Themen / Frieden

Perspek­ti­ven­wech­sel: Nicht mehr „Krieg“ führen, sondern „gerechten Frieden“ schaffen

17. August 2017

in: vorgänge Nr. 218 (Heft 2/2017), S. 91-99

Die moraltheologische Lehre vom „gerechten Krieg“ sollte einst helfen, das unbegrenzte Töten einzugrenzen, indem Voraussetzungen für einen nach göttlichen Maßstäben akzeptablen Krieg benannt wurden. Wesentliche Merkmale des „gerechten Krieges“ waren die Rechtsverletzung (der Anlass) sowie die hehren Absichten (das Ziel) des Krieges. Nicht erst die jüngere Geschichte zeigt, dass sich beides für nahezu jeden Krieg erklären lässt; die zivilisierende Wirkung des „gerechten Krieges“ ist angesichts des großen propagandistischen Aufwands, der heute jeden militärischen Konflikt begleitet, längst verpufft. Ulrich Frey skizziert deshalb die  theologische Entwicklung der Idee eines „gerechten Friedens“ als alternativer Logik für eine Friedenspolitik.

Ein Perspektivenwechsel steht an. Historisch, politisch und ethisch ist es an der Zeit, zur Begrenzung und Rechtfertigung militärischen Handelns nicht mehr in den Kategorien des gerechten Krieges (bellum iustum), sondern in solchen des gerechten Friedens zu denken und zu handeln. Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor (si vis pacem para pacem) ist die Forderung und zugleich Anleitung zum Perspektivenwechsel.

Zur Lehre vom gerechten Krieg

Die Lehre vom gerechten Krieg, entwickelt im Wesentlichen vom Kirchenvater Augustinus (354 – 430 n. Chr.) und dem mittelalterlichen Scholastiker Thomas von Aquin (ca. 1225 – 1274), war auf den Vorrang des Friedens und die Vermeidung von Krieg gerichtet. Augustinus näherte sich dem Denken im Sinne eines gerechten Krieges in seinem Werk De civitate Dei. Krieg und Frieden sind für Augustinus sozialpolitische und metaphysische Gegensätze. Augustinus unterscheidet das Recht zum Kriege (ius ad bellum) und das Recht im Kriege (ius in bello). Kriterien zur Rechtfertigung von Krieg sind nach Augustinus die legitima potestas, das Kriegsrecht des Souveräns, die iusta causa, die göttliche Autorität und eine Rechtsverletzung. Ein Krieg, der von Gott befohlen wird, ist gerecht. Krieg ist aber nur das letzte Mittel (ultima ratio) und bedarf der recta intentio, des Ziels des Friedens gegen Rachsucht, Habgier und Lust an Grausamkeit (Looney 2016: 227 ff.). Thomas von Aquin griff in seiner Summa theologiae zurück auf die seit Augustinus maßgebliche christlich-moraltheologische Position zum Krieg und auf die wieder entdeckte Moralphilosophie und naturrechtliche und politische Theorie des Aristoteles. Auf die Frage „Ist Kriegführung immer Sünde?“ fordert Thomas das Vorhandensein dreier Kriterien: auctoritas principis (Autorität des Fürsten), eine causa iusta (gerechten Grund) und eine recta intentio (rechte Intention) (Fuchs 2016: 239ff.).

Seit Augustinus und Thomas hat sich die Lehre vom gerechten Krieg zu einer Vielfalt der Lehren vom rechtmäßigen Krieg entwickelt. Seine Kriterien sind von Fürsten, von demokratischen und nicht demokratischen Regierungen im Namen ihrer Völker sowie von Diktatoren vielfach missbraucht worden. Der Westfälische Frieden von 1648 begründete die Souveränität der Staaten und damit der Fürsten. Sie führten qua legitima auctoritas Kriege nach Belieben zur „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz). Wolfram Wette (1971: 193) stellt fest, dass „im gesamten 19. Jahrhundert und bis in den Ersten Weltkrieg hinein der Krieg als legitimes Mittel der Staatenpolitik galt. Dabei war es gleichgültig, ob es sich um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelte.“

