Naziideologie entgegentreten Versammlungsrecht schützen
Mitteilungen Nr. 188, S.15-17
Am 8. Mai, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, wollen Neonazis unter Führung der NPD zum Brandenburger Tor marschieren – vorbei an dem neuen Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das sich ganz in der Nähe befindet. Derartige Opferverhöhnung und Geschichtsverdrehung muss alle empören, die noch irgendwie ethisch zurechnungsfähig sind. Solche Aufzüge erfordern den entschiedenen Protest einer wachen Zivilgesellschaft. Erfordern sie aber auch eine Verschärfung des Versammlungsrechts? Ich meine nein und befürchte, dass sich selbst Formulierungsvorschläge mit den besten Intentionen langfristig als Bumerang erweisen.
Bei Rechtsänderungen, die so elementare Grundrechte wie das der Demonstrationsfreiheit betreffen, ist höchste Vorsicht angezeigt. Mit gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Brockdorf-Urteil die Versammlungsfreiheit auf eine Stufe mit der Meinungsfreiheit gestellt, die es zu „den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ zählt. „Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist.“ Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit kommt naturgemäß ganz besonders Minderheiten zu Gute. Wer die öffentliche Meinung auf seiner Seite weiß, findet in der Regel geeignetere Möglichkeiten, sich zu äußern. Dass auch Demonstrationen stattfinden können, deren Inhalte für die überwältigende Mehrheit abwegig oder empörend sind, ist fast zwangsläufig und für sich genommen noch kein überzeugender Grund für einschränkende Gesetze. Auch wenn sich innerlich alles in mir sträubt: Die Qualität des Versammlungsrechts kann nicht in seiner Effektivität bemessen werden, die Falschen (und selbst die Falschesten der Falschen) von der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit auszuschließen.
Die starke Stellung des Demonstrationsrechts mit der grundsätzlichen Möglichkeit, Ort, Zeit und Art selbst bestimmen zu können, kommt schon seit einiger Zeit politisch unter Druck. Gerade in Berlin stört es z.B. Einzelhändler und Autofahrer, wenn der Verkehr nicht reibungslos fließt. Staatliche Organe mögen es nicht, wenn Demonstrierende an der Protokollstrecke die freundliche Repräsentation gegenüber Staatsgästen vermasseln. Da das Bundesverfassungsgericht solche Beschwerden natürlich nie als Rechtfertigungsgrund von Einschränkungen des Demonstrationsrechts akzeptieren würde, wird von manchen Parteien nun jede Nazizusammenrottung in beängstigender Dankbarkeit aufgegriffen, um an dem ungeliebten Grundrecht herumzuschnippeln. Mal soll das Demonstrationsrecht insgesamt beschnitten werden, mal an bestimmten zentralen Orten. Bezeichnend sind die dehnbaren Verbotsgründe, die in manchen Entwürfen enthalten sind, etwa die „Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik“. Dass solche Verschärfungen nicht nur Nazi-Demos treffen würden, liegt auf der Hand.
Einen andere Intention verfolgen freilich Vorschläge, die glaubhaft ausschließlich eine Verherrlichung des Nationalsozialismus verhindern und die Würde der Opfer besser schützen wollen. Dass es sich dabei um ein Rechtsgut handelt, das eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertigt, erscheint mir plausibel.
Bei aller Sympathie für das Anliegen sind aber auch solche Einschränkungsvorschläge auf Erforderlichkeit, Risiken und Nebenwirkungen abzuklopfen, und zwar nicht nur juristisch, sondern auch politisch und gesellschaftlich.
Dass eine Veränderung des Versammlungsrechts nötig ist, um etwa die eingangs erwähnte NPD-Demo entlang des Holocaust-Mahnmals zu unterbinden, bezweifle ich. Wer an diesem Ort, zum 60. Jahrestag der Befreiung und unter dem Motto „Schluss mit dem Schuldkult“ auftritt, verletzt so eindeutig die Würde der Opfer, dass der Versammlungsbehörde ein Verbot – zumindest dieser Route – nicht all zu schwer fallen dürfte. Im vergangenen Jahr ist es der Berliner Versammlungsbehörde bereits geglückt, eine NPD-Demonstration durch Kreuzberg mit dem Motto „Berlin bleibt deutsch – Weg mit islamischen Zentren“ gerichtsfest zu verbieten.
