Die Bildungschipkarte das Geheimnis des schwedischen Sozialstaates? Über Kartenversuche in Schweden, Stuttgart und Berlin
Ursula von der Leyen ist nicht die erste, die auf die Idee kam, Sozialleistungen nur noch gegen Chipkarten zu verteilen. Um für ihr Vorhaben zu werben, verweist die Ministerin gern auf vermeintliche Modellprojekte. Einige der von ihr benannten Modelle passen jedoch gar nicht zur Hartz-IV-Kinderkarte. Zu einem realistischen Vorbild allerdings schweigt die Ministerin: Es kommt aus Berlin, aber wurde bereits vor Jahren wieder abgeschafft. Das System stellte sich als ineffizient und teuer heraus.
Schwedens ‚geheimes‘ Chip-Karten-Gutschein-Modell
Zur Unterstützung ihrer Idee einer Bildungskarte zog Bundesministerin von der Leyen zunächst ein Chipkarten-Gutschein-Modell heran, welches nach ihren Angaben bereits seit 10 Jahren erfolgreich in Schweden im Einsatz sei. Leider erweisen sich alle Recherchen diesbezüglich als vergeblich, da ein solches Chipkarten-Modell in Schweden nicht bekannt ist. So gelang es einem Korrespondenten der Frankfurter Rundschau weder bei dort ansässigen Familien, der schwedischen Sozialbehörde, noch beim Stockholmer Sozialamt über ein derartiges Modell Informationen zu erhalten. Selbst bei der schwedischen Botschaft fragte man sich „wovon von der Leyen eigentlich spricht„.
Das Stuttgarter ‚Vorzeigemodell‘ – die FamilienCard
Nachdem die schwedische Schützenhilfe für die Bildungskarte damit wohl ausfällt, wandte die Ministerin ihren Blick nach Stuttgart. Dort gibt es seit 2001 die sogenannte FamilienCard, eine „elektronische Geldbörse für Kultur, Sport und Bildung“. Sie wird allen Familien mit Kindern unter 16 Jahren angeboten, deren Bruttoeinkünfte 60.000 Euro im Jahr nicht übersteigen, sowie Familien mit vier und mehr Kindern unabhängig von der Höhe ihres Einkommens. Es wird erwartet, dass für das laufende Jahr 2010 ca. 46.000 Karten beantragt werden.
Die Karte umfasst laut einer Infobroschüre des Stuttgarter Sozialamts zwei Leistungen: Zum einen ein Guthaben von 60 Euro jährlich pro Kind/Jugendlichem, das für ausgewählte Angebote von FamilienCard-Partnern verwendet werden kann. Dieser Betrag ist auf einem elektronischen Chip gespeichert und kann über Leseterminals bei den jeweiligen Akzeptanzstellen (an 240 Terminals) abgebucht werden. Zum anderen gibt es auch noch Ermäßigungen in Höhe von 20 Prozent auf die Gebühren der Musikschule und auf die Elternbeiträge der Stadtranderholung (Waldheime). (s. Internetseiten der Stadt Stuttgart)
Dieses System möchte die Bundesministerin für Arbeit und Soziales nun auf ca. 1,7 Millionen Kinder in Hartz-IV-Familien anwenden. Allerdings ist das Stuttgarter Modell nicht mit der von der Bundesarbeitsministerin geplanten Bildungskarte vergleichbar.
Die Stuttgarter FamilienCard erfährt in der Öffentlichkeit eine überwiegend positive Resonanz. Diese erklärt sich aber vor allem daraus, dass es sich bei der FamilienCard um ein freiwilliges, zusätzliches Angebot handelt, das eher einem Rabattmarkenheft als einer Karte zur Abwicklung wichtiger Alltagsbedürfnisse von Kindern gleichkommt. Die Stuttgarter Karte kann somit nicht als Indikator für eine mögliche Wirkung der geplanten Bildungskarte herangezogen werden.
Die hohe Akzeptanz schlägt sich auch in der faktischen Nutzung der FamilienCard nieder. Die Statistiken aus Stuttgart zeigen vor allem, dass die Karte relativ einseitig genutzt wird: So sind es vor allem Schwimmbad- und Zoobesuche und weniger Musikschule, Nachhilfe oder Sportvereine, wofür das auf der Karte gespeicherte Guthaben genutzt wird. Gerade aber Sportvereine, Musikbildung und Nachhilfe sind die Dinge, welche das BMAS mittels der Bildungskarte fördern möchte.
Rein theoretisch lässt sich natürlich vieles über die Karte steuern. Der Chip ist unterteilt in „Geldbörsen“, womit sich Abbuchungen regulieren lassen. Unklar ist dabei jedoch, wie ein solches System bundesweit geregelt und gesteuert werden soll und kann – bei einer äußerst ungleichen Verteilung von Kindern aus Hartz-IV-Familien, Vereinen und sonstigen Kultur- und Bildungsangeboten. Wenn es keine Musikschulen und Fußballvereine vor Ort gibt, dann hilft auch ein noch so ausgeklügeltes Kartensystem den Kindern nicht weiter.
Faktisch wird die Umsetzung des hochkomplexen Projekts ‚Bildungspaket‘, das dem jeweiligen Ort entsprechen, den dort zur Verfügung stehenden Angeboten und den Bedürfnissen der Kinder angemessen sein muss, kein ‚Kinderspiel‘ werden. Das gilt insbesondere dann, wenn man auf ein Medium setzt, für das bislang keine Infrastruktur vorhanden ist. So dauerte es auch in Stuttgart längere Zeit, bis ein ‚reibungsloser Ablauf‘ gewährleistet werden konnte. Selbst heute existiert dort, wie aus einer Broschüre des Stuttgarter Sozialamts hervorgeht, keine einheitliche Infrastruktur und kein einheitliches Verfahren für die Abbuchungen. Und auch in Bezug auf die Mitgliederbeiträge der beteiligten Vereine scheint die technisch-bürokratische Abwicklung eher Verwirrung und Komplikation hervorzurufen.