Ein Beispiel dafür ist die Haltung der SPD zum Beginn des 1. Weltkrieges 1914. Die SPD trieb tendenziell eine Politik der Gewaltlosigkeit, ebenso wie die II. Sozialistische Internationale (1889 – 1914). So argumentierte die SPD 1871 gegen die Annexion von Elsass-Lothringen. Aber sie folgte am 4. August 1914 dem Appell Kaiser Wilhelms II. („Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche!“) und stimmte einhellig den vom Kaiser und der Regierung geforderten Kriegskrediten zu. „Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus viel, wenn nicht alles auf dem Spiel“ (Traub 2013: S. 2f.). Erst der katastrophale Verlauf des Krieges mit Hunger im Reich und Niederlagen an der Front bewirkte unter Soldaten und Arbeitern die Revolution 1918 mit Forderungen nach Frieden, Republik und Sozialismus.

Die deutschen evangelischen Kirchen waren zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Bündnis von „Thron und Altar“ in großer Nähe zum Staat gefangen. Einen tiefen Einblick in die Stimmungslage zu Krieg und Frieden in den Kirchen zu Beginn des 1. Weltkrieges gewährte der 1912 als Leutnant zur See in die kaiserliche Marine eingetretene Martin Niemöller, der spätere Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Im „Gespräch zur Person“ mit Günter Gaus sagte Niemöller: „In meinem Elternhaus herrschten die beiden Dogmen, die in jener Zeit in der christlichen Kirche, besonders in den evangelischen Kirchen in Deutschland, ganz allgemein galten, nämlich ‚Ein guter Christ ist ein guter Staatsbürger‘ und ‚Ein guter Christ ist ein guter Soldat‘. Das waren unbestrittene Dogmen, hinter die man nicht guckte und von denen man nicht die Frage stellte, ob sie eigentlich zu Recht bestünden. Und diese beiden Grundsätze sind in meinem Leben erst sehr spät überhaupt ins Wanken gekommen. Aber inzwischen sind sie für mich als Theologen seit vielen Jahren überwunden.“ (Perels 2016: 248).

Zur Genese des Leitbildes vom „gerechten Frieden“

Gegen das Bündnis von Thron und Altar engagierte sich vor Beginn des 1. Weltkrieges der in der deutsch-britischen ökumenischen Friedensarbeit aktive Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze. In seinem Aufsatz „Religion und Friede“ schrieb er 1910: „Das Christentum kann den organisierten Massenmord nicht heilig sprechen, sondern muss erklären, dass Kriegführen gegen den Willen Jesu ist“. Das war damals „eine unerhörte Kampfansage gegen den zumeist ungeprüft hingenommenen Militarismus“ (Gressel 1990: 150). Siegmund-Schultze organisierte die Weltkirchenkonferenz vom 1.-3.8.1914 in Konstanz, auf der der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen und der pazifistische Internationale Versöhnungsbund gegründet wurden, allerdings unterbrochen und in den Hintergrund gedrängt von den deutschen Kriegserklärungen am 1. und 3. August 1914 an Russland und Frankreich.

Einen langfristig wirksamen Anstoß für das Leitbild des gerechten Friedens gab Dietrich Bonhoeffer angesichts des drohenden 2. Weltkrieges in seiner prophetischen Morgenandacht in Fanø/Dänemark am 28. August 1934 zum Psalm 85: „[…] Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis und lässt sich nie und nimmer sichern. […] Sicherheit fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg. […] Friede heißt, sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung zu wollen. […] Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, zu hören gezwungen ist? […] Der einzelne Christ kann das nicht. […] Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden – ach, wenn sie es nur täte -, aber auch sie wird erdrückt von der Gewalt des Hasses. Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort um Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt“ (Raiser et al. 2013: 194).

