob sie eine Arbeit annehmen sollten, auch im Hin-blick auf die Frage treffen, ob in absehbarer Zeit die Wahrscheinlichkeit besteht, ein besseres Angebot zu bekommen. Sie überlegen sich also, was die geringste Jobqualität (Lohn, Sicherheit, Entwicklungsmöglichkeiten) ist, die sie zu akzeptieren bereit sind. Die Suchtheorie sagt nun, dass bei höherer Arbeitslosigkeitsunterstützung — dem so genannten Reservationslohn (reservation wage) — auch die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass die Menschen das untere Jobsegment ignorieren. Dies impliziert, dass die Arbeitsmarktplatzierung hinsichtlich qualifikationsadäquater Beschäftigung, nachfolgender Beschäftigungsstabilität und Entlohnung besser wird (Gangl 2001). Damit sind wohlfahrtsstaatliche Leistungen für Arbeitlose im bestem Sinne ,humankapitalerhaltend‘ und wirken positiv auf die Stabilisierung von Berufsverläufen.

Der diskrete Charme positiver Anreize

Mit etwas Distanz kommt man leicht zu der Erkenntnis, dass es sich bei den ,Arbeitsverweigerern‘ um ein marginales und primär medial hochstilisiertes Phänomen handelt. Die moralische Entrüstung derer, die die protestantische Arbeitsethik hochhalten, mag nachvollziehbar sein. Als politisches Konzept zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ist sie allerdings untauglich. Die sozialregulative Logik von Arbeitslosigkeit verlangt mehr als das Mutmaßen über die Motive und Motivationen einiger weniger.
Die von den Arbeitslosen erwarteten Anstrengungen für eine Rückkehr ins Erwerbsleben brauchen in erster Instanz Unterstützung, nicht etwa Sanktionen. Die immer wieder aufbrandende Diskussion um die Höhe der Unterstützungsleistungen scheint ebenfalls nicht viel mehr als Spiegelfechterei. Die Beteiligung am Erwerbsleben ist ein Wert an sich und steht und fällt nicht wie ein Wasserstandsmelder mit der Höhe der Bezüge. Durch die gegenwärtige Praxis ist sowohl das Lohnabstandsgebot als auch die Aufrechterhaltung des Lebensstandards garantiert. So gesehen rüttelt die angestoßene Diskussion nicht wirklich an der Tür, hinter der Lösungen zu vermuten sind. Sie offenbart vielmehr ein Dilemma, das die fortbestehende Fixierung auf die arbeitsgesellschaftliche Verfasstheit mit sich bringt: Nämlich dass Erwerbsarbeit weiterhin der wichtigste Zugang zu gesellschaftlichen Gütern darstellt, sie aber gleichzeitig nicht für alle zu erlangen (oder zu behalten) ist. Statt über den unbestreitbaren Mangel an Arbeitsplätzen diskutiert man auf einem Nebenschauplatz: dem vermuteten Mangel an Arbeitsbereitschaft.
Das ,Fordern und Fördern‘ von Arbeitslosen ist auch ohne Drohgebärde und Sanktionsrhetorik möglich. Erfolg versprechend (wenn auch kein Allheilmittel) ist das im neuen Job-Aqtiv-Gesetz vorgesehene ,Fallmanagement‘. Dabei erstellt der Berater des Arbeitsamtes mit dem Arbeitslosen ein so genanntes ,Profiling`, das eine maßgeschneiderte Vermittlung und Förderung ermöglichen soll. Auf Grundlage dessen wird eine Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen. Das ermöglicht einerseits passgerechte Vermittlung, andererseits erhöht es die Verbindlichkeit zwischen dem Arbeitsamt und dem Arbeitslosen und gibt Legitimation für Leistungskürzungen, sollte eine entsprechende Arbeit abgelehnt werden. Ziel ist es, eine kooperative Orientierung auf Grundlage eines gemeinsamen Handlungsplans zu erreichen. Wenn die Hoffnungen dieses Ansatzes aufgehen, könnte man das lautlose, fast unbemerkte Übergleiten von Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit effektiver bekämpfen. Empfohlen wird gleichfalls eine pragmatischere Gestaltung von Sanktionen im Falle der Nichtkooperation (vgl. Oschmiansky et al. 2001). Gleichzeitig sollten die Arbeitslosen einen größeren Spielraum erhalten, sich selbst für geeignete Maßnahmen entscheiden zu können. Der Rechtsanspruch auf private Vermittlung ist ein erster Schritt dahin. Die von Florian Gerster angekündigten Reformen deuten gleichfalls an, dass der Dienstleistungscharakter der Bundesanstalt für Arbeit zukünftig erhöht wird. Größere Flexibilität wünscht man sich auch in den Fällen, wo sich Familien in einer Armutsfalle gefangen sehen, weil eine Rückkehr des Ernährers ins Erwerbsleben weniger Familieneinkommen bedeutet als jenes, das über Arbeits- und Sozialämter bezogen wird. Hier sind Regelungen wie der ,Kombilohn‘ wünschenswert. Diese böten einen Anreiz für Arbeitslose, Arbeit im Niedriglohnsektor anzunehmen. Man schätzt, dass die Hälfte der 550.000 offenen Stellen in Deutschland für Nichtfacharbeiter sind. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass die Modellversuche mit dem Kombilohn, also die Auszahlung von Lohnsubventionen für gering bezahlte Tätigkeiten, keine überwältigenden Resultate zeitigten. Für eine umgrenzte Gruppe dauerhaft Ausgegliederter und qualifikationsarmer Menschen kann ein solcher Ansatz eine Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen, eine flächendeckende Lösung für das Arbeitslosigkeitsproblem ist es mit Sicherheit nicht.
Seit die Inpflichtnahme der Arbeitslosen in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit gerückt ist, sind andere Themen in Vergessenheit geraten. Man muss sich dennoch grundlegend darüber verständigen, wie das Verhältnis zwischen den Arbeitslosen und den Beschäftigten zu regeln ist. Wie geht eine Arbeitsgesellschaft mit einer wachsenden Zahl an ausgegliederten Menschen um? Will und braucht man für diese Menschen lebensstandardsichernde Unterstützungsleistungen oberhalb des Auffangnetzes der Sozialhilfe? Welches solidarische Band kann zwischen den Erfolgreichen des Marktes und den Modernisierungverlierem gezogen werden? Kaum noch diskutiert wird über die aufklaffenden Sicherungslücken und die veränderten Gegebenheiten, mit denen die Arbeitslosenversicherung umgehen muss. Nachholbedarf gibt es angesichts zunehmender Flexibilisierung und Destandardisierung. Ein immer größer werdender Teil von diskontinuierlich und atypisch Beschäftigten fällt einfach durchs Raster. Die ,neuen Selbständigen‘ etwa haben kaum Sicherheitsgewinne und sehen sich außen vor. Auch hier braucht es innovative Anstöße, die über das traditionelle und überlebte arbeitsgesellschaftliche Modell hinausgehen. Eine Remoralisierung von Arbeitslosigkeit kann dieses Umdenken aber mit Sicherheit nicht bewirken.

