Nicht überall, wo Sicherheit draufsteht, ist auch Sicherheit drin
Zur Videoüberwachung bei den Berliner Verkehrsbetrieben, Mitteilungen Nr. 199, Seite 28 – 29
In der letzten Ausgabe der Mitteilungen (Nummer 198, S. 8) hatten wir über einen Pilotversuch der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zur 24stündigen Aufzeichnung aller Videodaten auf drei Linien der Berliner U-Bahn berichtet. Die BVG hatte die Wirksamkeit der Videoaufzeichnung zur Aufklärung von Straftaten durch ein unabhängiges Forschungsinstitut evaluieren lassen und nach Abschluss der Pilotphase eine Ausweitung auf alle 170 Bahnhöfe der Berliner U-Bahn angekündigt. Die Videoaufzeichnung habe sich erfolgreich bewährt und zur Aufklärung von Straftaten beigetragen. Zugleich weigerte sich das Unternehmen, den Zwischenbericht der Evaluation zu veröffentlichen. Im September 2007 gab die BVG dem Antrag auf Akteneinsicht durch die Humanistische Union schließlich statt, die öffentliche Diskussion zur Videoüberwachung durch die BVG war damit eröffnet.
Große Versprechen, nüchterne Ergebnisse
und viel Interpretationsleistungen
Im Vorfeld der Diskussion um eine Ausweitung der 24stündigen Aufzeichnung hatte die BVG kräftig die Werbetrommel gerührt. Immer wieder betonte Thomas Necker (BVG-Vorstand), wie erfolgreich die 24-Stunden-Videoaufzeichnung bei der BVG eingesetzt werde: „Wir haben dadurch eine eklatante Abnahme von Vandalismus in Straßenbahnen und U-Bahnen“, „Die Berliner Polizei hat dank der Videoüberwachung auf den Bahnsteigen dreier U-Bahn-Linien im vergangenen Jahr zahlreiche Straftäter identifiziert.“ (lt. Berliner Morgenpost vom 21. März 2007). Spektakuläre Beispiele für erfolgreich aufgeklärte Übergriffe sind natürlich eine Sache, die wissenschaftliche Gesamtschau auf die Wirksamkeit der Videoüberwachung eine andere. Der von Dr. Leon Hempel und Christian Alisch verfasste Zwischenbereicht stellt nüchtern fest, dass der Versuch, mit Hilfe der Kameras auf Bahnhöfen und in Zügen mehr Sicherheit zu erreichen, faktisch gescheitert sei. „Eine Veränderung der Kriminalitätsrate zeichnet sich aufgrund der Einführung der Videoaufzeichnung bisher nicht ab.“ Mit dem Einsatz der Kameras sei „keine erhebliche Veränderung der Sicherheitslage in der Berliner U-Bahn zu erwarten„. (Evaluationsbericht, S. 6)
Obwohl während des Pilotprojektes die Anfragen der Ermittlungsbehörden nach Videomaterial zunahmen, sei die „Nachfrage“ nach den Videodaten relativ gering: Im Untersuchungszeitraum (März bis Oktober 2006) wurden für ganze 261 Vorfälle Videodaten durch Betroffene oder die Polizei angefragt. In 78 Fällen lag Bildmaterial vor, wobei nur ca. 1/3 eine ausreichende Bildqualität besaß, um Verdächtige identifizieren zu können (S. 32). Zum Vergleich: Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist für den Vergleichszeitraum des Vorjahres 8.729 Delikte im Bereich der U-Bahn auf. Deshalb kommen die Autoren zu dem Ergebnis: „Eine Rechtfertigung der Videoaufzeichnung in Bezug auf die Gesamtheit aller bekannten Delikte ergibt sich somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund zu geringer Nachfrage durch Ermittlungsbehörden nicht.“ (ebd.)
Nun könnte man einwenden, die Wirksamkeit der Videoüberwachung ließe sich mit einer besseren Kommunikation zwischen Polizei und BVG, aber auch durch eine bessere Kundeninformation steigern. Dem steht aber ein nicht zu unterschätzender Aufwand an Technik und Personal für die Auswertung der Bilder gegenüber. Für die Bearbeitung eines Falles benötigten die Mitarbeiter durchschnittlich 1 Stunde und 47 Minuten zur Auswertung des Bildmaterials. Wenn ab 1. Januar 2008 auf allen U-Bahnhöfen Videodaten aufgezeichnet und zugleich für die jährlich über 10.000 anfallenden Straftaten im Bereich der BVG eine bessere Aufklärungsquote als im Modellversuch erreicht werden soll, wären Heerscharen von Videoguckern nötig – die am Ende als leibhaftige Ansprechpartner auf den Bahnsteigen besser aufgehoben sind.