Ich gebe aber zu, dass Verbote von Nazidemonstrationen selten und schwierig sind. Aber würden die vorgeschlagenen Änderungen des Versammlungsgesetzes der Versammlungsbehörde tatsächlich die Mühen des Nachweises im Einzelfall ersparen? Und wären die neuen Kriterien nicht auch umgehbar? Antisemitismus kann schließlich auch in anderer Form transportiert werden als mit einer eindeutigen Verherrlichung der NS-Vergangenheit, etwa in Form des Antizionismus. Die Flexibilität und Wandelbarkeit von Strategien, Begriffen und Symbolen der neuen Nazis ist nicht zu unterschätzen. Dieses Problem ist m.E. auch nicht in den Griff zu bekommen, indem man nicht nur auf eine Verherrlichung, sondern schon auf eine erwartbare Verharmlosung des Nationalsozialismus abstellt. Wie soll die Versammlungsbehörde das mit der Präzision feststellen, die für ein Verbot letztlich notwendig wäre? Und lässt sich nicht auch der Totalitarismusbegriff (und sogar der Faschismusbegriff) benutzen, um etwa die Singularität von Auschwitz in Abrede zu stellen? Ist es nicht schon eine Verharmlosung des Naziterrors, wenn in der „Neuen Wache“ (in deren Umgebung die CDU ein Demoverbot zum Schutz des würdigen Angedenkens gefordert hat) die im KZ ermordeten Juden und andere „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ (z.B. „Gefallene der Weltkriege“) in den gleichen Topf geworfen werden? Sind das wirklich Fragen, über die Behörden und Gerichte entscheiden sollen, statt sie zum Gegenstand einer offenen und offensiven politischen Auseinandersetzung zu machen?
Meines Erachtens können auch die besten Versuche, mit Verschärfungen des Versammlungsrechts nur die Nazis effektiv zu treffen, dem folgendem Dilemma nicht entgehen: Entweder sie sind leicht zu umgehen oder sie operieren mit so unbestimmten Begriffen, dass sie die Meinungsfreiheit insgesamt beschädigen und damit eigentlich nicht verfassungsgemäß sind.
Karlsruhe stellt hohe Anforderungen an die Bestimmtheit, wenn es um die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen geht. Unter Verfassungsrechtlern ist zudem umstritten, ob Sonderregelungen in Bezug auf Nazidemos zulässig sind. Die Verschärfung ist also riskant.
Folgendes Worst-Case-Szenario ist leider nicht unwahrscheinlich: Zunächst lähmt ein Hickhack unter den demokratischen Parteien die Auseinandersetzung mit dem real existierenden Neonazismus. Die Debatte verengt sich auf Formulierungen des Versammlungsgesetzes. Da die CDU im Bundesrat weitreichende Formulierungen fordert, Rot-Grün sich aber schon unter Zugzwang gesetzt hat, angesichts des Nazispektakels gesetzgeberisch tätig zu werden, wird irgendwann irgendeine murxige Gesetzesänderung beschlossen – und schließlich vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Ein größerer Erfolg für die NPD wäre kaum vorstellbar, sie hätte dann – wieder einmal – alle vorgeführt.
Die Erfahrung mit dem Verfahren zum NPD-Parteiverbot sollte uns zu denken geben. Nicht nur wegen des Scheiterns – schon der Versuch war ein Fehler. Abgewürgt wurde damals eine gerade begonnene gesellschaftliche Diskussion über die Ursachen rassistischer Einstellungen, die den Nährboden für rechten Terror bilden aber viel breiter verankert sind. Ich befürchte, dass wir jetzt in die gleiche Falle tappen. Ist erst das Versammlungsrecht gleichsam als Schuldiger ausgemacht, kümmert sich niemand mehr um die Strukturen, die Neonazis jenseits spektakulärer Aufmärsche aufgebaut haben oder um ganze Regionen mit rechter Jugendkultur. Kaum jemand thematisiert noch das Verhältnis zum alltäglichen Rassismus, zur zunehmenden Relativierung der Shoah bis weit in die Wählerschaft anderer Parteien.
Ein „Tabu“ ist Antisemitismus in der Bundesrepublik schon lange nicht mehr, wenn er denn je eines war. Der Antisemitismus ist ein reales Problem, dessen widerlichste sichtbare Manifestation derzeit NPD-Demos sein mögen. Das Problem werden wir aber nicht dadurch los, dass wir es peinlich vor den Augen der Weltöffentlichkeit verbergen.
Das Bundesverfassungsgericht sieht eine Funktion der Versammlungsfreiheit auch darin, gesellschaftliche Fehlentwicklungen sichtbar zu machen. Das bedeutet nicht, dass wir uns mit den unsäglichen Nazidemos abfinden müssen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen ihnen entschieden entgegentreten – durch lauten Protest, offensive Thematisierung, Aufklärung, politische Arbeit. Den Schutz der Demokratie können wir eben nicht einfach der Staatsgewalt überlassen.