Für ein Wahlrecht von Geburt an
Verfassungsrechtliche und gesellschaftspolitische Argumente.* Aus: Vorgänge Nr. 166 (Heft 2/2004), S. 74-81
Wahlrecht von Geburt an – was ist das? Es gibt viele Bezeichnungen für das Thema: So liest man etwas vom Kinderwahlrecht, vom Familienwahlrecht, vom Elternwahlrecht, vom Minderjährigenwahlrecht, und schließlich wird auch vom allgemeinen Wahlrecht gesprochen. Wir meinen die Erstreckung des allgemeinen Wahlrechts auf jeden Deutschen, unabhängig von seinem Alter.
Nach unseren Forderungen bedeutet dies, dass künftig jedes Mitglied des deutschen Staatsvolkes, und das sind alle deutschen Staatsangehörigen, an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilnehmen können soll. Wir wollen weder das Wahlrecht der Eltern erweitern noch das Wahlalter senken und wir wollen auch kein eigenes, gesondertes Kinderwahl-recht, also ein Wahlrecht, das sich vom Erwachsenenwahlrecht unterscheidet, „weniger” ist als dieses. Die Verwirklichung der Demokratie steht auf dem Programm: one man – one vote; jeder/ jede Deutsche eine Stimme.
Gilt diese Regelung nicht ohnehin schon? In der Tat hat man diesen Eindruck, wenn man sich Art. 20 GG anschaut. Dort heißt es in Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.” Gemeint ist das deutsche Staatsvolk. Die Staatsgewalt wird, so dort weiter, vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Dies ist eine der Säulen der Demokratie und so lebt diese Republik seit dem 23. Mai 1949, dem Tag, an dem das Grundgesetz in Kraft getreten ist.
Aber in Art. 38 Abs. 2 GG heißt es, dass wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Die Verfassung selbst schränkt hier also das Recht eines jeden Deutschen, an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilzunehmen, pauschal ein: Alle Menschen von 0 bis 17 Jahren und 364 Tagen dürfen an der Wahl nicht teilnehmen. Und dies gilt unabhängig davon, ob der junge Mensch konkret beurteilungsfähig ist oder nicht, ob er also die Bedeutung einer Wahl erkennen kann. Das Wahlrecht setzt bei uns mit der Vollendung des 18. Lebensjahrs ein und bleibt erhalten, bis der Mensch diese Erde verlässt. Freilich gibt es Einschränkungen: So kann einem Straftäter unter bestimmten Voraussetzungen das Wahl-recht vom Strafgericht entzogen werden. Und demente Menschen, die ihre Angelegenheiten in gar keiner Weise mehr beurteilen können, so dass sie für alle Angelegenheiten des Lebens eine rechtliche Betreuung brauchen, können ebenfalls an der Wahl nicht teilnehmen.
Der Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall, also bei den jungen Deutschen von 0 bis 17 Jahren, der Ausschluss vom Wahlrecht pauschal, ohne Rücksicht auf die individuelle Verfassung des Menschen, durch das Grundgesetz vorgenommen wird. In den anderen eben geschilderten Fällen dagegen wird einem Menschen durch Richterspruch nach entsprechender Prüfung das Wahlrecht individuell, zum Teil auch zeitlich begrenzt, entzogen.
,Ein Blick in die Statistik macht schnell deutlich, dass die Gruppe der Menschen, die durch Richterspruch vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, eine sehr kleine ist, während die allein aufgrund ihres Alters von der Wahl ausgeschlossene Gruppe eine sehr große ist. Etwa jeder fünfte deutsche Staatsbürger ist nur wegen seines jugendlichen Alters von der Wahl ausgeschlossen.
Eine derart gravierende Beschränkung des Grundrechts auf Teilnahme an der Wahl muss besondere Gründe haben. Dies gilt um so mehr, als Art. 20 Abs, 2 GG nicht etwa lautet: Alle Staatsgewalt geht vom volljährigen Volk aus oder von den Staatsbürgern, die 18 Jahre alt sind, sondern schlicht, sie geht vom Volke aus.
