Beitragsbild Erkennbare Bemühungen um ein deeskalierendes Auftreten der Polizei
Themen / Demokratisierung

Erkennbare Bemühungen um ein deeska­lie­rendes Auftreten der Polizei

30. April 2010

Bericht der Humanistischen Union zur Demonstrationsbeobachtung am 27. März 2010 in Lübeck

Erkennbare Bemühungen um ein deeskalierendes Auftreten der Polizei

Die HU Lübeck hat am 27. März (wie in den Jahren zuvor) einen rechtsradikalen Aufmarsch, die dazu angekündigte Gegendemonstrationen und den Polizeieinsatz begleitet. Mit insgesamt 24 DemonstrationsbeobachterInnen konnten wir die zentralen Ereignisse des Tages verfolgen. Nach zahlreichen Gesprächen legen wir folgenden Bericht zur Demonstrationsbeobachtung vor:

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union (HU) hat die am 27. März in Lübeck stattgefundene rechtsradikale Demonstration, die dazu durchgeführten Gegendemonstrationen und den absichernden Polizeieinsatz mit insgesamt 24 DemonstrationsbeobachterInnen (darunter Rechtsanwälte und Mitglieder des Bundes- und Landtages) begleitet. Die DemonstrationsbeobachterInnen trugen Leuchtwesten mit der Aufschrift „Demonstrationsbeobachtung“  und ein deutlich sichtbares Ausweisschild mit Namen und Organisation.

Wie bereits in den Vorjahren wurden DemonstrationsbeobachterInnen der HU wiederholt an polizeilichen Absperrungen zurückgewiesen. Dennoch gelang es den Beobachtungsteams, die Entwicklungen des Tages an den zentralen Punkten der Demonstration und der Blockaden mit zu verfolgen. Damit ermöglichte die Demonstrationsbeobachtung der HU eine von Polizei und DemonstrantInnen gleichermaßen unabhängige Einschätzung der Tagesereignisse. Zusätzlich konnten die BeobachterInnen der HU in einzelnen konflikthaften Situationen vermittelnd intervenieren.

Erfreulicherweise gestalteten sich die Demonstrationen / Gegendemonstrationen überwiegend friedlich. Ausschreitungen einzelner GegendemonstrantInnen begegnete die Polizei mit Zurückhaltung. Auch MitdemonstrantInnen versuchten zur Befriedung der Situationen beizutragen.

Mit einem Aufgebot von 1900 Polizeikräften steigerte sich nochmals der personelle Einsatz, wobei sich die Polizeikräfte in der Öffentlichkeit zurückhaltender präsentierten. Dagegen deutlich sichtbar wurden Wasserwerfer, Räumpanzer und Hubschrauber gezeigt. Die Polizeikette an den Blockadepunkten war unbehelmt. Dies trug auch zur Entspannung der Lage bei.

Demgegenüber waren eingesetzte sogenannte Beweissicherungs- und Festnahme-Einheiten (BFE- Einheiten), die sich am Rand und im Hintergrund befanden, durch das Tragen der Helme und der Masken nicht mehr individuell erkennbar. Ihre Erscheinung wirkte durch die Anonymität und Demonstration der Stärke provozierend.

Im Vergleich zu den Beobachtungen der HU in den vergangenen zwei Jahre war eine veränderte, deeskalierende Polizeistrategie und ein weitgehend adäquates Verhalten der Polizei deutlich feststellbar. Zu den deeskalierenden Maßnahmen gehörte auch der Einsatz von Konflikt- und Dialogteams, die aus anderen Bundesländern stammten und von Schleswig-Holsteiner BeamtInnen begleitet wurden. Der in Lübeck und ganz Schleswig-Holstein erstmalige Einsatz dieser BeamtInnen erleichterte die Kommunikation mit den eingesetzten Polizeikräften und half spürbar bei der Deeskalation. Der Ausbau dieser Vermittlungstätigkeit ist wünschenswert.

Gegenüber den rechtsradikalen Demonstranten sorgte die Polizei für die strikte Einhaltung der Auflagen und der Kundgebungszeit. Schon nach dreihundert Metern wurde der sogenannte „Trauermarsch“ abgebrochen, da eine Vielzahl von GegendemonstrantInnen die Demonstrationsroute blockierten.

