Themen / Sozialpolitik

Die neokon­ser­va­tive Konstel­la­tion der Sozial­staats­kritik

29. September 1986

aus vorgänge Nr. 83 (Heft 5/1986), S. 83-89

Sozialpolitik betrifft gesellschaftliche Grundsatzfragen. Sie interveniert in den marktwirtschaftlich-engen Zusammenhang von Arbeitsleistung und Existenzsicherung und lockert ihn (vgl. Vobruba 1983; 1985). Soziale Sicherung ist das Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte: (Präventive) Reaktion auf die Auflehnung der Nicht-Produktionsmittelbesitzer gegen die Spielregeln des (Arbeits-)Marktes, bei denen sie stets verlieren mußten. Soziale Sicherung ist ebenso selbst Konfliktfeld: Die Angriffe auf sie begleiteten ihre Entwicklung von Anfang an. Politische Änderungen in Bereichen solcher gesellschaftspolitischer Grundsätzlichkeit wie Sozialpolitik kündigen sich lange an, ehe sie Realität werden. Das heißt: Erst wird durch Entwicklung und Etablierung neuer Interpretationen das Feld vorbereitet. Darin sehe ich die politische Bedeutsamkeit der Sozialstaatskritik. Ohne ein Verständnis von ihrer Entwicklung seit den 70er Jahren kann man auch die aktuellen sozialpolitischen Auseinandersetzungen in den 80er Jahren nicht begreifen.

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Zu den dramatischsten Entwicklungen in der Politik des letzten Jahrzehnts gehört,  daß die Sozialdemokratie auf einem ihrer ureigensten Felder (vgl. Strasser 1979), der Sozialpolitik, geschlagen wurde. Der sozialdemokratische Kompetenzverlust in Sachen Sozialpolitik rührt aus zwei Quellen: Zum einen hatte man sich auf monetäre, zentralistisch organisierte Kompensationsleistungen konzentriert; zum anderen hatte man Sozialpolitik auf Wirtschaftswachstum als selbstverständliche Grundlage gestellt. Konsequenz davon waren einerseits eine geringe Sensibilität für differenzierte Bedürfnisse und Schwierigkeiten im Umgang mit der Selbsthilfe-Offensive Ende der 70er Jahre, die programmatisch zwischen kollektiven Hilfsformen und illusionärem Individualismus schillerte (vgl. kritisch Windhoff-Heritier 1982; Gross 1982; Olk, Heinze 1985; Neusüss 1980). Konsequenz war andererseits die schlechte Fachtrennung von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik, die angesichts reduzierten Wirtschaftswachstums und verengter Verteilungsspielräume Sozialpolitiker und Wirtschaftspolitiker zueinander in Gegensatz bringen mußte.
Wie groß das Defizit an neuen sozialpolitischen Gestaltungsideen war, läßt sich an  der Attraktivität ablesen, die das Konzept der Neuen Sozialen Frage hatte (vgl. Geißler 1976). Die Grundidee von Geißler und diversen Mitarbeitern ist einfach: Die Hauptfront im Verteilungskampf verläuft nicht mehr zwischen Lohnarbeit und Kapital, sondern zwischen Organisierten und Nicht-Organisationsfähigen. »Niemand ist heutzutage arm, weil er Arbeiter ist«. Denn: »Mächtig sind Kapitaleigner und Arbeitnehmer zusammen« (Geißler 76: 15). Die Neue Soziale Frage stelle sich daher bei den Nicht-Organisierten, sie betrifft »ältere Arbeitnehmer, Gastarbeiter, Frauen innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt, Behinderte, Schüler und Nichterwerbstätige« (Dettling 1982: 14).
Das Konzept der Neuen Sozialen Frage war kaum mehr als eine arg verspätete Rezeption der Disparitätenthese (vgl. Offe 1969); eher sogar noch weniger: Während  die Disparitätenthese darauf insistiert, die neuen Problemlagen als neue Ausdrucksformen der alten problemerzeugenden Struktur »Klassengesellschaft« zu begreifen, schneidet das Konzept der Neuen Sozialen Frage genau diesen Zusammenhang ab: »Unsere Gesellschaft hat sich zu einer Arbeitnehmergesellschaft gewandelt« (Dettling 1982: 7). Die klassentheoretische Analyse obsolet erscheinen zu lassen, war freilich nur ein Nebeneffekt des Konzepts der Neuen Sozialen Frage. Ihr Hauptziel war, den traditionellen sozialpolitischen Kompetenzvorsprung der Sozialdemokratie aufzuholen. Dieses Ziel wurde, noch in der Zeit der CDU-Opposition, erreicht. Das Konzept der Neuen Sozialen Frage wurde breit diskutiert. Schätzungen hoher Armutszahlen — sechs Millionen Arme — machten die Runde. Die Sozialdemokraten gerieten in die für sie bis dahin ungewohnte Rolle, sozialpolitisch abwiegeln zu müssen.
Damals schon (vgl. Greven 1980), und erst recht seit dem Bonner Regierungswechsel  im Herbst 1982, ist betont worden, daß dem Konzept der Neuen Sozialen Frage keine entsprechende sozialpolitische Praxis folgen werde. In der Tat war es ein Oppositionskonzept und nur ein Oppositionskonzept. Aber darauf kommt es hinsichtlich der Thematisierungsleistung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage nicht an. Entscheidend ist, daß damit die regierende Sozialdemokratie in die sozialpolitische Programm-Defensive geriet. Mit der Etablierung der Neuen Sozialen Frage als sozialpolitischem Denkmuster gelang eine folgenreiche Verschiebung der öffentlichen Ansichten über die Kompetenz der sozialpolitischen Akteure.