Die Entwicklung vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“ vollzog sich theologisch-ökumenisch in christlichen Kirchen, christlichen Initiativen und Gruppen, fand Unterstützung aber auch in säkularen Institutionen, Initiativen und Gruppen. Im 1. Weltkrieg starben ca. 17 Millionen Menschen, im 2. Weltkrieg zwischen 50 und 56 Millionen Menschen durch direkte Kriegseinwirkung, bis zu 80 Millionen einschließlich der Toten durch Verbrechen und Kriegswirkungen. Diese ungeheure Zahl von menschlichen Opfern und die unbeschreiblichen Verwüstungen von Ländern, Kultur und Zivilisation disqualifizierte jede Rechtfertigung von Krieg. Leider ohne durchschlagenden politischen Erfolg bildeten sich unter dem weiten Rubrum „Pazifismus“ im 20. Jahrhundert Überzeugungen, Forderungen und Bewegungen Einzelner und von Gruppen gegen Militarismus und Nationalismus. Der Krieg sollte geächtet werden. Statt in Kategorien des Krieges sollte in solchen des Friedens gedacht und gehandelt werden. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) beschloss gleich bei der Gründung in seiner 1. Vollversammlung in Amsterdam 1948 unter dem bezeichnenden Motto „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, er sei „Sünde wider Gott und eine Entwürdigung der Menschen“ (ÖRK 1948: 260f.). Das von Bonhoeffer geforderte Konzil hat aus kirchenrechtlichen und anderen Gründen nie stattgefunden, wohl aber hat Bonhoeffer den „konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ vorbereitet. Er wurde auf Initiative der Delegation der DDR-Kirchen bei der VI. Vollversammlung des ÖRK 1983 in Vancouver ausgerufen. Die Kirchen sollten „auf allen Ebenen – Gemeinden, Diözesen und Synoden, Netzwerke christlicher Gruppen und Basisgemeinschaften – zusammen mit dem ÖRK in einem konziliaren Prozess zu einem Bund zusammenfinden …“ (Raiser et al. 2013: 195). Es folgten als weitere Etappen auf dem ökumenischen Weg die Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001 – 2010, die Internationale ökumenische Friedenskonvokation (IöFK) 2011 in Kingston/Jamaika sowie die X. Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan/ Republik Korea.

Einen beträchtlichen innovatorischen Anteil an der kirchlich-theologischen Profilierung des gerechten Friedens hatten und haben nicht die protestantischen Kirchen, die römisch-katholische Kirche oder die orthodoxen Kirchen, sondern die protestantischen „historischen“ Friedenskirchen der Mennoniten, der Church of the Brethren und der Quäker (Gesellschaft der Freunde). Das grundlegende theologische friedensethische Argument der Friedenskirchen ist, „dass Gewaltfreiheit nicht schlicht als eine Option des ethischen Handelns gesehen“ wird, „sondern vielmehr als eine einzuübende Haltung im gesamten Leben“ gilt, weil sie den Kern des christlichen Bekenntnisses erst glaubwürdig macht. In einer Konferenz in den USA legten erstmals 1935 Vertreter der Mennoniten, der Church of the Brethren und der Quäker die drei „Principles of Christian Peace and Patriotism“ der historischen Friedenskirchen fest: „1. Jede der Konfessionen ist weltweit engagiert, in der Hilfe für Kriegsopfer und in der Förderung internationaler Verständigung. 2. Jede betont die nationale Grenzen überschreitende Qualität der christlichen Gemeinschaft. 3. Jede hat in ihrer Geschichte gelehrt, dass Christen nicht dazu berufen sind, sich an Kriegen zu beteiligen, selbst wenn dies von ihren jeweiligen Regierungen verlangt werde“ (Enns 2016: 362f.).

Das völkerrechtliche Pendant zur theologischen Entwicklung ist das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot der Vereinten Nationen. Die Charta der Vereinten Nationen, in Kraft getreten am 24.10.1945, spricht es in Art. 2 Absatz 4 ChVN aus und damit auch die Ächtung des Krieges. Die Charta begründet ein weltweites System kollektiver Sicherheit, an dem der Völkerbund 1919 gescheitert war: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Gefordert wird stattdessen: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden“ (Art. 2 Abs. 3 ChVN). Das allgemeine Gewaltverbot gilt nur für Gewalt zwischen Staaten mit drei Ausnahmen: kollektive Maßnahmen gegen einen Friedensstörer auf der Grundlage des Kapitels VII (Art. 42), das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff (Art. 51) und Maßnahmen gegen ehemalige Feindstaaten (Art. 53 und Art. 107). Völkerrechtliche Probleme ergeben sich aus der Tatsache, dass gegenwärtig kaum mehr Kriege zwischen Staaten stattfinden, sondern Gewalt in Bürgerkriegen und „nicht-internationalen Konflikten“ angewandt wird.

