Themen / Sozialpolitik

Misshandelt, eingesperrt, entmündigt. Die Würde alter Menschen wird täglich verletzt

20. März 2002

Grundrechte-Report 2002, S. 71-78

Menschen­un­wür­dige Bedingungen in Pflege­heimen

Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte kam am 31. August 2001 für die Bundesrepublik zu einem erschreckenden Befund: «Das Komitee gibt seiner großen Sorge Ausdruck über die menschenunwürdigen Bedingungen in Pflegeheimen infolge von strukturellen Mängeln im Pflegebereich. » Das UN-Gremium forderte die Bundesrepublik dringend zu Maßnahmen auf, die Situation in den Pflegeheimen zu verbessern.

Das Votum des UN-Gremiums stützte sich wesentlich auf einen Bericht des «Forums zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger Menschen» über durchgeführte Qualitätsprüfungen, die schlimme Defizite in der stationären Altenpflege belegen. Unter anderem

• sind bis zu 85 Prozent der Bewohner unterernährt,

• leiden ca. 36 Prozent an Austrocknung durch zu wenig Flüssigkeitsaufnahme,

• leidet jede/r Dritte an akuten Folgeschäden mangelhafter Pflege, ist zum Beispiel wund gelegen,

• ist die Pflege nur in knapp 5 Prozent aller Fälle angemessen.

Eine Presseauswertung ergänzt das düstere Bild: Aufgeführt werden Fälle von Gewalt und Freiheitsentzug, Einschüchterung und Demütigung: Oft werden zeit- und personalintensive Grundpflegehandlungen durch technische Verfahren ersetzt. So werden etwa Windeln benutzt und Katheter angelegt, statt beim Gang zur Toilette zu assistieren. Es werden Magensonden eingeführt und Infusionen gegeben, statt beim Essen zu helfen, und statt Zuwendung gibt es Beruhigungsmittel. So ist zu fragen: Ist Altern in Würde in deutschen Pflegeheimen nicht möglich? Sind die Betroffenen nicht in der Lage, ihre Rechte einzuklagen oder anders durchzusetzen? Sind Pflegeheime ein rechtsfreier Raum? Herrschen «besondere Gewaltverhältnisse» wie in Gefängnissen?

Beispiele

Bei einer täglichen Pflegezeit von meist unter einer Stunde werden problematische Patienten oft «ruhig gestellt», sei es durch technische Fixierungen wie Bettgitter, Beckengurte, Fesseln oder chemisch durch «Sedierung », die Vergabe von Psychopharmaka bis zum Wegdämmern. Dabei gilt, dass eine freiheitsbeschränkende Maßnahme nicht ohne Billigung des Patienten oder seines Betreuers erfolgen darf. Nur bei Gefahr im Verzug kann der Arzt vorab entscheiden. Jede regelmäßige oder länger andauernde Freiheitsentziehung bedarf einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung.

Zulässig ist jeweils nur der geringste Eingriff in Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht: nach sorgfältiger Abwägung möglicher Selbst- oder Fremdgefährdungen. Die «Aktion gegen Gewalt in der Pflege» (verschiedener Alten- und Sozialorganisationen) nennt für das Jahr 1995 eine Zahl von ca. 23000 richterlich genehmigten Fixierungen.

Hierzu führt der Chefarzt des Gerontopsychiatrischen Zentrums Bonn, Rolf D. Hirsch, die Erkenntnisse einer Studie des Jahres 1998 an: Eine Stichtagserhebung ergab bundesweit hochgerechnet rund 400 000 freiheitsbeschränkende Maßnahmen in den ca. 10000 Heimen – pro Tag! Da auch mehrere freiheitsentziehende Maßnahmen pro Person erhoben wurden, ist die Anzahl betroffener Menschen zwar weit niedriger. Das erkennbare Missverhältnis lässt aber eine hohe Dunkelziffer illegaler Fixierungen in den Heimen vermuten.

Das Dunkelfeld ambulante Pflege

Ein Prozent unserer Bevölkerung lebt im Heim, davon rund 660000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen; etwa die Hälfte dieser Menschen ist schwer oder schwerst pflegebedürftig. Dies sind zum größten Teil sehr alte Menschen; das durchschnittliche Eintrittsalter in das Pflegeheim liegt bei 87 Jahren. Doch nur ein kleiner Teil aller Pflegebedürftigen lebt im Heim: Insgesamt 1,8 Millionen Menschen erhalten derzeit Leistungen der Pflegeversicherung für regelmäßige Pflege. Hinzu kommen Personen ohne Anspruch auf Pflegegelder, die auf unregelmäßige Pflege oder ab und zu auf Hilfe im Haushalt angewiesen sind, darunter viele der ca. sechs Millionen Schwerbehinderten nach Sozialge setzbuch. Schätzungsweise achtzig bis neunzig Prozent aller Pflegebedürftigen werden in Privatwohnungen versorgt. Die absolute Zahl aller Menschen mit – auch geringem – häuslichem Pflegebedarf lässt sich jedoch nicht ermitteln. Erkenntnisse über diese graue Zone der Pflege ergeben sich oft nur, wenn bekannt gewordene Einzelbeispiele misslungener Pflege ein Schlaglicht darauf werfen.