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Parallel dazu entwickelte sich ein zweiter Strang der Kritik: Die Kritik an der Monetarisierung, Verrechtlichung, Bürokratisierung und Zentralisierung der Sozialpolitik  (vgl. Achinger, 1971; Tennstedt 1976). Diese — eher von links intendierte — Richtung der Kritik wurde unter das Stichwort »Entfremdung im Wohlfahrtsstaat« neokonservativ adaptiert.
Bundeskanzler Kohl: »Wenn wir den alten Weg gedankenlos weitergehen, stürzen wir den Menschen in die Entfremdung eines anonymen, bürokratischen Wohlfahrtsstaates, kaum daß wir ihn durch die soziale Marktwirtschaft aus der Entfremdung des Kapitalismus befreit haben« (Regierungserklärung 13.10.1982). Der Argumentationsmodus ist der gleiche wie bei der Neuen Sozialen Frage: Gesellschaftspolitische Problemdiagnosen werden aus ihrem Kontext gelöst, der Kontext wird, analytisch und praktisch, als historisch überholt dargestellt, und die Diagnosen werden (neo-)konservativ vereinnahmt.
Die Kritik an der »Entfremdung im Wohlfahrtsstaat« operiert mit einer gezielten  Verwechslung. Sie nimmt das durchaus verbreitete Unbehagen an verkrusteten Formen sozialstaatlicher Dienstleistungen auf und versucht, es gegen den Wohlfahrtsstaat insgesamt, insbesondere aber gegen Geldleistungen, zu wenden.

Der Abbau von Monetarisierung, Verrechtlichung, Bürokratisierung etc. bedeutet aber je nach Problemfeld höchst Unterschiedliches: Kann er im Bereich sozialer Dienstleistungen tatsächlich Vermenschlichung und bessere Problemangemessenheit bedeuten, so bedeutet er im Bereich von Transferleistungen den Verlust von Berechenbarkeit, von Rechtssicherheit, von Rechtsansprüchen. Noch dazu wurde und wird in der Diskussion geflissentlich übersehen, daß sich Verrechtlichung und Bürokratisierung im Bereich der Sozialtransfers gegensinnig entwickeln: Mehr Verrechtlichung — im Sinne des Einräumens strikter Rechtsansprüche (vgl. Vobruba 1983a) — bedeutet weniger Bürokratisierung. Denn je strikter ein Rechtsanspruch ist, umso leichter ist er implementierbar. Umgekehrt: Je weiter die bürokratischen Ermessensspielräume sind, umso mehr wird die Position der Bürokratie gestärkt, umso weniger strikt ist der Rechtsanspruch. Die neokonservative Behandlung von Verrechtlichung und Bürokratisierung als gleichsinnige Phänomene leistet also zweierlei. Sie bereitet zugleich die Zurückdrängung von Rechtsansprüchen auf sozialstaatliche Leistungen und »eine neue Morgenröte des Beamtentums« vor (Fach 1981: 108). »Der Wert eines Rechtsanspruchs besteht vor allem in der freien und sicheren Stellung, die der Anspruchsberechtigte gegenüber der gewährenden Verwaltung hat« (Bogs 1969: 58). Dies wird in einem schwärmerischen Verständnis von Sozialpolitik, welche den Einzelfall als Einzelfall nehmen und auf die Schematismen des Rechts möglichst verzichten will, vergessen. Die Bedeutung von Rechtsansprüchen wird durch die Vermischung der Problematiken von Dienstleistungen und Transferleistungen verdeckt. Unzulänglichkeiten rechtsförmig-schematisierender Regelungen im Bereich sozialer Dienstleistungen haben ein »verwertbares Unbehagen« (Klönne 1984: 478) entstehen lassen, welches die neokonservative Sozialstaatskritik auf den Wohlfahrtsstaat insgesamt zu lenken trachtet. Dabei ist ein Gleichklang mit sozial-romantischen Vorstellungen bei einigen Randfiguren der Grünen nicht zu überhören. Das Verschwinden der Unterschiede von Transferleistungen und Dienstleistungen sowie von Verrechtlichung und Bürokratisierung führen im Ergebnis dazu, daß Geld und Recht als dominante Medien sozialstaatlicher Leistungserbringung diskreditiert werden.