Daneben stellt sich natürlich auch noch die Frage der Finanzierbarkeit eines solchen Kartensystems. Hierzu liefert das Stuttgarter Beispiel einige lehrreiche Daten: In Stuttgart ließ man sich die FamilienCard laut Financial Times Deutschland „2009 rund 3,7 Mio. Euro kosten – plus 150.000 Euro für die Verwaltung.“ Damit betragen alleine die Verwaltungskosten etwa 4 Prozent der Gesamtfördersumme – Geld, das den Kindern zugute kommen könnte. Dabei sind die Ausgaben für die Einrichtung der für ein solches System benötigten Infrastruktur (neben Kartenlesegeräten: Personal zur Betreuung und ‚Vernetzung‘, Verwaltungskosten, etc.) sowie ggf. zu zahlende Provisionen noch nicht in Gänze berücksichtigt.
Berlin – Anfang oder Ende der Chipkartenversuche?
Bevor nun das hochgelobte Stuttgarter Modell nach Berlin geholt und von dort aus in ganz Deutschland verbreitet werden soll, lohnt sich noch ein Blick in die Berliner Vergangenheit. Auch hier gab es bereits ein Chipkartensystem, das wie die Stuttgarter FamilienCard von Sodexo Motivationslösungen (bis 2008 Sodexho) bereitgestellt und betreut wurde.
Dass die Firma Sodexo die geplante neue Bildungskarte befürwortet, wird niemanden verwundern, handelt es sich bei dem geplanten Bildungspaket für sie doch um ein profitables Geschäft. Ein Geschäft ähnlich der 1998 für Asylbewerber in Berlin eingeführten Chipkarte, die jedoch bereits 2003 wieder abgeschafft wurde, u.a. weil sie sich für den Berliner Senat als nicht profitabel erwies. Mit der Abschaffung der Berliner Chipkarte konnte das Land nach Angaben der zuständigen Sozialsenatorin jährlich 60.000 Euro Provision (für gerade mal 2.700 Asylbewerber) einsparen, die sonst an die Chipkartenfirma fällig geworden wären.
Das Geschäftsmodell der Berliner Chipkarte wird von der Initiative gegen das Chipkartensystem folgendermaßen beschrieben: „Die Ämter mieten Chipkartenaufladegeräte bei Sodexho, ebenso die Läden die dazugehörigen Lesegeräte. Sodexho verfügt über eine zentrale Datenerfassungsstelle, an der alle Daten gesammelt und an die Sozialämter weitergeleitet werden. Die Sozialämter müssen 1,5% der ausgezahlten Sozialhilfe an Sodexho zahlen, Senat und Bezirke zahlen noch einmal 1,5% des Umsatzes.“ (Chipkartenini)
Dabei wird schnell klar, „dass die Chipkarten nicht etwa aus Gründen der Kostenersparnis eingeführt wurden. Bargeldauszahlung […] ist wesentlich billiger und weniger verwaltungsintensiv.“ (ebd.) Dasselbe gilt mit ziemlicher Sicherheit für das geplante Bildungskarten-System, bei welchem Sodexo wieder als ein potentieller Partner gesehen werden kann.
Das in Berlin eingesetzte Kartensystem für Asylsuchende kommt schon aufgrund seines ‚Partizipationszwangs‘ (im Gegensatz zur Stuttgarter Freiwilligkeit), dem geplanten Bildungskarten-Modell deutlich näher als die FamilienCard. Ohne Zweifel stellt die Berliner ‚Asyl-Karte‘ ein Vorläufermodell der von Ministerin von der Leyen geplanten Bildungskarte dar. Gleichermaßen ist sie auch ein warnendes Beispiel, denn neben den hohen Kosten und dem Verwaltungsaufwand waren mit dem gescheiterten Versuch noch weitere Probleme verbunden, die nun auch mit der Bildungskarte drohen könnten:
- Die Einführung der Chipkarten für Asylsuchende war vom Gedanken der Abschreckung und der Kontrolle getragen, was auf der politischen Bühne immer wieder offen geäußert wurde (s. Dokumentation der Chipkartenini). Solche Gedanken dürften auch bei der Einführung der Bildungskarte für Hartz-IV-Empfänger in den Hinterköpfen mancher Politiker mitschwingen.
- Daneben war das Chipkartensystem für Asylsuchende durch vielfältige Restriktionen, Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit und in die Privatsphäre, Stigmatisierung und Entmündigung geprägt. So galten die Karten z.B. nur für bestimmte Geschäfte und schlossen den Kauf von Produkten wie Alkohol oder Blumen aus. Diese Aspekte finden sich etwa in der aktuellen Debatte um die Streichung von Alkohol oder Zigaretten aus dem Regelsatz wieder.
- Mit der Berliner Chipkarte für Asylbewerber wurde außerdem die Möglichkeit einer „elektronischen Überwachung der Flüchtlinge“ geschaffen. Die Initiative gegen das Chipkartensystem hebt dies zu Recht als eine Besonderheit gegenüber Gutscheinmodellen hervor. Die gesammelten Daten erlaubten es, Einkaufsprofile der Karteninhaber zu erstellen und deren Einkaufsverhalten zu kontrollieren. Ebenso könnte mit einer Bildungskarte das Lern- und Freizeitverhalten der Kinder überwacht und kontrolliert werden.