Macht man sich auf die Suche nach den Gründen, die zu einem derart massenhaften Ausschluss vom Wahlrecht angeführt werden, wird man schwer fündig. Nur zwei Gründe sind es, die stets angeführt werden: Das Wahl-recht müsse erstens höchstpersönlich ausgeübt werden, und das könnten junge Menschen eben nicht, und zweitens, um wählen zu können, müsse man eine entsprechende Beurteilungsfähigkeit haben. Ob beide Argumente tragen und ob sie ausreichen, auf Dauer diesen Wahlausschluss zu rechtfertigen, soll nachfolgend untersucht werden.
Die Senkung des Wahlalters ist notwendig
Die Forderung nach einem Wahlrecht von Geburt an bedeutet konkret, dass das Wahlalter auf 0 Jahre gesenkt wird. Art. 38 Abs. 2 GG muss daher ebenso geändert werden wie die entsprechende Vorschrift im Bundeswahlgesetz. Daraus folgt eine weitere Konsequenz: Das Wahlrecht von Geburt an wird im Wege der Stellvertretung durch den gesetzlichen Vertreter oder die gesetzlichen Vertreter ausgeübt; wiederum muss daher die entsprechende Vorschrift im Bundeswahlgesetz angepasst werden.
Die Forderung nach einem Wahlrecht von Geburt an ist nicht parteipolitisch begründet Sie spiegelt eine gesellschaftspolitische Erkenntnis wider, die Konsequenzen zieht aus der derzeitigen sozialpolitischen Lage. Für das Wahlrecht von Geburt an lässt sich einerseits staatsrechtlich bzw. verfassungsrechtlich argumentieren und andererseits gesellschaftspolitisch. Wendet man sich der rechtlichen Seite zu, so kann es ein Gebot der Gerechtigkeit und der Gleichheit der Wahl sein, dass alle Deutschen wählen dürfen. Der jetzige Ausschluss etwa eines Fünftels unseres deutschen Volkes von der Wahl kann demnach nicht länger hin-genommen werden. Gesellschaftspolitisch argumentierend muss man darauf verweisen, dass unser politisches System aus dem Gleichgewicht geraten ist und immer weiter geraten wird, wenn die politischen Geschicke allein von den Deutschen über 18 Jahren bestimmt werden: Nur sie erteilen durch die Stimmabgabe die entsprechenden Wähleraufträge, während die junge, nachwachsende Generation, die die Folgen dieser Entscheidungen jeden-falls mit zu tragen haben wird, weiterhin nicht beteiligt wird.
Rechtliche Überlegungen
1. Allgemeinheit der Wahl
Art. 38 Abs, 1 GG bestimmt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Das Bundesverfassungsgericht folgert, dass das Grundgesetz den Ausschluss bestimmter Gruppierungen von der Teilnahme an der Wahl verbietet. Dies gilt für politisch, wirtschaftlich oder sozial begründete Ausschlüsse (BVerfGE 58, 202, 205). Trotz dieser Erkenntnis schränkt das Bundesverfassungsgericht ein, die Allgemeinheit der Wahl sei nicht „in voller Reinheit” zu verwirklichen, nämlich dann nicht, wenn es zwingende Gründe für ihre Einschränkung gibt (BVerfGE 14, 121, 133; E34, 160, 163; E69, 92, 106; E82, 322, 338). Die Frage ist, ob es derart zwingende Gründe für den Ausschluss aller jungen Deutschen unter 18 Jahren von der Wahl gibt.
Hierfür wird angeführt, das Wahlrecht sei in Deutschland stets in der einen oder anderen Form begrenzt gewesen. So seien z.B. nach der bayerischen Verfassung von 1818 nur besitzende männliche Angehörige einer christlichen Konfession im Alter über 30 Jahre wahlberechtigt gewesen. Interessanterweise waren seinerzeit in Bayern Frauen, Juden und Arme von der Wahl ausgeschlossen, und das waren je nach Zählweise 85 bis 90% der Bevölkerung (Boldt 1993: 80). Die Paulskirchenverfassung von 1848 führte ein Wahlrecht für alle deutschen Männer ab 25 Jahren ein.