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Direkter  wird der Bereich materieller Transfers — um den sich die Verteilungskonflikte ja zentral drehen — mit dem Mißbrauchsvorwurf attackiert. Damit wird unmittelbar Politik gemacht. Schon die SPD/FDP-Regierung »begründete die starken Kürzungen 1981 ausdrücklich damit, daß Mißbrauchsmöglichkeiten wirksamer bekämpft und die Anforderungen an die Selbstverantwortung erhöht werden« (Bieback 1984: 259; inneres Zitat: BT-Drucksache 9/842.5.1). In dieselbe Richtung zielt Helmut Kohls Verweis auf »jene Geschickten, die es in zum Teil kenntnisreicher Ausnutzung von Verordnungen und Gesetzen fertigbringen, Jahr für Jahr auf Kosten der anderen zu leben« (Kohl 1983: 177).

Das Muster des Mißbrauchsvorwurfs ähnelt dem der Entfremdungskritik: Es wird  an Phänomene, die in Teilbereichen möglich sind, angeknüpft und dann unbesehen verallgemeinert. Mißbrauch wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ist nur dort möglich, wo die Zugangsvoraussetzungen zu den Leistungen nicht eindeutig objektivierbar und der Zugang daher nicht strikt administrativ kontrollierbar ist. Dies ist dort der Fall, wo die Vergabe von sozialstaatlichen Leistungen an subjektseitige Befindlichkeiten geknüpft ist: Bei der Arbeitslosenversicherung ist das die Arbeitsbereitschaft, bei der Krankenversicherung das »Sich-krank-fühlen«. Konsequent wird die Möglichkeit des Mißbrauchs immer wieder (vgl. Herder-Dorneich 1982: 80) an diesen beiden Beispielen dargestellt, ohne daß man sich die Mühe macht, die Verallgemeinerbarkeit dieser Beispiele seriös zu prüfen. »Der Schadensfall einer Krankheit wird zum finanziellen Glücksfall und dürfte in zahlreichen, wenn nicht der Mehrzahl der Fälle, vorgetäuscht sein« (Engels 1979: 28). Und: »Die Ausbeutung der Arbeitslosenversicherung durch die Versicherten schreitet schnell voran« (ebd.).
In der Tat weisen die Versicherungstatbestände Krankheit und Arbeitslosigkeit eine  (durchaus dem Arbeitsvertrag vergleichbare — vgl. Berger, Offe 1982) Unbestimmtheitslücke auf, an der beides ansetzen kann: Mißbrauch und Mißbrauch des Mißbrauchsverdachts. Man muß nun durchaus nicht bestreiten, daß es Mißbrauch wohlfahrtsstaatlicher Leistungen gibt. Aber man sollte die Dimensionen zurechtrücken:

