Erklärung der Humanistischen Union zum 80. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941
Deutsch-Russische Beziehungen: Sicherheit gibt es nur gemeinsam.
Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Es waren die geschätzt 27 Millionen Toten, die das „Unternehmen Barbarossa“ zu einem der monströsesten Verbrechen der Kriegsgeschichte machten. Es war von der Nazi-Führung poli-tisch gewollt, Millionen russischer Menschen zu vernichten – nicht nur durch Panzer, Kanonen und Bomben, sondern im Gefolge der Millionen Wehrmachtssoldaten auch durch Vergasungswagen und Erschießungskommandos. Dazu kam ein unmenschliches Besatzungsregime, das den Tod von Millionen durch Hunger, Krankheit, Kälte einkalkulierte. Am 23. Mai 1941 wurden die ökonomischen Ziele des Krieges gegen die Sowjetunion in den wirtschaftspolitischen Richtli-nien zur künftigen Besatzungspolitik in der Sowjetunion festgelegt: „Viele 10 Millionen Men-schen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben müssen.“ Ein Befehl vom 6. Juni 1941 des Oberkommandos der Wehrmacht verfügte, dass die Grundsätze der Menschlichkeit und des Völkerrechts im Kampf gegen den Bolschewismus keine Bedeutung hätten.
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble, gab bekannt, dass das deut-sche Parlament keine Gedenkveranstaltung aus diesem Anlass abhalten werde. „Welche vertrau-ensbildende Geste gegenüber den Menschen in Russland wäre es, wenn Deutschland dieses Menschheitsverbrechens in angemessenem Rahmen gedenken würde?“, fragt der Vorsitzende der Humanistischen Union, Werner Koep-Kerstin. Verpasste Chancen.
Einst in Bonn: Stehende Ovationen für Putin
Mit großen Hoffnungen war das deutsch-russische Verhältnis verbunden nach der Rede von Wladimir Putin vor zwanzig Jahren im Deutschen Bundestag in Bonn (25. September 2001). Seine auf Deutsch gehaltene Rede wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Er sagte damals: „Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf, und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.“
Heute allerdings ist dieses Verhältnis auf einem Tiefpunkt angelangt. Es ist von gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen geprägt, die deutlich vor der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 anfingen. In dieser Situation ist es sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass Willy Brandt und Egon Bahr ihre Ostpolitik in einer ähnlich angespannten Situation konzipierten: Unmittelbar nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 durch Sowjet-truppen und in einer Zeit massiver internationaler Hochrüstung. Durch geduldige Verhandlungen und die Anerkennung der Sicherheitsbedürfnisse der jeweils anderen Seite gelang es damals, Konfrontation und Verhärtung durch einseitige Schuldzuweisungen zu reduzieren. Damals hieß das Konzept „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr), heute steht zunächst die „Aufrechterhaltung von Dialog“ im Vordergrund.
Das Konzept Gemeinsamer Sicherheit als Basis der Beziehungen
Basis des Verhältnisses zu Russland sollte das Konzept der gemeinsamen Sicherheit sein. Entwi-ckelt wurde es von einer unabhängigen internationalen Kommission unter Vorsitz des damali-gen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, die vor bald 40 Jahren den UN-Bericht „Gemeinsame Sicherheit“ vorgelegt hatte. „Ein Konzept der gemeinsamen Sicherheit muss an die Stelle der bisherigen Abschreckung durch Hochrüstung treten. Der Frieden der Welt muss sich auf ein Engagement für das gemeinsame Überleben statt auf die Drohung auf gegenseitige Auslö-schung gründen“, hieß es im Palme-Bericht.
Ein vergleichender Blick auf die internationalen Rüstungsausgaben sollte Bedrohungswahrneh-mungen im Westen relativieren. Laut SIPRI-Angaben stehen den Ausgaben Russlands im Jahr 2020 in Höhe von 61,7 Milliarden Dollar rund 778 Milliarden Dollar der USA gegenüber, hinzu kommen die Ausgaben der übrigen 29 NATO-Staaten in Höhe von 324 Milliarden Dollar. An zweiter Stelle der Einzelstaaten steht China mit geschätzt 252 Milliarden Dollar. Wenn auf neue Mittelstreckenraketen Russlands mit Reichweite auf Europa hingewiesen wird, werden häufig die auf U-Booten stationierten Raketen mit gleicher Reichweite des Westens außer Acht gelassen.
Rüstungskontrolle und Abrüstung sind Ebenen, auf denen Russland und der Westen aufs Neue eine Verständigung herbeiführen könnten. Die Verlängerung des New-START-Abkommens von 2010 zwischen den USA und Russland über strategische Nuklearwaffen in diesem Frühjahr war ein Hoffnungszeichen. Außenminister Heiko Maas sollte Impulse für Rüstungskontrolle und Ab-rüstung im europäischen Raum geben, die an die Initiativen seiner großen Vorgänger anschließen. In Verbindung mit einer Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen könnte damit ein neuer Anlauf zur Entspannung geleistet werden.
Zu den wichtigen vertrauensbildenden Maßnahmen, die immer wieder von zivilgesellschaftlichen Akteuren, ehemaligen Politiker*innen, diversen Initiativen und Expert*innen-Kommissionen vorgeschlagen werden, gehören beispielsweise:
- Der Stellenwert von Nuklearwaffen in den jeweiligen Sicherheitsdoktrinen der USA und Russlands sollte reduziert werden.
- Ein einseitiger Abzug der taktischen US-Atomwaffen aus Europa und der Türkei bzw. der Abzug der taktischen russischen Atomwaffen aus dem europäischen Teil Russlands. Auch aus Sicht der Abschreckungsbefürworter sind diese allesamt militärisch irrelevant.
- Der überfällige Beitritt von NATO-Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag.
- Statt dauernder Erhöhungen von Militärhaushalten wäre eine generelle Senkung angebracht. Schließlich hat die globale Covid-19-Pandemie gezeigt, dass Sicherheit nicht nur militärisch gedacht werden darf. Allein zur Bewältigung der Klimakrise und der Pan-demiefolgen werden erhebliche finanzielle Mittel gebraucht, die nicht weiter in Hoch-rüstung fließen dürfen.
Zivilgesellschaftlicher Dialog
„Auch während des Kalten Krieges bestanden zivilgesellschaftliche Kontakte zu den russischen Menschen“, erklärt der Stellvertretende Vorsitzende der Humanistischen Union, Stefan Hügel. Es waren Menschenrechtsgruppen, kirchliche und friedenspolitische Organisationen, die das Ge-spräch mit den Russen suchten. Die Humanistische Union betrachtet es als zutiefst bedauerlich, wenn die russische Regierung zivilgesellschaftlichen Einrichtungen ihre Handlungsmöglichkei-ten nimmt oder erschwert, wie das jüngst wiederholt geschehen ist. „Wie soll sich Verständnis füreinander und Vertrauen herausbilden, wenn nicht durch den Dialog vor allem der jungen Ge-neration in beiden Ländern?“ fügt Hügel hinzu. Die Aufrechterhaltung von Dialog, vor allem mit der heranwachsenden Generation, hält auch Horst Teltschik, der frühere Berater von Helmut Kohl, langfristig jenseits der heutigen Putin-Regierung für wichtig: „Denn da sind die potenziellen neuen Führungsleute von morgen dabei.“ (Deutschlandfunk, 5. Juni 2021)