Und die Weimarer Verfassung ließ erstmals Frauen zur Wahl zu, gleichzeitig setzte sie das allgemeine Mindestwahlalter auf 20 Jahre fest, interessanterweise schon damals eine Abweichung vom damaligen Volljährigkeitsalter (21 Jahre). Das Grundgesetz bestimmte bei seinem Inkrafttreten im Jahre 1949, dass das aktive Wahlalter mit 21 Jahren beginnt. Damals stimmten also Wahlalter und Volljährigkeit überein. Dann aber kam der große Sprung: Im Jahre 1970 wurde das Wahlalter auf 18 herab-gesetzt, das Volljährigkeitsalter allerdings nicht; es wurde erst Jahre später auf die entsprechende Zahl abgesenkt. Dies hatte zur Folge, dass in den 1970er Jahren Volljährigkeit und Wahlberechtigung um drei Jahre auseinander klafften. Seit 1970 werden nicht mehr alle Menschen unter 21, sondern alle Menschen unter 18 von der Wahl ausgeschlossen.[1]
Aus dieser wechselvollen Geschichte leitet das Bundesverfassungsgericht die erstaunliche These ab, es sei „von jeher aus zwingenden Gründen als mit der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden”, dass das Wahlrecht begrenzt werden kann (BVerfGE 36, 139, 141). Dies ist erkennbar keine Begründung, sonder der Ersatz einer Begründung. Denn die zwingenden Gründe werden ja gerade nicht genannt. Und der Verweis auf ei-ne Tradition wirkt ebenfalls nicht überzeugend, denn es kann auch verfassungswidrige Traditionen geben. Wahlrechtsbeschränkungen können richtigerweise allenfalls zum Schutz entgegenstehender anderer, wichtigerer Verfassungspositionen vorgenommen werden, sie müssen insoweit unabdingbar sein (BVerfGE 95, 335, 403). Da die Verfassung selbst in Art. 38 Abs, 2 die Beschränkung des Wahlrechts vorgenommen hat, müssen dieser Bestimmung also entsprechende Überlegungen vorausgegangen sein. Bekannt sind diese Überlegungen freilich nicht.
Die in diesem Zusammenhang bisweilen zu lesende Behauptung, in Wirklichkeit gehe es gar nicht um die Einschränkung eines Wahl-rechts, sondern das grundrechtsähnliche Wahl-recht sei von vornherein begrenzt gewesen und es beziehe sich eben nur auf Staatsbürger, die das 18. Lebensjahr vollendet haben (Schroeder 2003: 919), vermag überhaupt nicht zu über-zeugen. Schon die Tatsache, dass das aktive Wahlalter immer wieder verändert worden ist, beweist, dass eine von vornherein bestehende Grenze nicht existiert.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Der Verfassungsgrundsatz, nach welchem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden, ist durch die Beschränkung auf alle Menschen ab 18 Jahren eingeschränkt, ohne dass eine stichhaltige Begründung bisher gefunden werden konnte.
2. Höchstpersönlichkeit der Wahl
Wie ausgeführt, fordern wir das Wahlrecht von Geburt an und setzen hinzu, dass dieses Recht während der Minderjährigkeit der Kinder durch die Eltern als gesetzliche Stellvertreter und Treuhänder der Kinder ausgeübt wird, so wie die Eltern in dieser Funktion alle Rechte der noch nicht volljährigen Kinder ausüben.
Hiergegen wird eingewendet, mit einer solchen Regelung werde der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl verletzt. Zwar findet sich in Art. 38 Abs. 1 GG kein Grundsatz der Höchstpersönlichkeit, die dort genannten Kriterien lauten: allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl. Dennoch nimmt die juristische Lehre an, das Wahlrecht sei unveräußerlich, unübertragbar und unverzichtbar und dieser ungeschriebene Grundsatz habe Verfassungsrang (Mangoldt-Klein 1999: Rn. 125; Maunz-Dürig 1994: Rn. 32; Morlok 1998: Rn. 115; Magiera 2003: Rn. 100).