  • Fraglich ist, ob nicht viel mehr Berechtigte auf Leistungen verzichten als Unberechtigte Leistungen in Anspruch nehmen (vgl. Hartmann 1985).
  • Fraglich ist, ob nicht der Mißbrauch des Mißbrauchsverdachts ein größeres Problem darstellt als der Mißbrauch selbst. Hinter dieser Vermutung steckt eine einfache Überlegung. Konservativen Analytikern ist darin recht zu geben, daß Versicherungssysteme mit Zwangsmitgliedschaft zu »Ausbeutungsstrategien« durch die Zwangsmitglieder stimulieren (vgl. Herder-Dorneich 1982). Solche Strategien radikaler individueller Interessenverfolgung beim einzelnen sind umso wahrscheinlicher, je eher er annehmen muß, daß die anderen sich ohnehin so verhalten. Eben diese Ansicht aber wird durch das empirisch unkontrollierte Verbreiten des Mißbrauchsverdachts befördert. Kommen noch Beitragserhöhungen hinzu, die von den dadurch Belasteten auf die — angeblichen oder realen — Mißbraucher ursächlich zurückgeführt werden, so verfestigt sich eine Spirale von individuellen Ausbeutungsstrategien, Auszehrung des Versicherungsfonds und Beitragserhöhungen nach dem Muster der »selffulfilling prophecy«. Mit dem Verbreiten — fast wollte man sagen: Propagieren — des empirisch unkontrollierten Mißbrauchsverdachtes riskieren die Biedermänner der Sozialstaatskritik, zu Brandstiftern am Sozialstaat zu werden.

Funktion der Verbreitung des Mißbrauchsvorwurfs ist es nicht, schlicht Sozial-Spar strategien ideologisch abzudecken. Ihr Sinn ist vielmehr vorerst, Interessenspaltungen zu befördern. Beispielhaft dazu Norbert Blüm: »Wenn fast jeder einen kennt, der Arbeitslosigkeit als Paradies preist, weil es ihm angeblich noch nie so gut gegangen ist, liegt das wahrscheinlich gerade an der psychologischen Last der Arbeitslosigkeit: Um ihr Elend zu übertünchen, prahlen Arbeitslose an Theken und in der Verwandtschaft, wie gut es ihnen geht. Für sie kommt nach der Prahlerei wieder dei Katzenjammer. Aber der Zuhörer, der Arbeitslosigkeit wie Krebs fürchtet, nimmt es für bare Münze und verbreitet weiter: Ich kenne da einen… So entstand das Märchen, Arbeitslose seien in Wirklichkeit arbeitsscheu, denn in unserer Gesellschaft könne jeder, der arbeiten wolle, auch Arbeit finden« (Blüm 1983: 51). Solch eindrucksvollem Werben um Verständnis für die Situation einer Gruppe steht Blüms Verdikt einer anderen Gruppe schroff gegenüber: »Aber ist es nicht eine moderne Form von Ausbeutung, sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen, alternativ vor sich hin zu leben im Wissen, daß eine Sozialhilfe, von Arbeitergroschen finanziert, im Notfall für Lebensunterhalt zur Verfügung steht?« (Blüm 1983: 9)

Problematisch ist an dieser Unterscheidung nicht nur, daß dabei ja offenbleibt, wer  im konkreten Fall welcher Gruppe zugeordnet wird. Problematisch ist die Unterscheidung selbst. Sie steht in der langen Tradition des Dualismus von »würdigen« und »unwürdigen« Armen (vgl. Leibfried, Tennstedt 1985) und befördert eine Parzellierung der Gesamtheit der Sozialstaats-Klientel, auf deren Grundlage Sozial-Sparstrategien erst nachhaltig Erfolg haben können.