Dass die Videoaufzeichnung in einigen Fällen zur Aufklärung von Straftaten, insbesondere bei Übergriffen auf Fahrgäste oder BVG-Angestellte hilfreich war, verschweigt die Studie nicht. Die Untersuchung kommt aber zu dem Schluss, dass die Videoaufzeichnung bei der Aufklärung von Sachbeschädigungen durch Graffiti oder Vandalismus praktisch keine Rolle spielt. (s.S. 19f.) Insgesamt führte die Videoüberwachung und -aufzeichnung nicht zu einer sinkenden Kriminalitätsrate im Bereich der drei untersuchten U-Bahn-Linien (U2, U6, U8), vielmehr stieg die Anzahl der registrierten Straftaten im Untersuchungszeitraum auf diesen drei Linien leicht an. Nach der Veröffentlichung des Berichts verbuchte die BVG diese Zahlen dennoch als Erfolg: Der Anstieg von Sachbeschädigungen auf den drei Testlinien verliefe weniger stark als auf anderen U-Bahn-Linien. So wurde am Ende aus einer „eklatanten Abnahme des Vandalismus“ ein geringerer Kriminalitätsanstieg…
Sicher ist, wenn sich’s sicher anfühlt?
Nach der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts und entsprechenden Pressereaktionen verwies die BVG in einer ersten Stellungnahme auf eklatante Mängel in der Evaluation, die Studie sei „methodisch fragwürdig und unwissenschaftlich“ (Berliner Zeitung, 10.10.2007). Außerdem könne man die Wirksamkeit der Videoaufzeichnung anhand neuer, eigener Zahlen belegen. Auf Nachfrage erfuhr die HU zwar nicht diese neuen Zahlen, immerhin wurden wir aber für den 18. Oktober zu einem Gespräch mit Vertretern der BVG eingeladen. Bei dem Gespräch bekräftigten sie ihre Kritik an dem veröffentlichten Zwischenbericht: der Untersuchungszeitraum sei zu kurz (das räumt die Studie selbst ein), die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik POLIKS enthielten systematische Fehler, weil die Zuordnung der Straftaten zum ÖPNV stark vom Ort der Anzeigenerstattung abhinge (deshalb gewichtet die Studie alle Zahlen der Polizeistatistik nur mit 50%). Auch der Hinweis, das wesentlich umfangreichere Studien (etwa die im Auftrag des britischen Innenministeriums erstellte Metaevaluation) bisher keine generalpräventive Wirksamkeit der Videoüberwachung feststellen konnten, vermochte die BVG-Vertreter nicht davon abzubringen, dass dies in Berlin möglich sei.
Umso gespannter waren wir auf die Antwort, worauf die BVG denn ihren Optimismus gründe, dass die Videoaufzeichnung bei ihnen zu weniger Kriminalität und mehr erfolgreich aufgeklärten Straftaten beitragen könne. Die Antwort war überraschend: Das die Kameras einen spürbaren Sicherheitsgewinn bringen, gehe aus Kundenumfragen hervor. Unser Einwand, dass es zwischen subjektivem Sicherheitsempfinden und tatsächlicher Sicherheitslage zuweilen beträchtliche Differenzen gibt, verfing nicht. Mehr noch machten die BVG-Vertreter deutlich, dass es für sie als Unternehmer nur auf das „subjektive Sicherheitsgefühl“ der Fahrgäste ankomme. Für „objektive Sicherheit“ sei der Staat zuständig, die BVG könnte dafür lediglich Zuarbeit (etwa durch Videodaten) leisten. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht gehe es nur darum, durch ein verbessertes Sicherheitsempfinden mehr Fahrgäste zu gewinnen. Unter diesem Aspekt sei die Videoaufzeichnung sowohl ein verhältnismäßiges (hohe Zustimmungsquote) als auch effektives (hohes Sicherheitsempfinden) Instrument.
Für bürgerrechtliche und rechtspolitische Bedenken gegen eine flächendeckende Videoaufzeichnung im gesamten U-Bahn-Netz Berlins hatte das Unternehmen kein Verständnis: Die vom Abgeordnetenhaus geforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Videoaufzeichnung habe für die BVG nur empfehlenden Charakter, bei der Videoaufzeichnung handle es sich um keinen Grundrechtseingriff, und „verhältnismäßig“ sei nun mal ein dehnbarer Begriff. Im Übrigen seien die U-Bahnhöfe kein öffentlicher Raum, alle Einrichtungen und Anlagen befänden sich ja im Besitz der BVG – diese könne daher ihr Hausrecht geltend machen wie jedes Kaufhaus auch.