Konkret bedeutet diese Einschränkung, dass eine Stellvertretung bei der Wahl nicht zulässig sein soll. Auch dieser Einwand ist verfassungsrechtlich bzw. aus Sicht des Staats-rechts nicht stichhaltig. Denn eine unserer ältesten Demokratien, Großbritannien, kennt die Stellvertretung bei der Wahl: Dort kann ich einen anderen beauftragen, für mich die Stimme abzugeben (proxy vote) (Repräsentation of the People Act 2000, Sect. 12 [1]).
Aber selbst wenn die Höchstpersönlichkeit der Wahl Verfassungsrang hätte, muss doch gefragt werden, ob dieser Grundsatz aus zwingenden verfassungsrechtlich anerkannten Gründen eingeschränkt werden muss. In diesem Zusammenhang wird insbesondere er-wähnt, dass das Persönlichkeitsdogma im deutschen Wahlrecht bereits durchbrochen werde, denn dieses lasse die Briefwahl zu und außerdem die Stellvertretung durch Wahlhilfe. Will man die Grundsätze der Höchstpersönlichkeit überwinden, so ließe sich anführen, dass die Stellvertretung im Wahlrecht notwendig ist, um das Ziel der Allgemeinheit der Wahl durchzusetzen und dass dieses Ziel höherrangig sei.
Angeführt wird noch die Gefahr von Missbräuchen bei der Stellvertretung. Aber diese Gefahr dürfte kaum höher als bei der Briefwahl sein, die unsere Rechtsordnung hin-nimmt, und zwar millionenfach.
3. Verletzung des Demokratieprinzips?
Weiter kann man in der Verfassungsrechts-Literatur lesen, die Festlegung eines Mindestwahlalters gehöre zum Kern des durch Art. 79 Abs. 3 GG, der sogenannten „Ewigkeitsgarantie”, geschützten Demokratieprinzips (Schroeder 2003: 920 m. weit. Nachw.). Wir bezweifeln dies.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastrichturteil vom 12. Oktober 1993 entschieden, dass Art. 38 GG nicht nur verbürge, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden (BVerfGE 89, 155, 171 und 172). Vielmehr, so fährt das Bundesverfassungsgericht fort, erstrecke sich die Verbürgung auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts. Danach werde das subjektive Recht gewährleistet, an der Wahl teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt mitzuwirken. Damit hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass die Wahl zum Bundestag das zentrale Verfahren der politischen Willensbildung ist; von einem Mindestalter ist insoweit nicht die Rede.
4. Beurteilungsfähigkeit
Die eben zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt weiter aus, zum Demokratieprinzip gehöre, dass ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau er-reicht wird (BVerfGE 89, 155, 182). Hieraus schließt nun die juristische Lehre, dass diese Qualität nur erreicht wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Sie argumentiert, Voraussetzung für das Wahlrecht sei, dass sich die an den Wahlen mitwirkenden Bürger an der politischen Meinungsbildung überhaupt beteiligen können. Die Bürger müssen diskursfähig sein, an einer Bewertung politischer Ansichten überhaupt teilhaben können (Grimm 1995: 590; Schroeder 2003: 921). Andere argumentieren, politische Mitwirkungsrechte seien vor allem die Möglichkeit der Selbstentscheidung der Betroffenen in eigenen Angelegenheiten (vgl. kritisch dazu Böckenförde 1998: Rn 2ff.). Wenn dies gilt, müssten Kindern sofort politische Mitwirkungsrechte eingeräumt werden. Denn zweifellos sind sie von vielen staatlichen Vorschriften betroffen, man denke nur an den Generationenvertrag, an die Sozialversicherung, an die Bioethik, an die Genforschung u,a. (Pechstein 1991: 144; Peschel-Gutzeit 1997: 2862).
Dieses Ergebnis wird jedoch mit einem kleinen Kunstgriff wieder in Frage gestellt: Unser Grundgesetz, so wird gesagt, gewähre politische Rechte nur den Staatsbürgern, und das seien nur solche, die einen freien politischen Willen bilden könnten (BVerfGE 12, 113, 125). Und wenn das Bundesverfassungsgericht schließlich meint, dass sich demokratische Herrschaft nur durch einen Willensbildungsprozess von bestimmter Qualität legitimieren lasse, so muss man wirklich fragen, ob diese höchst qualifizierte Einschätzung noch etwas mit dem durchschnittlichen Niveau unserer Staatsbürger zu tun hat (BVerfGE 35, 202, 211; E27, 71, 81).