Tatort Pflege

Gewalt gegen ältere Menschen ist alltäglich geworden: Nach einer Veröffentlichung der Bundesfamilienministerin werden jährlich 600000 Ältere zum Opfer von Gewalt durch Nahestehende. Meist ist dies körperliche Gewalt, nicht selten sind es aber auch Freiheitseinschränkungen, psychisches Quälen oder Übervorteilungen durch Verwandte, Nachbarn, Pflegende oder Betreuer, deren vorgeschriebene Kontrolle durch Vormundschaftsgerichte angesichts der großen Zahl an Vormundschaften kaum zu leisten ist. Solche Übergriffe – durch Tun oder Unterlassen – bleiben ungezählt, auch weil sie subjektiv unterschiedlich empfunden werden und weil die Scham Täter und Opfer schweigen lässt. Ursachen sind Hilflosigkeit, Überforderung und Frustration. Notrufstellen berichten von Lieblosigkeit, jahrelang aufgestauten Aggressionen bis hin zu systematischen Züchtigungen. Nur wenige Skandalmeldungen schrecken auf. Es gibt verschiedene Formen der Misshandlung von alten Menschen. Einen Überblick gibt R. D. Hirsch (siehe Nachweise am Schluss des Beitrags).

Zunahme der Pflege­zahlen

Mittelfristig ist mit einer progressiven Zunahme von Pflegefällen zu rechnen. Vorausberechnungen ergeben für das Jahr 2015 knapp eine Million Heimbewohner, bis 2040 muss mit drei Millionen Pflegebedürftigen gerechnet werden. Für eine zusätzliche Verschärfung der Pflegesituation sorgt die «doppelte Alterung »: einerseits die demographische Alterung der Gesellschaft (auch als Ausgleich früherer Kriegslücken), andererseits die Tatsache, dass die Menschen immer älter werden. Daraus folgen zwei weitere Faktoren für die Zunahme von Pflegefällen: die fortschreitende Vereinzelung im Alter sowie die gleichzeitige Alterung der möglichen «Versorgerhaushalte». Rechnerische Unterschiede zwischen langfristigen Modellrechnungen ergeben sich übrigens vor allem aus verschiedenen Annahmen zur niedrigen Geburtenquote und zur Entwicklung der Zuwanderung. Die mittelfristige Anzahl künftiger Pflegefälle steht bereits heute relativ sicher fest.

Versagen des Pflege­markts

Pflege hat Konjunktur: Seit 1992 hat sich die Anzahl der Pflegedienste auf über 12000 verdreifacht, zwei Drittel davon sind privat organisiert. Inzwischen arbeiten knapp 200000 Pflegekräfte in ambulanten Diensten; weitere werden gesucht, auch ungelernte oder geringfügig Beschäftigte. Den Bedarf an einfacher Hilfe zeigt die umstrittene Legalisierung unzähliger bislang illegal arbeitender Hilfskräfte, die nun erstmals eine Arbeitserlaubnis erhalten. Ein bedenkenswerter Vorschlag aus den Reihen der Humanistischen Union fordert eine abgabefreie Beschäftigungsmöglichkeit für solche Pflege- und Haushaltshilfen, die nur wenige Stunden monatlich zur Unterstützung von Älteren benötigt würden, um deren Unabhängigkeit zu Hause bewahren zu können.

Die derzeitigen Regelungen bewirken eine wenig humane Rationalisierung und Rationierung von Pflege. Für die Abrechnung zählen nur genau definierte Handreichungen im Minutentakt: Drei Minuten für das Rasieren, zwei Minuten für das Kämmen usw. Die Abrechnung nach festen Tarifen vernachlässigt die psychosoziale Seite der Versorgung, anstelle des Persönlichen tritt Rationalisierung unter Kostendruck: anonyme Bettenburgen für Schwerkranke, Mehrbettzimmer, vorgegebener Tagesablauf, Anstaltskleidung und kein Freigang für Demente, Abhetzen und fehlendes Personal in Pflegealltag und Nachtdienst. Auch gut ausgebildete Kranken- und Altenpfleger sind angesichts knapper Zeitvorgaben und menschlicher Grenzsituationen oft physisch und psychisch überfordert. Die Folge sind Pannen, Fehlentscheidungen und falsches Verhalten.

Verbes­se­rung der Pflege durch Gesetze?