Zum Verständnis des Leitbildes des „gerechten Friedens“

Welches ist der Perspektivenwechsel durch das Leitbild des gerechten Friedens? Das Leitbild des gerechten Friedens bleibt nicht in einer Anti-Kriegs-Position stecken, sondern öffnet Blick und Weg in eine prima ratio der Gewaltfreiheit zur Transformation von Konflikten. Der gerechte Friede macht den gerechten Krieg obsolet (Raiser et al. 2013, S. 12, Nr. 23). Es gilt: „Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor“ (si vis pacem para pacem).

Das neue Leitbild ist im Wesentlichen ökumenisch – also für den gesamten Erdkreis – außer in der Orthodoxie und in der anglikanischen Kirche als ein spirituell begründetes Konzept zum Friedensschaffen akzeptiert. Erstmals forderte die Ökumenische Versammlung Dresden – Magdeburg – Dresden in der DDR 1989 unter der Überschrift „Umkehr zum Schalom als dem Frieden der Völker“ die Entwicklung einer „Lehre vom gerechten Frieden“ anstelle der Lehre vom gerechten Krieg: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen“ (Werkner 2016: 381).

Die deutschen Bischöfe entfalteten den gerechten Frieden in ihrem Wort vom September 2000 (Sekretariat der deutschen Bischöfe 2000: Nr. 162ff.), die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zuletzt in der Friedensdenkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007). Darin wird der gerechte Friede vergleichbar mit dem Wort der deutschen Bischöfe definiert: „Die biblische Sicht stützt ein prozessuales Konzept des Friedens. Friede ist kein Zustand (weder der bloßen Abwesenheit von Krieg noch der Stillstellung aller Konflikte), sondern ein gesellschaftlicher Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit – letztere verstanden als politische und soziale Gerechtigkeit, d.h. als normatives Prinzip gesellschaftlicher Institutionen. Friedensfördernde Prozesse sind dadurch charakterisiert, dass sie in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie auf den Abbau von Not gerichtet sind. Friede erschöpft sich nicht in der Abwesenheit von Gewalt, sondern hat ein Zusammenleben in Gerechtigkeit zum Ziel. In diesem Sinn bezeichnet ein gerechter Friede die Zielperspektive politischer Ethik“ (Rat der Evangelischen Kirche 2007: Nr. 80).

Im Aufruf „Gerechter Friede“ des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation in Kingston/Jamaika heißt es ähnlich: „Im Bewußtsein der Grenzen von Sprache und Verstehen schlagen wir vor, gerechten Frieden als einen kollektiven und dynamischen, doch zugleich fest verankerten Prozeß zu verstehen, der darauf ausgerichtet ist, daß Menschen frei von Angst und Not leben können, daß sie Feindschaft, Diskriminierung und Unterdrückung überwinden und die Voraussetzungen schaffen können für gerechte Beziehungen, die den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten Vorrang einräumen und die Integrität der Schöpfung achten“ (Raiser et al. 2013: 9). Die X. Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan rief in ihrer „Erklärung über den Weg des Gerechten Friedens“ zu einem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens auf: „Der gerechte Friede ist ein Weg, der ausgerichtet ist auf Gottes Heilsplan für die Menschheit und die ganze Schöpfung. Er wurzelt im Selbstverständnis der Kirchen, in der Hoffnung auf spirituelle Transformation und dem Aufruf, nach Gerechtigkeit und Frieden für alle zu streben. Es ist eine Reise, zu der wir alle eingeladen sind, um mit unserem Leben Zeugnis abzulegen“ (Link et al. 2014: 398ff.). Die Botschaft der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation in Kingston/Jamaika 2011 konkretisiert das Leitbild vom gerechten Frieden mit vier Dimensionen (Raiser et al. 2013: 243ff.). Der Pilgerweg führt zu „Schmerzpunkten“ und „Kraftorten“ in vier alltäglichen Kontexten:

a) Frieden in der Gemeinschaft – damit alle Menschen frei von Angst leben können

b) Frieden mit der Erde – damit Leben erhalten bleibt

c) Frieden in der Wirtschaft – damit alle in Würde leben können

d) Frieden zwischen den Völkern – damit Menschenleben geschützt werden (Link et al. 2014: 398ff.).

Was bedeutet das in der gesell­schaft­li­chen und politischen Praxis?