Literatur
Atkinson, Anthony. B./Mogensen, Gunnar Viby (Hgg.) 1993: Welfare and Work Incentives. A North European Perspective, Oxford
Gallie, Duncan/Vogler, Carolyn 1994: Unemployment and Attitudes to Work; in: Duncan Gallie/Cathie Mazsh/Cazolyn Vogler (Hgg.) Social Change and the Experience of Unemployment, Oxford, S.115-153
Gangl, Markus 2001: Welfare State Stabilization of Employment Careers. Unemployment Benefits and Job Histories in the United States and West Germany. MS. November 2001
Hamann, Silke et al. 2001: Entsolidarisierung? Leistungen für Arbeitslose im Urteil von Erwerbstätigen; Frankfurt/Main
Liebig, Stefan/Mau, Steffen 2002: Einstellungen zur sozialen Mindestsicherung. Ein Vorschlag zur differenzierten Erfassung normativer Urteile; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg. 54, Heft 1, S. 109-134
Lindbeck, Assar 1994: Welfare State Disincentives with endogenous Habits and Norms. Institute for International Economic Studies; Stockholm University Seminar Paper Nr. 589
Marmor, Tes et al. 1990: America’s Misunderstood Welfare State. Persistent Myth, Enduring Realities, New York
Murray, Charles 1984: Losing Ground: American Policy 1950-1980, New York
Oschmiansky, Frank et al. 2001: Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen einer Debatte;
Wissenschaftszentrum Berlin, Working Paper FSI 01 -206
Salow, Robert M. 1998: Work and Welfare, 1997-1998 Tanner Lectures in Human Values, Hg. von Amy Gutman; The Princeton University Center for Human Values: Princeton NJ.

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