Bei der BVG handelt es sich aber um eine Anstalt öffentlichen Rechts. Für eine massenhafte Erhebung personenbezogener Daten sind an sie daher die gleichen Anforderungen nach einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage zu stellen, wie für andere öffentlichen Einrichtungen auch. (vgl. § 2 I Berliner Datenschutzgesetz) Das Hausrecht könnte allenfalls dafür herhalten, wenn die BVG ihre Verwaltungsgebäude videoüberwachen will, für den öffentlichen Kundenbereich (die Bahnhöfe und Züge) aber braucht es mehr.
Die gesetzgeberische (Un-)Vernunft
Anstatt sich mit den Fakten zur Videoüberwachung bei der BVG zu beschäftigten bzw. ein schon lange eingefordertes Sicherheitskonzept fertig zu stellen, brachte der rot-rote Senat im Sommer ausgerechnet eine Novellierung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes Berlins (ASOG) sowie des Berliner Datenschutzgesetzes auf den Weg, mit der die Videoaufzeichnungen bei der BVG für die polizeiliche Nutzung freigegeben und eigene Aufzeichnungsbefugnisse der Polizei eingeführt werden sollen. Im Einzelnen sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Polizei „zur Abwehr und zum Erkennen von Straftaten von erheblicher Bedeutung“ Videos im öffentlichen Nahverkehr aufzeichnen darf, „wenn sich aus einer Lagebeurteilung ein hinreichender Anlass“ ergibt (Drs. 16/0782, S. 6). Darüber hinaus sollen 340 Einsatzwagen der Polizei zur Eigensicherung der Beamten bei Verkehrskontrollen mit Kameras ausgerüstet werden.
An keiner Stelle geht der Gesetzentwurf auf die bisherigen Erfahrungen mit der Videoüberwachung ein. Kontrafaktisch verleiht die Landesregierung dem Gesetzentwurf in der Einleitung eine weltpolitische Note: „Die Erfahrungen mit dem Terrorismus, insbesondere die gescheiterten Kofferbombenanschläge auf Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen, haben gezeigt, dass auch Bahnanlagen zu den gefährdeten Objekten gehören. U-Bahnhöfe werden in erheblichem Umfang zur Abwicklung von Drogengeschäften genutzt. Videoüberwachung hat sich als geeignetes Mittel zur Bekämpfung derartiger Gefahren erwiesen.“ (Drs. 16/0782, S. 1) Woher der Senat diese Einsichten nimmt, bleibt dem Beobachter leider verborgen. Nur um einer weiteren historischen Legendenbildung vorzubeugen: Die Videobilder spielten bei der Aufklärung der missglückten Anschläge auf Regionalzüge in NRW nur eine nachgeordnete Rolle.
Nachdem aus den Reihen der Berliner Linkspartei zwei Abgeordnete ihre bürgerrechtlichen Bedenken gegen die Novellierung angemeldet hatten und die Verabschiedung zu scheitern drohte, handelte die rot-rote Koalition einen Kompromiss aus. Er sieht u.a. vor, dass die neuen Regelungen in zwei Jahren zu evaluieren sind. Alle Hoffnungen, dann ließe sich die Mehrzahl der Kameras wieder demontieren und die Bilderflut eindämmen, sind jedoch auf Sand gebaut. Bereits anhand der jetzt veröffentlichten Daten lässt sich erkennen, dass die Videoüberwachung aller U-Bahnhöfe kaum geeignet ist, die Kriminalität im Bereich der BVG effektiv zu reduzieren; ob eine flächendeckende Videoüberwachung notwendig und verhältnismäßig ist, hätte bereits jetzt geprüft werden müssen. Da das Gesetz auch keine klaren Kriterien für die Evaluation benennt, ist kaum zu erwarten, dass sich die Abgeordneten dann ernsthafter mit den Ergebnissen und Konsequenzen der Videoüberwachung beschäftigen werden, als dies jetzt geschehen ist. Bei einer ersten Diskussion des Pilotprojektes im Januar 2006 versprach sich die SPD eine „generalpräventive Wirkung“ von den Kameras. Nachdem die Zwischenergebnisse der Evaluation auf dem Tisch lagen, wäre es an der Zeit gewesen, sich einzugestehen, dass dies nicht passieren wird.
Sven Lüders
ist Geschäftsführer der Humanistischen Union
Die Evaluationsstudie zum Pilotprojekt sowie weiteres Material zum Thema ist zu finden unter: http://berlin.humanistische-union.de