An gesetzlichen Regelungen für die Pflege herrscht kein Mangel. Einschlägig sind zum Beispiel das ins Sozialgesetzbuch eingefügte Pflegegesetz, die Heim-Mindestbauverordnung und die Pflegeleistungsverordnung. Weitere, kaum übersehbare Sozialvorschriften führen gerade zum Beginn einer Pflege oft zu juristischem Durcheinander in Abgrenzungsfragen zwischen den Sozialleistungsträgern. Abzuwarten ist, ob die seit Jahresbeginn 2002 geltenden Gesetze zur Altenhilfe Besserung bringen. Eine strukturelle Verbesserung zur Weiterentwicklung der Pflegequalität wird von der Neufassung des Heimgesetzes erwartet, das unter anderem die Heimaufsicht stärken (mindes tens jährlich eine Überprüfung, auch unangemeldet), Leistungen aufschlüsseln und Entgeltbestandteile in den Heimverträgen sowie die Öffnung der Heimbeiräte für Dritte regeln soll. Ebenfalls zum 1. Januar 2002 wurde das Pflegequalitätssicherungsgesetz zum Qualitätsmanagement der Pflegeheime und -dienste wirksam, das ebenfalls regelmäßige externe Überprüfungen vorschreibt. Möglich wird damit auch die Schulung der Pflegenden im häuslichen Umfeld; die Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Diensten und der staatlichen Heimaufsicht soll verbessert werden. Mit Wirkung zum 1. August 2001 sollte ein Altenpflegegesetz zur Vereinheitlichung der Ausbildungsvoraussetzungen in Kraft treten. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz auf Antrag Bayerns vorerst suspendiert.

Die fünf großen Sozial- und Altenorganisationen begrüßen die formulierten Ziele der neuen Gesetze, rechnen aber mit enormen Vollzugsdefiziten. Unklar sei, wie die vorgesehenen Regelungen um- bzw. durchgesetzt werden sollen. Es sei den völlig unterbesetzten Heimaufsichten der Länder und Kommunen gar nicht möglich, die rund 8000 Alten- und 2900 Behinderteneinrichtungen mit ihren fast 800000 Plätzen wirksam zu kontrollieren.

Der Mensch als Maßstab der Pflege

Was wäre zu tun, um den Forderungen der Vereinten Nationen – und der Menschlichkeit – genügen zu können? Es gibt genügend sinnvolle Vorschläge. Geboten ist ein radikaler Umbau der Pflegestrukturen. Pflegeorganisationen fordern die Berücksichtigung der persönlichen Bedürfnisse, andere Vorgaben und Abrechnungsverfahren. Der notwendige Bedarf an Pflegeleistungen und -zeit lässt sich beispielsweise für jeden Bewohner in Pflege78 heimen mit dem anerkannten Bemessungsverfahren PLAISIR© weit besser ermitteln, als es die derzeitige Messung einzelner Pflegehandlungen vermag. Die erwünschte Pflegequalität und eine persönlichere Zuwendung an die Pflegenden kann nur durch mehr und besser qualifiziertes Personal geleistet werden. Das bedeutet eine Erhöhung des derzeitigen Anteils von Pflegefachkräften in Heimen. Ein solcher Ausbau der Pflegekapazitäten sollte durch einen sinnvollen Umbau der bestehenden Pflegestrukturen begleitet werden. So wäre es möglich, bisher kaum genutzte Präventions- und Rehabilitationspotenziale für Ältere zu optimieren.

Es gilt weiter, das Angebot alternativer Pflegeinhalte zu vermehren (zum Beispiel aktivierende Pflege oder ganzheitliche Pflegekonzepte). Voraussetzung hierfür wären dezentrale, wohnortnahe, kommunale, ambulante Pflegeeinrichtungen sowie die Förderung alternativer Pflegeformen wie Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege oder Formen betreuten Wohnens. Zur Vermeidung und Sanktionierung von Gewalt in der Pflege wäre an die Einrichtung von Beschwerdeinstanzen, wie zum Beispiel Ombudsleuten, sowie kommunale Notruftelefone und ortsnahe Krisenberatungsstellen zu denken.

Seit geraumer Zeit wird die Einsetzung einer Enquetekommission «Pflege und Pflegeheime» durch den Deutschen Bundestag gefordert. Ob das nach der Bundestagswahl geschieht, hängt davon ab, ob genügend öffentlicher Druck zustande kommt.

Literatur / Information

Forum zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen in Deutschland

(Internet: www.verhungern-im-heim.de/Deutsch/Parallelbericht)

Hartmut Häußermann, «Altern in der Stadt» in: motz 11/98, S. 4 ff.

Rolf. D. Hirsch: Gewalt in der Pflege (2000):

www.hsm-bonn.de docs /Gewalt_Heimen.doc

nach oben