Bereits um 7.30 Uhr ließ die Einsatzleitung den Stadtteil St.Lorenz-Nord und Süd absperren und schränkte AnwohnerInnen und PassantInnen erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Dem Organisten und mehreren GottesdienstbesucherInnen wurde der Zugang zur St.Lorenz-Kirche verwehrt. Das Absperren wichtiger Zugangswege (ab 7.30 Uhr) zur Innenstadt trug für FußgängerInnen, FahrradfahrerInnen, Busse und den ÖPNV zu erheblichen Behinderungen bei. Bahnreisende mussten am Haupteingang des Bahnhofes Absperrungen passieren und ihr Reiseziel angeben.

Die Räumung der ersten Sitzblockade am Steinrader Weg um 7.50 Uhr erfolgte größten Teils einwandfrei, wenngleich vereinzelte Übergriffe beobachtet wurden. Obwohl kein Verzug bestand, drückten einige BeamtInnen die behandschuhte Hand in das Gesicht von BlockierInnen und pressten deren Kopf nach hinten. Von BlockiererInnen wurde zudem berichtet, dass ihnen während des Wegtragens die Handgelenke schmerzhaft verdreht wurden. Demgegenüber beobachteten wir auch einen sehr behutsamen Abtransport von BlockierInnen, denen von den BeamtInnen immer mitgeteilt wurde welche Handgriffe und Bewegungen erfolgen werden. (Ob dies trainiert wird wissen wir nicht, empfehlen es aber). Insgesamt erfreulich war auch, dass die Polizeieinsatzleitung während des weiteren Demonstrationsgeschehens aufgrund der Größe dreier Menschenblockaden auf eine unverhältnismäßige Räumung verzichtete.

Während die Polizeikräfte auf vereinzelte Provokationen von GegendemonstrantInnen vornehmlich besonnen reagierten, registrierten die BeobachterInnen Übergriffe einzelner BeamtInnen. Bei ihren Einsätzen, bei denen sie in Einheiten von 10 – 15 Personen einzelne Demonstranten bzw. Jugendgruppen verfolgten, konnte bei einzelnen Beamten ein Übergriff auf Unbeteiligte und eine der Situation nicht entsprechende gewaltsame Festsetzung einer Demonstrantin, die gegen die Fensterscheibe der Araltankstelle gedrückt wurde, beobachtet werden. Dies war auch bei einer Einzelfestnahme der Fall, bei der der Demonstrant auf dem Boden hinterher geschleift wurde. Weiterhin wurden auch zwei Beobachterinnen der HU von den BeamtInnen weggestoßen.

Übergriffe einzelner PolizeibeamtInnen können jedoch aufgrund der fehlenden individuellen Kennzeichnung der Polizeikräfte den Verursachern nicht sicher zugeordnet werden. Eine Kennzeichnung der Einsatzkräfte würde somit verhindern, dass einzelne den besonnenen Polizeieinsatz insgesamt diskreditieren.

Zu Ausschreitungen kam es nach Beendigung der Blockaden. Die abziehenden DemonstrantInnen trafen in der Fackenburger Allee auf eine Polizeisperre mit Wasserwerfer an der Kreuzung Fackenburger/Schwartauer Allee und in entgegengesetzter Richtung auf Höhe des Telekomgebäudes auf die Sperrung der Fackenburger Allee. Von einzelnen DemonstrantInnen wurden Steine, Böller und Flaschen geworfen. Die Polizei forderte sie auf, die Straße zu räumen. Die Demonstrationsleitung versuchte, die DemonstrantInnen von der Straße zu ordern. Polizeieinheiten verfolgten einzelne Demonstranten und setzten an der Aral Tankstelle eine Demonstrantengruppe fest und setzte um 14.19 Uhr einen Wasserwerfer ein, der auch friedliche DemonstrantInnen traf.
DemonstrationsbeobachterInnen versuchten in Gesprächen mit Polizei und DemonstrantInnen zu vermitteln.