Exemplarisch deutlich zu machen ist dies in der Dimension „Frieden zwischen den Völkern“ am Beispiel der Schutzpflicht (Responsibility to Protect, R2P), die eine noch andauernde Kontroverse zwischen dem Grundsatz der staatlichen Souveränität vs. dem Schutz des einzelnen Menschen und der Menschenrechte ausgelöst hat.

Das Konzept der Schutzpflicht entwickelte die Internationale Kommission über Intervention und Staatensouveränität im Jahre 2001 zur Abwendung von Katastrophen wie dem Völkermord in Ruanda 1994 mit drei Pflichten: Prävention gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen, Reaktion mit militärischer Gewalt und Wiederaufbau (Konfliktnachsorge). In der friedensethischen Debatte steht die Pflicht zur militärischen Reaktion (ultima ratio) leider unverdient im Vordergrund. Der Weltgipfel der Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen billigte 2005 die Anwendung von Gewalt durch den Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen im Rahmen der R2P zum Schutz der Zivilbevölkerung „im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen […], um ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen“ (DGVN 2005: 32f.). Die IX. Vollversammlung des ÖRK 2006 in Porto Alegre nahm die Erklärung der Schutzpflicht zugunsten gefährdeter Bevölkerungsgruppen unter Betonung ausdrücklich der primären Pflicht zur Prävention an (Wilkens 2006: 334ff. ). In der politischen und wissenschaftlichen Debatte bleibt die R2P als neue völkerrechtliche Norm zum Schutz von Menschenrechten gegen staatlich ausgeübte Souveränität in der Perspektive des gerechten Friedens heftig umstritten (Kriegslegitimation, Nichthandeln und unzureichendes Handeln, mangelnde Glaubwürdigkeit vieler Staaten, Verkürzung auf Militärinterventionen, Kluft zwischen moralischem Anspruch und unzureichender Operationalisierung, Kriterien für React-Maßnahmen, Spannung zwischen kurzfristiger Großgefahrenabwehr und Bekämpfung der Konfliktursachen (Nachtwei 2012.) In der Tat hat die westliche militärische Koalition im Krieg gegen das Libyen Gaddafis 2011 die R2P nicht zum Schutz der Bevölkerung, sondern zum Regimewechsel missbraucht.

Um die ultima ratio militärischer Gewalt im Gefüge der R2P zu überwinden, ist das Konzept des Just Policing, des gerechten polizeilichen Handelns, Gegenstand des Nachdenkens über die Verminderung von staatlicher Gewalt im Rahmen „eines breiten Spektrums wirtschaftlicher, sozialer, politischer und diplomatischer Anstrengungen“ (Wilkens 2006: 340) geworden. Werkner (2016a: 881ff.) beurteilt das Konzept wegen des mangelnden Gewaltmonopols der Vereinten Nationen und einer „unvollständigen“ Weltinnenpolitik kritisch, Enns (2016: 371ff.) aus friedensethischen Gründen positiv.

Andere bedeutsame Aufgaben zur Herstellung eines gerechten Friedens sind beispielsweise

  • die konventionelle und atomare Abrüstung
  • das Verbot von Rüstungsexporten, insbesondere von Kleinwaffen und Munition
  • die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung, Vermeidung/ Verhinderung von ‚gescheiterten Staaten‘ und ‚unregierbaren Räumen‘.
  • die Forderung nach „Vorrang für zivil“ in der nationalen und europäischen Politik
  • die Unterstützung der Arbeit der Vereinten Nationen
  • den Frieden in all seinen Dimensionen und aktuellen Erscheinungen incl. Gerechtigkeit und Schöpfung/Klima verstehen lernen, nicht nur als Gewalt zwischen Staaten.

Das Leitbild des gerechten Friedens findet seine säkulare Entsprechung in der verfassungsrechtlichen Parallelwertung in dem vom Bundesverfassungsrichter und mehrfachen Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages Helmut Simon entwickelte „Friedensgebot des Grundgesetzes“ (Deiseroth 2010: 103 ff.). Es kommt zum Ausdruck in der Präambel („dem Frieden der Welt zu dienen“), in Art. 1 Abs. 2 (Bekenntnis zu Menschenrechten), Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen), Art. 20 Abs. 1, 2 (Demokratiegebot), Art. 20 Abs. 3 (Bindung an Recht und Gesetz), Art. 23 (Mitwirkung an europäischer Einigung), Art. 24 Abs. 1 (Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen), Art. 24 Abs. 2 (Einordnung in ein System „gegenseitiger kollektiver Sicherheit“), Art. 24 Abs. 3 (Unterwerfung unter internationale Gerichtsbarkeit), Art. 25 (Bindung an allgemeine Regeln des Völkerrechts), Art. 26 Abs. 1 Satz 1 (Verbot des Angriffskrieges), Art. 26 Abs. 1 Satz 2 (Pönalisierung des Angriffskrieges), Art. 26 Abs. 2 (Genehmigungspflicht bestimmter Kriegswaffen).