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Mit dem Mißbrauchsvorwurf und — noch wichtiger — der Etablierung von Modellen wohlfahrtsstaatsimmanenter Anspruchsdynamiken (vgl. Klages 1981; Luhmann 1983) verbindet sich zugleich eine Thematisierungs- und eine Dethematisierungsleistung, die für neokonservative Sozialpolitik konstruktiv ist: Die Thematisierungsleistung besteht darin, die Ursachen der gegenwärtigen Probleme sozialer Sicherung als »hausgemacht«, also: endogen erzeugt, zu präsentieren. Die Dethematisierungsleistung besteht — komplementär — darin, die Abhängigkeit des Systems sozialer Sicherung von vorgelagerten Politikfeldern auszublenden: vor allem von der Beschäftigungspolitik und der Arbeitszeitpolitik, die auf das System sozialer Sicherung mehr oder weniger Probleme zukommen lassen können bzw. von der Finanzpolitik, die das System auf mehr oder weniger solide Grundlagen stellen kann. Damit werden Ambivalenzen im politischen Gebrauch des Begriffs »Krise des Sozialstaats« einsehbar. In der — vielleicht — wohlmeinenden Absicht, für sozialstaatliche Probleme zu sensibilisieren, droht auch hier die Gefahr der geschilderten Thematisierungs-/Dethematisierungseffekte. Denn die Rede von der »Krise des Sozialstaats« legt eine interne Verursachung zumindest sehr nahe. Nun kann man diesen Fall freilich nicht a priori ausschließen. Aber man sollte den begrifflichen Rahmen so wählen, daß man den Anteil von »außen erzeugten« und »hausgemachten« Problemen richtig gewichten kann. Dazu scheint es mir sinnvoll, vom Allgemeineren zum Spezielleren vorzudringen. Also: Erst einmal die Auswirkungen von dem System sozialer Sicherung vorgelagerten Politiken auf das System zu untersuchen und dann nach Binnenproblemen zu forschen. Terminologisch läuft das darauf hinaus, erst einmal vom Sozialstaat in der Krise und dann von der Krise des Sozialstaats zu sprechen.

Die Praxis der Sozialpolitik der letzten Jahre jedenfalls trifft diese Unterscheidung nicht. Sie geht — eher implizit — von »hausgemachten« Problemen des Sozialstaats aus und zielt — explizit — darauf, diese Probleme auf dem Terrain des Sozialstaats zu bearbeiten. Hat man erst einmal die Probleme, denen der Sozialstaat ausgesetzt ist, auf sozialstaatliche Binnenprobleme reduziert, dann kann man auch plausibel verlangen, daß Problemlösungen als sozialpolitische Nullsummenspiele betrieben werden. Das heißt: Die Problemlösungen werden so angelegt, daß Verbesserungen der Situation bestimmter Gruppen von akuten/potentiellen Leistungsbeziehern zu Lasten anderer Gruppen gehen. Ein solches verengtes Umverteilungsverständnis wird noch durch die Unterscheidung von »Arbeitsplatzbesitzern« und Arbeitslosen befestigt: »Der Zugang zur Arbeit aber ist ein Menschenrecht, das den Arbeitslosen auch von jenen verweigert wird, die ihren Besitz an Arbeit (und an Lohn) rücksichtslos und egoistisch verteidigen« (Blüm 1983: 98). Nachdem der Verteilungskonflikt derart auf einen Konflikt innerhalb der Gesamtheit der Nicht-Produktionsmittelbesitzer eingegrenzt ist, wird zu seiner Lösung eine entsprechend eingeschränkte Solidarität empfohlen — keine Solidarität, die sich gegen Dritte (gar: Arbeitgeber) wendet, sondern eine Solidarität, die zur Umverteilung untereinander anleitet. — Sozusagen »Sozialismus in einer Klasse«. Diese Begrenzung der Arena des sozial-politischen Konflikts bedeutet nachhaltigen Schutz für jene Interessenpositionen, die außerhalb der Arena stehen und die »solidarische« Verwaltung des ökonomisch-politisch erzeugten sozialpolitischen Mangels im Inneren der Arena.

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Es ging mir hier um die Stilisierung dieser vier Elemerte:

  • Durch die Entwicklung, Propagierung und Diskussion der Neuen Sozialen Frage werden spezifische Auffassungen über kompetente sozialpolitische Akteure etabliert.
  • Mit dem Modellieren von Meinungen über adäquate sozialstaatliche Leistungserbringung werden Ansichten über die jeweils richtigen sozialpolitischen Medien verändert.
  • Indem Interessenunterschiede zwischen einzelnen Gruppen sozialstaatlicher Lei stungsempfänger aufgegriffen und hochstilisiert werden, wird die Parzellierung der Gesamtheit der sozialstaatlichen Klientel vorangetrieben.
  • Mit dem Ausschluß eines ganzen Spektrums an Lösungsansätzen geht die Reduktion der Probleme der Sozialpolitik auf Binnenprobleme des Sozialstaates ein-her. Die Arena, in der Lösungen stattfinden sollen, wird interessengemäß verengt. Aus dem Zusammenwirken dieser Elemente der Sozialstaatskritik entsteht die neokonservative Konstellation.