An die Stelle der Wirklichkeit tritt die Fiktion: Diese besagt, dass alle Wähler politisch informiert sind und über die nötige politische Urteilskraft verfügen. Und die Abhaltung von Wahlen ohne mögliche Diskussion von politischen Inhalten wäre, so wird argumentiert, eine Farce (Schroeder 2003: 922). Vergleicht man diese hohen Ansprüche mit der Wirklichkeit eines Wahlkampfes, erkennt man mühe-los, wie weit Ideal und Wirklichkeit voneinander entfernt sind. Aber wer so argumentiert, hat ein Instrument gefunden, um junge Menschen vor der Volljährigkeit von der Wahl auszuschließen.
S. Kollision mit anderen Verfassungsgrundsätzen?
Eine Zwischenbilanz: Das Wahlrecht, also das Recht, an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teilzunehmen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein grundrechtsähnliches Recht, ein politisches Grundrecht (BVerfGE 1, 208, 242). Es pauschal zeitlich zu beschränken, so wie in Art. 38 Abs. 2 GG geschehen, muss verfassungsrechtlich begründbar sein. Weder der in der Verfassung nicht geschriebene Grundsatz der Höchstpersönlichkeit noch der ebenso wenig niedergelegte Grundsatz der Beurteilungsfähigkeit reichen in concreto aus, diesen pauschalen Wahlrechtsentzug verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.
Aber selbst wenn man hier anderer Ansicht wäre – und viele Menschen sind hier anderer Ansicht –, muss doch gefragt werden, ob es höherwertige Verfassungsgrundsätze gibt, die dennoch zu einer Wahlbeteiligung aller Deutschen von Geburt an führen müssen. Zu denken ist hier vor allen an den verfassungsrechtlichen Auftrag zur staatlichen Förderung der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG oder an das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG, wo-nach für das Wohlergehen der künftigen Generationen Sorge zu tragen ist, oder aber auch an Art. 20a GG, aus dem ein ähnlicher Gedanke abgeleitet wird (Löw 1993: 27; Peschel-Gutzeit 1997: 2861).
Kritiker lehnen diese Lösung ab, weil ein Wahlrecht von Geburt an keine unmittelbaren rechtlichen Folgen zugunsten der eben genannten Verfassungsprinzipien habe. Einige Kritiker gehen so weit, die Forderung nach einem Wahlrecht von Geburt an in diesem Zusammenhang als abwegig zu bezeichnen (Schroeder 2003: 922 m. weit. Nachw.). Sie weisen insbesondere darauf hin, dass die anderen EU-Mitgliedsstaaten ähnliche Regelungen der Altersbeschränkung wie die deutsche Verfassung hätten. Dieses Argument erscheint besonders brüchig. Auch wenn unsere westlichen demokratischen Nachbarn ähnliche Wahlbeschränkungen in ihren Verfassungen haben, folgt daraus noch nicht, dass diese Regelung im Lichte moderner Verfassungsbetrachtung mit dem Demokratieprinzip übereinstimmt, wie es zumindest in unserer Verfassung verankert ist.
Auch sei an dieser Stelle noch einmal ein Griff in die Geschichte erlaubt: Zu allen Zeiten hat es Forderungen nach Ausdehnung des all-gemeinen Wahlrechts gegeben, zu allen Zeiten hat es auch Gegner gegeben. Stets wurde den Forderungen entgegengehalten, eine Ausdehnung des Wahlrechts sei nicht verfassungsgemäß. Dies war zuletzt in der Schweiz zu beobachten, als die Eidgenossen sich sehr schwer damit taten, Frauen das allgemeine Wahlrecht einzuräumen. Vermutlich stand auch hier die Beurteilungsfähigkeit als Hindernis im Raum. Die Schweizer Bürgerinnen haben sich letztlich durchgesetzt, so wie 1918 die deutschen Frauen. Diese Entwicklung haben unsere Verfassungen verkraftet. Und die Kritiker, die vor Verdikten nicht zurückschrecken, müssen sich fragen lassen, wie sie es denn mit der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft halten. Wenn, wie Art. 3 Abs, 1 formuliert, alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, bleibt die Frage unbeantwortet, warum dies nach der deutschen Verfassung im Blick auf die Wahl nur für Menschen ab 18 Jahren gilt. Fragen über Fragen, die ein geübter Verfassungsrechtler zwar juristisch präzise beantworten kann, die aber verfassungspolitisch offen und unbeantwortet bleiben.
