Themen / Demokratisierung

Relati­vie­rungen & Heraus­for­de­rungen – Gedanken zur Situation der Bürger­rechte

20. Mai 2005

Mitteilungen Nr. 189, S.4-6

 I. Relativierungen
Der gegenwärtige Zustand der Bürgerrechte in Deutschland kann nicht beschrieben werden, ohne auf drei Vorgänge aus den vergangenen zwei Jahren einzugehen. Es sind drei Vorgänge, die aus dem täglichen Kampf um die Bürgerrechte, aus dem üblichen Ringen zwischen Sicherheit und Freiheit herausragen und in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes sind. Obwohl sie für sich genommen jeweils nichts miteinander zu tun haben, können sie in einem übergeordneten Zusammenhang gesehen werden.
1. Mitte 2003 kommt eine neue, vom Bonner Staatsrechtsprofessor Matthias Herdegen verfasste Kommentierung zu Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (GG) im Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig heraus. Über Juristenkreise hinaus wäre dies vermutlich nicht weiter aufgefallen, hätte nicht Ernst-Wolfgang Böckenförde diese Neubearbeitung in einem tiefgründigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung analysiert. 
Erwähnenswert ist dieser Vorgang, weil er schlaglichtartig eine sich über die Jahre vollziehende Veränderung in der Interpretation der Menschenwürdegarantie markiert. Günter Dürig, der (Mit-)Begründer des wohl angesehensten Grundgesetzkommentars, verstand die Menschenwürdegarantie des Artikel 1 Absatz 1 GG als objektiv-rechtliche Konstruktionsmaxime des seinerzeit neu entstehenden Staates. Dem Grundkonsens der Nachkriegsgesellschaft entsprechend, die Barbarei der Nazi-Diktatur noch in den Gliedern, interpretierte er die Menschenwürde als einen jedem Menschen kraft seines Mensch-Seins, unabhängig von Entwicklungsstand, persönlichen Fähigkeiten, Leistung usw. zukommenden absoluten Wert. Durch seine vorpositivistische Verankerung sollte er dem inhaltlichen Zugriff entzogen sein. Nach seinem Verständnis wurde durch die Menschenwürdegarantie ein dem Staat und der Gesellschaft vorgelagerter sittlicher  Wert ‚deklaratorisch‘ in das positive Recht übernommen.
In Herdegens Neuinterpretation spiegelt sich unsere heutige Unbefangenheit im Umgang mit den Vermächtnissen der jüngeren Vergangenheit: im Bewusstsein der sich gefestigten demokratischen Gesellschaft unterwirft er Artikel 1 Absatz 1 GG dem interpretatorischen Zugriff. Er löst ihn von der vorpositivistischen Verankerung und sieht allein den Verfassungstext und dessen Exegese als normativ relevant an. Die Menschenwürdegarantie wird Interpretationssache. Auswirkung hat dies vor allem dort, wo durch die Weiterentwicklung der Biotechnologien neue Antworten gefunden werden müssen (s.u. II.).
2. Der zweite Vorgang, der hier anzuführen ist, ist der Fall Daschner. Der ehemalige Frankfurter Vize-Polizeipräsident hatte dem Entführer Magnus Gäfgen die Zufügung von Schmerzen „ohne Verletzungen“ androhen lassen, um von diesem das Versteck des Entführungsopfers Jakob Metzler zu erfahren, und war offensichtlich auch dazu entschlossen, nötigenfalls über die bloße Androhung hinaus zu gehen.
Dass darin ein Verstoß gegen das Folterverbot liegt, wurde in der von Daschner ausgelösten Debatte von keinem bezweifelt. Juristen wie vox populi stritten hernach jedoch über Ausnahmen und Grenzen des Folterverbots, also darüber, ob und in welchen Situationen der Staat sich vielleicht doch der Folter bedienen dürfe.
Liest man die Gründe des Urteils des Frankfurt Landgerichts vom 15. Februar, so muss man zunächst der Frankfurter Polizei Respekt zollen, denn es wird deutlich, wie sehr Daschner mit seiner Absicht, eine Aussage von Gäfgen notfalls durch die Zufügung von Schmerzen zu erzwingen, trotz der mittlerweile sehr zugespitzten Situation und der beharrlichen Obstruktion des Angeklagten, alleine stand. Das Bemerkenswerte dieses Falles ist, dass die Gewaltandrohung nicht auf einen Kollegen an der Front zurückgeht, der unter dem Druck der Erwartungen die Nerven verloren hatte, sondern gegen zähen Widerstand und an der offiziellen Hierarchie vorbei von der Behördenleitung durchgedrückt wurde. Die zuständigen Abschnittsleiter hielten an ihren ermittlungstaktischen Alternativen (der Gegenüberstellung mit Jakobs Schwester) auch in dieser Situation fest.