Literatur

Achinger, Hans:  Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Köln/Berlin 1971.
Berger, Johannes  / Offe Claus: Die Zukunft des Arbeitsmarktes. Zur Ergänzungsbedürftigkeit eines versagenden Allokationsprinzips, in: G. Schmidt u.a. (Hg.), Materialien zur Industriesoziologie, Sonderheft 24 der KZfSS, Opladen 1982.
Blüm, Norbert:  Die Arbeit geht weiter, München/Zürich 1983.
Bogs, Walter:  Von der Freiheit durch das Gesetz, in: A. Blind u.a. (Hg.), Sozialpolitik und persönliche Existenz, Berlin 1969.
Bieback, Karl-Jürgen:  Leistungsabbau und Strukturwandel im Sozialrecht, in: Kritische Justiz 3/1984. Dettling, Warnfried: Die »Neue Soziale Frage«, in: J.J. Becher (Hg.), Die Neue Soziale Frage, Opladen 1982. Engels, Wolfram: Eine konstruktive Kritik des Wohlfahrtsstaates, Tübingen 1979.
Fach, Wolfgang:  Die konservative Abrechnung mit der Staatsbürokratie, in: PVS, Heft 1, 1981. Geißler, Heiner: Die Neue Soziale Frage, Freiburg 1976.
Greven, Michael Th.:  Soziale Probleme und politische Antworten — Sozialpolitische Konflikte und Konzeptionen der siebziger Jahre, in: M.Th. Greven, R. Prätorius, Th. Schiller, Sozialstaat und Sozialpolitik, Neuwied/Darmstadt 1980. Gross, Peter: Der Wohlfahrtsstaat und die Bedeutung der Selbsthilfebewegung, in: Soziale Welt, 1982. Hartmann, Helmut: Armut trotz Sozialhilfe. Zur Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe in der Bundesrepublik, in: St. Leibfried, F. Tennstedt (Hg.), Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt 1985. Herder-Dorneich, Philipp: Der Sozialstaat in der Rationalitätenfalle, Stuttgart 1982.
Klages, Helmut:  Überlasteter Staat — verdrossene Bürger? Frankfurt/New York 1981.
Klönne, Arno:  Alternativ oder neokonservativ? Mehrdeutigkeiten der Sozialstaatskritik, in: Gewerkschaftliche Monats-hefte 8/1984.
Kohl, Helmut:  Verantwortung für Stabilität und Wachstum der Wirtschaft, in: Bulletin Nr. 19, Bonn 1983. Leibfried, Stephan / Tennstedt Florian: Armenpolitik und Arbeiterpolitik. Zur Entwicklung und Krise der traditionellen Sozialpolitik der Verteilungsformen, in: St. Leibfried, F. Tennstedt (Hg.), a.a.O.
Luhmann, Niklas:  Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Ph. Herder-Dorneich, A. Schuller (Hg.), Die Anspruchsspirale, Stuttgart 1983.
Neusüß, Christel:  Der »freie Bürger« gegen den Sozialstaat, in: Prokla 39, Berlin 1980.
Offe, Claus:  Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress, D. Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft, Frankfurt 1969.
Olk, Thomas / Heinze, Rolf G.: Selbsthilfe im Sozialsektor, in: Th. Olk, H. U. Otto (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit 4. Lokale Sozialpolitik und Selbsthilfe, Neuwied/Darmstadt 1985.
Strasser, Johano:  Grenzen des Sozialstaats? Köln, Frankfurt 1979.
Tennstedt, Florian:  Zur Ökonomisierung und Verrechtlichung in der Sozialpolitik, in: A. Murswieck (Hg.), Staatliche Politik im Sozialsektor, München 1976.
Vobruba, Georg:  Politik mit dem Wohlfahrtsstaat, Frankfurt 1983.
Vobruba, Georg:  Entrechtlichungstendenzen im Wohlfahrtsstaat, in: R. Voigt (Hg.), Abschied vom Recht? Frankfurt 1983a.
Vobruba, Georg: Arbeiten und Essen. Die Logik im Wandel des Verhältnisses von gesellschaftlicher Arbeit und existentieller Sicherung im Kapitalismus, in: St. Leibfried, F. Tennstedt (Hg.), a.a.0.
Windhoff-Héritier, Adrienne:  Selbsthilfe-Organisationen — eine Lösung für die Sozialpolitik der mageren Jahre? In: Soziale Welt, 1982.

Dieser Beitrag erscheint demnächst in: Michael Opielka / Ilona Ostner (Hg.): Umbau des Sozialstaats; Essen 1986.

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