Bevor wir uns damit den gesellschaftspolitischen Fragen zuwenden, nur noch ein kleiner rechtlicher Hinweis: Die Wahlstimme eines Kindes üben nach unserem Modell die Eltern aus. Ist nur ein Elternteil sorgeberechtigt, tut er es allein. Sind beide sorgeberechtigt, üben sie das Recht – wie auch sonst – gemeinsam aus. Technisch gibt es dafür ebenso Lösungsmöglichkeiten wie für Konfliktfälle. Rechtlich geht es, wenn man es denn will!
Gesellschaftspolitische Überlegungen
Viele Menschen fragen: Was soll ein Wahlrecht von Geburt an? Das würde doch gar nichts ändern. Wenn die Eltern für die Kinder wählen, werden die Eltern halt mit einer weiteren Stimme so wählen, wie sie ohnehin schon wählen. Die Verteilung der politischen Gewichte bliebe ganz unverändert.
Dieses Argument ist nicht etwa eine Prognose, sondern eine Hypothese, die durch nichts belegt wird. Hätten junge Menschen von der Geburt an das Recht, an Wahlen zum Deutschen Bundestag teilzunehmen, so würde dieses Recht zwar von ihren Eltern ausgeübt, ebenso wie die Eltern alle anderen Entscheidungen für und im Interesse ihrer minderjährigen Kinder treffen. Aber irgendeinen Hinweis, geschweige denn Beweis für die Annahme, diese Eltern würden die Stimmen der Kinder genauso verwenden wie ihre eigene Elternstimme, gibt es nicht. Ebenso gut ist vorstellbar, dass nachdenkliche Eltern für sich selbst eine bestimmte politische Richtung wählen, sich zugleich aber fragen, ob dies eine Entscheidung ist, die auch aus Sicht der Kinder und für die Kinder, gemessen an der Zukunft, die richtige ist. Hierfür ein Beispiel:
Vater und Mutter sollen traditionell wählen, Vater CDU, Mutter SPD. Sie haben zwei minderjährige Kinder. Deren Wahlstimme können sie nun jeweils ihrer eigenen Überzeugung zuschlagen, so dass diese Familie zweimal CDU und zweimal SPD wählen würde. Genauso gut aber ist vorstellbar, dass die Eltern zu dem Ergebnis kommen, für die Kinder und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes müssten die Grünen oder die Freien Demokraten oder wer auch immer gestärkt werden.
Diese Annahme ist genauso konkret oder abstrakt wie die oben geschilderte Hypothese der Kritiker. Unser Beispiel zeigt aber noch etwas anderes: Hat unsere Musterfamilie die beiden Wahlstimmen der Kinder zu verwalten, wird sie die anstehende Wahl mit den Kindern besprechen. Dies wird nicht geschehen, solange die Kinder klein sind. Aber die Beurteilungsfähigkeit und Verstandesreife der Kinder nimmt permanent zu. Und die Eltern sind schon jetzt nach dem Gesetz verpflichtet, bei der Pflege und Erziehung die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewussten Handeln zu berücksichtigen (§ 1626 Abs. 2 BGB). Das Gesetz verlangt den Eltern ab, Fragen der elterlichen Sorge mit dem Kind zu besprechen und Einvernehmen mit dem Kind anzustreben. Diese seit gut 20 Jahren im Gesetz befindliche Bestimmung bedeutet, dass die Eltern nicht über die eigene Meinung der Kinder hinweggehen dürfen, sondern wichtige Entscheidungen mit ihnen zu besprechen und nach Möglichkeit auch ein Einvernehmen herzustellen haben. Die Vision derer, die das Wahlrecht von Geburt an fordern, geht dahin, dass dann die Eltern schon sehr frühzeitig beginnen werden, eine anstehende Bundestagswahl im Familienkreise zu erörtern. Sie werden erleben, dass die jungen Menschen möglicherweise andere Vorstellungen als sie selbst von der politischen Entwicklung unseres Landes haben, dass sie andere politische Wünsche verfolgen, andere Forderungen aufstellen usw.