ULRICH FREY   Jahrgang 1937, Assessor iur., Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden 1972 – 2000, aktiv in der kirchlichen Friedensarbeit, publiziert zu Friedensethik und Friedenspolitik.

Literatur:

Deiseroth, Dieter 2010: Das Friedensgebot des Grundgesetzes – Anspruch und Wirklichkeit nach sechzig Jahren; in: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 103-112.

DGVN, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 2005: Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993, http://menschenrechte-durchsetzen.dgvn.de/index.php?id=1698 (Zugriff 17.8.2016)

Enns, Fernando 2016: Der gerechte Frieden in den Friedenskirchen; in: Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, S. 361-376.

Fuchs, Marco J. 2016: Die Lehre vom gerechten Krieg im Mittelalter: Thomas von Aquin; in: Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, S. 239-249.

Gressel, Hans 1990: Friedrich Siegmund-Schultze – ein Pionier der christlichen Friedensbewegung; in: Grünberg Wolfgang (Hrsg.), Friedrich Siegmund-Schultze. Friedenskirche, Kaffeeklappe und ökumenische Vision. Texte 1910 – 1969. München: Kaiser, S. 150-167.

James, William 1910: The Moral Equivalent of War. International Conciliation Nr. 24. New York, http://www.constitution.org/wj/meow.htm (Zugriff 19.2.2017)

Link, Hans-Georg/Heller, Dagmar/Raiser, Konrad/Rudolph, Barbara (Hrsg.) 2014: Busan 2013. Offizieller Bericht der Zehnten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden. Leipzig, Paderborn: Evangelische Verlagsanstalt, Bonifatius

Looney, Aaron 2016: Die Lehre vom gerechten Krieg im frühen Christentum: Augustinus; in: Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, S. 225-235.

ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen Studienkommission (Hrsg.)1948: Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan. Band IV. Tübingen: Furche-Verlag und Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk

Nachtwei, Winfried 2012: Internationale Schutzverantwortung / Responsibility to Protect (Prevent, Assist, React): Herausforderung auch für deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik, http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&catid=99&aid=1145 (Zugriff 2.9.2016)

Perels, Joachim 2016 (Hrsg.): Martin Niemöller. Gewissen vor Staatsraison. Ausgewählte Schriften. Mit einem Nachwort von Martin Stöhr. Göttingen: Wallstein Verlag

Raiser, Konrad und Schmitthenner, Ulrich (Hrsg.) 2013: Gerechter Friede. Ein ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden. Begleitdokument des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mit Anhang. 2. Auflage. Münster: LIT-Verlag

Rat der Evangelischen Kirche 2007: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) 2000: Gerechter Friede, Bonn

Traub Rainer 2013: Kriegskredite 1914. Der Sündenfall der SPD, Der Spiegel v. 24. September 2013, http://www.spiegel.de/einestages/spd-im-ersten-weltkrieg-wie-es-zur-kriegskredite-zustimmung-kam-a-976886.html (Zugriff 20.2.2017)

Werkner, Ines-Jacqueline 2016: Der gerechte Frieden im ökumenischen Diskurs; in: Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, S. 377–392.

Werkner, Ines-Jacqueline 2016a: Just Policing: ein neues Paradigma?; in: Ines-Jacqueline Werkner und Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden: Springer SV, S. 881-891.

Wette, Wolfram 1971: Kriegstheorien Deutscher Sozialisten. Stuttgart: Kohlhammer

Wilkens, Klaus (Hrsg.) 1999: Gemeinsam auf dem Weg. Offizieller Bericht der Achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen Harare 1998. Frankfurt/Main: Lembeck

Wilkens, Klaus (Hrsg.) 2007: In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt. Porto Alegre 2006. Neunte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Frankfurt/Main: Lembeck

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