Beitragsbild Die Kriminalstatistik: Sicherheitsbarometer oder Tätigkeitsnachweis der Polizei?
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Die Krimi­nal­sta­tis­tik: Sicher­heits­ba­ro­meter oder Tätig­keits­nach­weis der Polizei?

30. August 2020
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Gegen die Krimi­nal­po­litik mit der Angst

Verlagsbeilage der Humanistischen Union in der tageszeitung (taz) vom September 1998 (Redaktion: Roland Otte)

 

von Werner Lehne

In der öffentlichen Debatte über Kriminalität und Innere Sicherheit wird auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) regelmäßig als vermeintlich objektives Sicherheitsbarometer Bezug genommen. Eine wachsende Anzahl von registrierten Straftaten gilt als Beleg für eine dramatische Zunahme der Bedrohung durch Kriminalität, eine zunehmende Registrierung von einzelnen Delikten als Indikator entsprechender Problemverschärfung. Aktuell findet sich besonders häufig der Verweis auf die Zahlen zur polizeilich registrierten Jugendkriminalität. Eine 10%ige Zunahme (jeweils von 1996 auf 1997) der als Tatverdächtige registrierten Kinder gilt als Nachweis für ein massives Anwachsen der „Kinderkriminalität“, der Anstieg der Registrierungen deutscher Jugendlicher wegen Körperverletzung um 17% und wegen Raubdelikten um 19% als Beleg für die „Explosion“ der Jugendgewalt.

Damit werden selektiv Zahlenwerte aus der PKS herausgegriffen, die die Wahrnehmung eines dramatischen Anstiegs der Kriminalität zu stützen scheinen. Es gibt aber eine ganze Reihe von Entwicklungen, die konträr zum verbreiteten Kriminalitätsszenario verlaufen:

  • In den letzten vier Jahren ist die registrierte Gesamtkriminalität konstant bis rückläufig, und zwischen 1980 und 1990 nur halb so stark gestiegen wie zwischen 1970 und 1980.
  • Die Anzahl der registrierten Tötungsdelikte ist seit Jahrzehnten weitgehend gleichbleibend.
  • Die Anzahl der registrierten Fälle des „sexuellen Mißbrauchs von Kindern“ weist über die letzten Jahre eine relative Konstanz auf einem Niveau erheblich unter den Werten von 1970 und 1980 auf.
  • Die Anzahl der registrierten „Sexualmorde“ lag 1980 um über 50% höher als in den 90er Jahren.

Diese Zahlen scheinen eher Anlaß für Entwarnung zu geben. Allerdings wäre ein solcher Bezug auf die PKS genauso unseriös wie der momentan vorwiegend praktizierte. Die PKS ist nämlich kein objektives Abbild des gesellschaftlichen Kriminalitätsaufkommens. Sie ist eine staatliche Registratur, die nach spezifischen Regeln zustande kommt und über ganz andere Fragen als die gesellschaftliche Sicherheitslage Auskunft gibt.

Vor allem drückt die PKS aus, in welchem Umfang strafrechtsrelevante Vorkommnisse an die Polizei herangetragen wurden. Etwa 90% der erfaßten Straftaten gehen auf private Anzeigen zurück. Aus der Forschung weiß man, daß die Anzeigeerstattung bei der Polizei keineswegs selbstverständlich ist, sondern sehr selektiv stattfindet – je nach Delikt in 10 bis 80% der Fälle. Die Anlässe zur Anzeige reichen dabei von dem banalen Umstand, daß viele Versicherungen eine Anzeigeerstattung zur Voraussetzung der Schadensabwicklung z.B. bei Fahrraddiebstählen machen, über Situationen der Hilflosigkeit, in denen Unterstützung von der Polizei und Justiz erwartet wird, bis zu den eher seltenen Fällen eines expliziten Strafbedürfnisses.

Was von der Polizei als Kriminalität registriert wird, ist weitgehend Ausdruck dieses Anzeigeverhaltens der Bevölkerung. Entwicklungen der registrierten Gesamtkriminalität reflektieren den Wandel des Anzeigeverhaltens. Massive Anstiege der vermerkten Kriminalität in den letzten 30 Jahren lassen sich als Resultat gesellschaftlicher „Modernisierung“ erklären (Verbreitung von Versicherungsschutz, Professionalisierung der Verfolgung des Ladendiebstahls, zunehmende Formalisierung der Konfliktaustragung etc.), die zu einer häufigeren Mobilisierung von Polizei und Strafrecht geführt hat.

An die Stelle informeller sozialer Kontrolle tritt die formelle staatliche Kontrolle. So sind auch die hohen Zuwachsraten bei der Registrierung jugendlicher Tatverdächtiger wegen Gewaltdelikten keineswegs mit einer tatsächlichen Zunahme von Jugendgewalt gleichzusetzen. Sie sind genauso Hinweis auf eine veränderte gesellschaftliche Praxis im Umgang mit gewaltbesetztem Verhalten von Jugendlichen, das zunehmend über eine Anzeige bei der Polizei einer justitiellen Weiterbearbeitung zugeführt wird.

Die PKS sagt auch etwas darüber aus, welche Arbeitsschwerpunkte die Polizei setzt. Es gibt einige Delikte, bei denen es ausschließlich von der aktiven Kontrolltätigkeit der Polizei abhängt, in welchem Umfang sie in der PKS in Erscheinung treten. So ist gerade in den letzten Jahren die steigende Anzahl der registrierten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz das Ergebnis intensivierten polizeilichen Vorgehens gegen „offene Drogenszenen“ und unvermeidliches „Abfallprodukt“ verschärfter Kontrollen, die eigentlich gar nicht auf die Bestrafung von Konsumenten abzielen, sondern lediglich deren Verdrängung aus bestimmten städtischen Regionen zum Ziel haben.

Eine seriöse Bezugnahme auf die Zahlenangaben der PKS hat den genannten Zusammenhängen Rechnung zu tragen. Als Indikator der gesellschaftlichen Sicherheitslage ist die PKS ungeeignet. Sie ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Einsatzes polizeilicher und strafrechtlicher Ressourcen im Rahmen der Verarbeitung unterschiedlichster Problemlagen. Sie sagt etwas darüber aus, in welchem Ausmaß und in welchem Kontext Privatpersonen und kommerzielle Kontrolleure diese Ressourcen mobilisieren und mit welcher Intensität und Selektivität die Polizei im Bereich „opferloser“ Delikte Kontrollen durchführt.

Dr. Werner Lehne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie an der Universität Hamburg. Zum Thema „Kriminalitätsstatistik und Kriminalpolitik“ veröffentlichte er zuletzt einen Artikel in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität, (Dietz-Verlag) Bonn 1998.

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