Stellt man sich dann noch vor, dass auch das Bundeswahlgesetz geändert werden könnte, dass dieses Gesetz das sogenannte Wahlgeheimnis lockern und den Eltern gestatten könnte, die von ihnen vertretenen Kinder mit zur Wahl zu nehmen und auch mit in die Wahlkabine hinein zu nehmen, wird deutlich, dass auf diese Weise ein ganz anderer politischer Diskurs entstehen könnte, als wir ihn derzeit haben.
Überall wird Politikverdrossenheit und Parteienverdrossenheit beklagt. Die Bundesländer, die das Wahlalter zu Landtagswahlen um ein oder zwei Jahre gesenkt haben, beklagen, dass diese jungen Menschen an der Wahlteilnahme nicht interessiert seien. Welche Gründe auch immer dafür verantwortlich sein mögen, wir sind überzeugt davon, dass politisches Interesse als Teil der Erziehung entwickelt werden kann und entwickelt werden muss. Zugleich ist ein solcher familiärer Diskurs eine wichtige Erkenntnis und ein ebenso wichtiger Lerninhalt für die Eltern.
Die Rechte der Jungen in einer Gesellschaft der Alten
Warum wollen inzwischen sehr viele Einzelpersönlichkeiten und Institutionen das Wahl-recht von Geburt an? Warum setzen sich prominente Politiker wie Altbundespräsident Roman Herzog, der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, die Bundesministerin Renate Schmidt, die Bundestagsabgeordneten Eppelmann, Solms und Haupt, die Wirtschaftskapitäne Hans-Olaf Henkel und Roland Berger, warum setzt sich Kardinal Lehmann für das allgemeine Wahlrecht von Geburt an ein? Diese Persönlichkeiten stehen weder in dem Verdacht, romantische Schwärmer zu sein, noch sind sie einer bestimmten politischen Richtung zuzurechnen. Das gilt auch für die 46 Abgeordneten aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen, darunter Wolfgang Thierse, Antje Vollmer, die mit ihrem Entschließungsantrag vom 11. September 2003 (BT-Drs 15/1544) die Bundesregierung aufgefordert haben, einen Gesetzesentwurf zur Einführung eines Wahlrechts von Geburt an durch Änderung von Art. 38 GG vorzulegen und dieses Wahlrecht so zu gestalten, dass die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechts werden, dieses Recht aber treuhänderisch von ihren Eltern ausgeübt wird. Die Vielfalt dieser Stimmen macht deutlich, dass eine gesellschaftspolitische Überzeugung entstanden ist, die Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess hierzulande zu verändern. Diese Forderung ist übrigens nicht neu: In der Wissenschaft wird sie seit mehr als 25 Jahren erhoben.
Allen diesen Befürwortern geht es darum, unsere Gesellschaft dort flexibel zu halten oder aber auch flexibler zu machen, wo Erstarrung droht. Gerade jetzt ist der notwendige politische Diskurs in Gang gekommen, weil die politischen Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte heute nicht mehr tragen. Das gilt für unsere sozialen Sicherungssysteme ebenso wie für die Handhabung der Staatshaushalte. Und auf anderen Gebieten, denkt man nur an die Umwelt und an die Biotechnologie und an die Erhaltung der Ressourcen für nachwachsende Generationen, gilt nichts Anderes. Roman Herzog hat es auf den Punkt gebracht, indem er darauf hingewiesen hat, dass ältere Menschen nicht mehr zur Erneuerung der Gesellschaft neigen, während junge Menschen die Veränderung an-streben (Bild am Sonntag vom 7. Mai 2000).