Unter den Gegendemonstranten konnte bei einzelnen Jugendlichen im Verlauf des Tages ein erhöhter Alkoholkonsum festgestellt werden. Versuche anderer Demonstranten, dies zu unterbinden, blieben erfolglos. Folge war, dass alkoholisierte Jugendliche mit Flaschen warfen und damit die Gewaltbereitschaft auf allen Seiten beförderten. Von Veranstaltern und Beobachtern wird auch eine steigende Anzahl nicht eingebundener, jugendlicher Demonstrationstouristen registriert, die die Ereignisse um die Demonstration herum als Aggressionsventil nutzen, ohne den Grund/Inhalt der Demonstration zu verfolgen. Dem sollte auf jugendpolitischer Ebene begegnet werden.

Der von uns beobachtete Einsatz der Hundestaffel war im Vergleich zu den vergangenen Jahren deutlich defensiver. Allerdings ist wiederholt zu fragen, warum einige Hunde ohne Maulkorb eingesetzt wurden. Wie im Bericht 2009 dargestellt, ist das von den Hunden ohne Maulkorb ausgehende Gefahrenpotential erheblich und führte schon mehrfach zu Verletzungen von Polizisten, Passanten und Demonstranten. Wenn von einem Hundeeinsatz nicht abgesehen werden kann, sollte zumindest eine Maulkorbpflicht bestehen.

Zu der vergleichsweise geringen Anzahl der Ingewahrsamgenommenen trug auch die begrüßenswerte Entscheidung der BeamtInnen bei, auf Ingewahrsamnahmen bei der Räumung der Sitzblockade zu verzichten und stattdessen Platzverweise auszusprechen. Die beobachtete Ingewahrsamnahme von ca. 10 Personen in der Fackenburger Allee gegen 10 Uhr wurde von Hamburger BeamtInnen ruhig und ohne Einsatz von Kabelbindern sowie schieben oder drücken vorgenommen. Auch hier eine deutliche Verbesserung zum Vorjahr.

Das dritte Jahr in Folge mussten sich, nach Berichten der Rechtsanwälte, die in Gewahrsam genommenen Gegendemonstranten wieder entkleiden und auf dem Parkdeck des Behördenhochhaus auf ihre Freilassung warten. Dieses Verfahren, von uns im dritten Jahr beschrieben, stellt eine Lübecker Besonderheit dar. Selbst bei den jahrelangen Protestdemonstrationen im Wendland wurde diese polizeiliche Maßnahme nicht so extensiv durchgeführt wie in Lübeck. Die Gewahrsamsverordnug Schleswg-Holsteins sieht zwar die Durchsuchung und Sicherstellung von Gegenständen vor, dieser Vorschrift ist aber durch Abtasten und Taschendurchsuchungen in der Regel genüge getan. Die angewandte Rechtssprechung sieht nur bei begründetem Verdacht eine so umfassende Leibesvisitation vor. Der Kontakt zu den Ingewahrsamgenommenen wurde den Anwälten in diesem Jahr nicht verwehrt, jedoch erschwert. So mussten die beiden Anwälte mehrere Stunden warten, ohne dass ihnen von den diensthabenden Beamten erklärt wurde warum sie nicht zu den Ingewahrsamgenommenen vorgelassen werden (siehe im Anhang Beschwerde des Anwalts A. Hoffmann). Aus Sicht der HU ist dementsprechend die gängige Praxis der Lübecker Polizei hinsichtlich des Umgangs mit Ingewahrsam Genommenen als unverhältnismäßig zu bezeichnen.

Nach den Erfahrungen von dieser Demonstrationsbeobachtung in Verbindung mit den Erfahrungen aus den letzen Jahren ergeben sich für uns folgende Forderungen und Empfehlungen:

  • Kennzeichnung der eingesetzten Polizeikräfte zwecks Identifizierung von Rechtsverstößen
  • Kein Einsatz von Hunden ohne Maulkorb
  • Einsatz eines unabhängigen Beobachterteams unter Gewährleistung weitgehender Bewegungsfreiheit
  • Einbindung von Konflikt- und Dialogteams in das routinemäßige Einsatzkonzept der Polizei mit umfassender Wirkungskompetenz nach innen und außen
  • Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit im Umgang mit Ingewahrsamgenommenen, insbesondere Unterlassung der entwürdigenden, routinemäßigen Leibesvisitationen bei vollständiger Entkleidung
  • Freier Zugang für Anwälte und BeobachterInnen zu den Ingewahrsamgenommenen
  • Training zum gewaltfreien Auflösen von Sitzblockaden
  • Verstärkung der gewaltpräventiven Maßnahmen für Jugendliche
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