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Gewaltige Sprünge

30. August 2020
Die Zahl der Kirche­n­aus­tritte im Westen schnellt empor – Reaktion auf die jüngsten Steuer­er­hö­hun­gen.
aus: Der Spiegel vom 1. 4. 1991

Daß Katholiken ihrer Kirche doppelt so treu sind wie Protestanten, galt unter Fachleuten jahrelang als unumstritten. Von 1967 bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein waren die Austrittszahlen der katholischen Kirche in der Bundesrepublik allenfalls nur halb so hoch wie in der evangelischen Kirche: Immer lagen sie weit unter einem halben Prozent der Kirchenmitglieder.

Als vor vier Jahren Paulus Rauch, damals Referent für Statistik im Bonner Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, in einem Text für die Presse von einer Tendenz zu Massenaustritten auch in der katholischen Kirche sprach, strich Prälat Wilhelm Schätzler, der Sekretär der Bischofskonferenz, die Passage einfach heraus – so unsinnig erschien sie ihm. Katholische wie protestantische Kirchenspitzen hatte lange Zeit beeindruckt, daß die Massenaustritte von 1970 und 1974, damals verursacht durch das Protestpotential der 68er Generation und deren Verärgerung über Steuererhöhungen, schnell wieder abgeflacht waren (siehe Schaubild).

Mittlerweile fühlt sich der Kirchenstatistiker Rauch in seinem Pessimismus bestätigt: Langsam, aber stetig haben sich – von den beiden Ausschlägen am Anfang der siebziger Jahre abgesehen – die jährlichen Austritte in der katholischen Kirche von 20000 im Jahre 1953 auf 93000 im Jahre 1989 hochgeschraubt. Und aufgrund jüngster Zahlen aus bundesdeutschen Pfarreien vermutet Rauch, daß im vorigen Jahr die 100000er Marke überschritten worden ist, weit über den Spitzenwert von 1974 hinaus.

Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in einigen westdeutschen Großstädten ergab, daß die von der Bundesregierung beschlossenen Steuererhöhungen bereits im März zu einer Verdopplung der Austrittszahlen gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres geführt haben – obgleich sich die Kirchensteuer selbst nicht erhöht. Die Erklärung für die Austritte ist einfach. „Aus dem großen Reservoir der kirchlich Abständigen”, meint Rauch, verabschiede sich nun jene Gruppe, „die sich eben gerade so weit von ihrer Kirche entfernt hat, daß eine Steuererhöhung den entsprechenden Anreiz zum Austritt darstellt” Rauch: „Das sind, wie sich gezeigt hat, nicht wenige.”

Auch der Abstand zwischen den Austrittszahlen der katholischen und der evangelischen Kirche hat sich verringert. Die alte Faustregel – Austritte bei Protestanten etwa doppelt so hoch wie bei Katholiken – gilt seit 1986 nicht mehr. Die Katholiken holen seither auf. Während die Austritte in der evangelischen Kirche von 1964 bis 1989 um 252 Prozent anstiegen, kletterten die Austritte der Katholiken im selben Zeitraum um 294 Prozent. „Die Entwicklung”, resümiert Rauch, „verläuft in gewaltigen Sprüngen nach oben.“

Zwischen 1988 und 1989 stieg die Zahl der Austritte bei den Katholiken um ungewöhnliche 17 Prozent. Einen derartigen Schub hatte es zuletzt vor sechs Jahren gegeben. Es sei keineswegs unwahrscheinlich, so Rauch, daß die Austrittszahlen der katholischen Kirche in den nächsten Jahren parabelförmig in die Höhe schnellen.“ Daß bislang weit weniger Katholiken als Protestanten ihre Kirche verlassen haben hat naheliegende Gründe. Eine strenge und mit zahlreichen, angeblich unfehlbaren Dogmen abgesicherte Hierarchie hatte ihren Gläubigen jahrhundertelang eingeredet, der Weg ins Paradies führe ausschließlich über die Kirche. Ein Verstoß gegen Dogmen und Gebote aber könne, von Austritt ganz zu schweigen, womöglich im ewigen Höllenfeuer enden. Anders als im vergleichsweise liberalen Protestantismus ist ein formeller Kirchenaustritt für einen Katholiken deshalb mit wesentlich mehr Ängsten verbunden. Wie tief sie bei vielen Christen sitzen, zeigt die hohe Zahl jener Menschen, die sich zwar faktisch von ihren Kirchen längst verabschiedet haben, aber nicht formell ausgetreten sind.