Überwiegt aber die Zahl der älteren und alten Menschen die der jungen disproportional, könne aus dieser Entwicklung eine gewisse politische Blockade entstehen, also zur Verhinderung aller notwendigsten Veränderungen führen. Eben dies erleben wir derzeit. Wer z.B, versucht, auch nur geringfügige Veränderungen bei der Rente umzusetzen, hat umgehend Hunderttausende von protestierenden Menschen auf der Straße. Dabei ist der Kampf der Generationen längst entbrannt, der bisher nur mühsam unter der Decke gehalten wurde.
Weil wir Unmenschlichkeiten auch künftig verhindern wollen, müssen Instrumente gesucht und gefunden werden, um die Interessen aller jungen Menschen endlich legitim in den politischen Prozess einzuführen. Dies geht nur, wenn alle – auch junge – Menschen wählen können. Denn nur durch die Ausübung des Wahlrechts können sie ein politisches Mandat erteilen.
Die Stichworte wie Generationenvertrag und Generationengerechtigkeit beherrschen die Diskussionen der letzten Zeit und werden weiterhin eine große Rolle spielen. Doch geht es nicht nur um die materielle Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Es geht auch darum, zu erreichen, dass die Kinder in ihrem Wert und in ihrer Menschenwürde ebenso wahrgenommen und ebenso wertgeschätzt werden, wie dies alle deutschen Menschen ab 18 Jahren in unserer Republik für sich in Anspruch nehmen. Dies ist das Ziel der Initiative Wahlrecht von Geburt an, hierfür kämpfen wir und wir freuen uns sehr, dass wir dies inzwischen nicht mehr allein tun. Vor allem der Deutsche Familienverband und der Verein Allgemeines Wahlrecht haben dieses Thema auf ihre Fahnen geheftet und die Zahl der kämpfenden Befürworter wird immer größer. Wir sind sicher, dass auch die Bastion der – vor allem verfassungsrechtlich argumentierenden – Kritiker eines nicht fernen Tages fallen wird.
* Dieser Beitrag basiert auf dem Eröffnungsvortrag, der am 7. November 2003 auf der Jahrestagung der Deutschen Liga für das Kind in Köln gehalten wurde.
[1] Zur Geschichte des Wahlalters vgl. Morlok 1998: Rn 8ff.; Hattenhauer 1996: lOff.; Peschel-Gutzeit 1997: 2861; Schroeder 2003: 919.
Literatur
Böckenförde, Ernst-Wolfgang 1998: Demokratische Willensbildung und Repräsentation; in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts Bd. II, 2. Aufl., Heidelberg, § 30
Boldt, Hans 1993: Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. II, München
Grimm, Dieter 1995: Braucht Europa eine Verfassung?; in: Juristenzeitung 50, S. 581-591 Hattenhauer, Hans 1996: Über das Minderjährigenwahlrecht; in: Juristenzeitung, S. 9-16
Löw, Konrad 1993: Verfassungsverbot Kinderwahlrecht? Ein Beitrag zur Verfassungsdiskussion; in: Familie und Recht, S. 25-28
Magiera, Siegfried 2003: Art. 38; in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl., München
Mangoldt, Hermann von/Klein, Friedrich 1999:
Art. 38; in: Dies.: Das Bonner Grundgesetz,
Bd. II, Art. 29 bis 78, 4. Aufl., München
Maunz, Theodor/Düng, Günter 1994: Art. 38; in:
Dies.: Kommentar zum Grundgesetz, München Morlok, Martin 1998: Art. 38; in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Tübingen
Pechstein, Matthias 1991: Wahlrecht für Kinder; in: Familie und Recht, S. 142-146
Peschel-Gutzeit, Lore Maria 1997: Unvollständige Legitimation der Staatsgewalt oder: Geht alle Staatsgewalt nur vom volljährigen Volk aus?; in: Neue Juristische Wochenschrift, S. 2861-2862
Schroeder, Werner 2003: Familienwahlrecht und Grundgesetz – Zu Überlegungen, ein Wahl-recht für Kinder einzuführen; in: Juristenzeitung, S. 917-923