Als Indikator für die Bindung der Gläubigen an ihre Kirchen gilt Statistikern und Soziologen der sonntägliche Kirchenbesuch, mit dem es in der katholischen Kirche seit 1961 kontinuierlich bergab geht: von damals 48,4 Prozent herunter auf 23,1 Prozent im Jahre 1987 und schätzungsweise 20 Prozent 1990. Bei den Protestanten gingen 1988 lediglich 5,2 Prozent regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst. Ein Ende des Trends ist nicht abzusehen.

Im Gegenteil: Der große »historische Einbruch“ steht beiden Konfessionen nach Meinung des Tübinger Pastoraltheologen Norbert Greinacher »nahezu unausweichlich erst noch bevor“, aus zwei Gründen. Den Kindern der heutigen Taufschein-Christen, die von ihren Eltern kein Vaterunser und keine irrationalen Ängste mehr mitbekommen haben, wird beim Anblick ihrer ersten Lohn- oder Einkommensteuererklärung schnell bewußt werden, daß sie der Kirche quasi für nichts monatlich Geld überweisen. Eines ihrer ersten Rechtsgeschäfte könnte dann sehr leicht die Austrittserklärung vor dem Amtsgericht oder dem Standesamt sein.

Eine zweite, immer größer werdende Gruppe braucht erst gar nicht auszutreten, weil sie nie eingetreten ist: Heute bereits werden in manchen Großstädten rund 5O Prozent der Kinder christlicher Eltern jedenfalls während des ersten Lebensjahres nicht mehr getauft, ein Großteil von ihnen auch später nicht. „Die Sozialisation in der Kirche ist bereits jetzt total zusammengebrochen”, konstatiert Greinacher: Nahezu alle alten Bindungselemente wie ein christliches Elternhaus, Jugendverbände, Religionsunterricht, Erstkommunion oder Kirchenbesuch sind ersatzlos weggebrochen.“

Selbst Kirchenführer wissen genau um den bevorstehenden Big Bang, und die Ehrlichen unter ihnen sagen es auch ziemlich unverblümt. So schätzt der Kölner Stadtdechant Johannes Westhoff: daß allenfalls noch zehn Prozent der Kölner Katholiken auch Kirchenbesucher seien. In der Domstadt entfielen demnach auf einen Pfarrer nur noch 233 praktizierende Katholiken. „Jeder Arzt versorgt mehr Patienten“, klagt Westhoff, „wir sind eine Minderheit geworden.“

Nach Ansicht des Limburger Bischofs Franz Kamphaus befindet sich die Kirche derzeit in einer „Übergangsphase von der Volkskirche zu einer neuen Sozialgestalt von Kirche, die sicher nicht mehr die gewohnten Ausmaße haben wird.“ Die von Kamphaus prognostizierte Kirche der „kleinen, überschaubaren Gruppen” ist in den fünf neuen Bundesländern schon Realität. In der Ex-DDR sind nach einer Umfrage des Unabhängigen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Berlin nur 26,7 Prozent der Bürger noch Kirchenmitglieder (22,5 Prozent evangelisch, 4,2 Prozent katholisch). Und fast die Hälfte dieser Christen ist auch noch älter als 60.

Bereits jetzt haben die west- und vor allem die ostdeutschen Austritte die Konfessionslandschaft in Deutschland massiv verändert: Von den fast 80 Millionen Deutschen gehören nur noch 60,2 Millionen (76 Prozent) einer der beiden christlichen Kirchen an; im Jahr 1945 waren es noch 95 Prozent gewesen.

Nach Protestanten (32,5 Millionen) und Katholiken (27,7 Millionen) bilden die Konfessionslosen mittlerweile die drittgrößte Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik. Die viertgrößte Gruppe stellt mit 1,7 Millionen der Islam. Die Aussichten für die großen Kirchen sind so schlecht, daß unter Kirchenführern wieder der Glaube an Wunder wächst. Peter Beier etwa, Präses der Rheinischen Landeskirche (3,3 Millionen Mitglieder), schaut trotz rund 19000 Austritten pro Jahr „voller Zuversicht” in die Zukunft: „Das gebietet schon unser Glaube.”

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