Dies zeigt, dass zu dieser Zeit das Folterverbot in den Polizeistrukturen so fest verankert war, dass – außer Daschner – keiner auf die Idee einer illegalen Aussageerpressung kam. Ja sogar noch als die verführerische Vorstellung vom amtierenden Chef der Behörde ausgesprochen und angeordnet war, seine Untergebenen dieses Vorgehen ablehnten und zu umgehen versuchten.
Die Frage ist: hat sich an dieser tiefen Verwurzelung des Folterverbots in den Polizeistrukturen seit dem Urteil des Frankfurter Landgerichts etwas verändert?
Daschner und der Beamte, der Gäfgen die Befragung unter Schmerzen angedroht hatte, wurden zwar vom Landgericht wegen Nötigung verurteilt. Das Urteil hielt das Folterverbot aufrecht und entzog sich zunächst allen Rechtskniffen einer Relativierung (bspw. durch übergesetzlichen Notstand, Verbotsirrtum usw.). Fragwürdig ist jedoch die Rechtsfolge, die das Landgericht über die beiden Angeklagten verhängte: eine für die Zeit von einem Jahr zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen für Daschner, 60 für den ihm unterstellten Beamten – das Strafmaß bewegt sich dabei in Größenordnungen der Straßenverkehrsgefährdung. Bei formaler Aufrechterhaltung des Folterverbots macht das Landgericht zugleich klar: so ganz ernst gemeint ist das doch nicht; wer als verantwortlicher Polizeiführer in ähnlichen Situationen Folter androhen oder anwenden lässt, hat fortan wenig zu befürchten – nicht mal einen Karriereknick, denn das Disziplinarverfahren gegen Daschner wurde ohne Disziplinarmaßnahme beendet.
3. Der dritte hier zu erwähnende Vorgang ist das am 18. Juni 2004  von der Regierungskoalition beschlossene und am 15. Januar 2005 in Kraft getretene Luftsicherheitsgesetz. Es enthält in § 14 Absatz 3 eine Ermächtigung zum Abschuss von (Passagier-)Flugzeugen, wenn diese von Terroristen als Waffe gegen andere Ziele eingesetzt werden sollen. Trotz aller einschränkenden Voraussetzungen und verschleiernden Sprache: Im Kern enthält diese Norm die nach 1945 undenkbare Ermächtigung, über das Leben von Menschen zu richten, die nicht Verursacher der Gefahr sind – die einen zu töten, um die anderen zu retten. Auch dieser Vorgang wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur umfänglich erörtert. Das Bemerkenswerte ist: sogar der Bundespräsident zweifelte. Allein: er wankte zwar, doch fiel er nicht. Trotz tiefgreifender Zweifel unterschrieb Horst Köhler das Gesetz und schob den schwarzen Peter per Brief an die Fraktionen des Bundestages und das Bundesverfassungsgericht weiter.
Die Menschen- resp. Bürgerrechte sind in dieser Zeit auch durch viele andere Vorgänge unter Druck geraten: durch neue Sicherheitsgesetze, durch die Einführung neuer Überwachungstechnologien, durch die Verabreichung von Brechmitteln, durch Abschiebungen usw. Diese drei Vorgänge verdienen aber, besonders benannt zu werden. Gemeinsam ist ihnen, dass
– sie gedanklich Fundamente unseres Menschenrechtsverständnisses in Frage stellen,
– sie sich von der starken Stellung abwenden, die nach dem bisherigen Verständnis der Menschenrechte dem Individuum gegenüber Staat und Gesellschaft zusteht und den Einzelnen für Zwecke des übergeordneten Großen in die – sogar tödliche – Pflicht nehmen.
– es sich nicht um Ansichten oder Forderungen von den Rändern der Gesellschaft oder um Äußerungen der vox populi handelt, sondern die Protagonisten Teile der Pfeiler sind, auf denen das Staatsgebäude ruht: Rechtswissenschaft, Justiz, Gesetzgeber.
Diese Vorgänge unterhöhlen den Rechtsstaat von innen heraus: Rechtsstaat setzt voraus, dass der Einzelne stets Rechtssubjekt ist, dass er der Exekutive niemals restlos aus-geliefert wird, dass immer sein Rechtsstatus als autonomes Subjekt geachtet wird. Und genau dieses Fundamentalprinzip des Rechtsstaates wird durchbrochen: Die Folter zielt auf totale Unterwerfung  und will alle Widerständigkeit gegen eine Kooperation mit der Staatsmacht brechen. Auch die gezielte Tötung unschuldiger Bürger zur Abwehr von Gefahren für andere lässt keinerlei Raum mehr für Autonomie. (Hier wird argumentiert, die Autonomie sei den Betroffenen schon von den Entführern genommen worden, es handele sich quasi schon um lebende Tote. Doch trägt diese Argumentation nicht, sie kommt einer juristischen Vorverlagerung des Todes gleich. Da der Mensch den Verlauf zukünftiger Ereignisse nicht vorherwissen kann, gibt es den Rechtsstatus des noch lebenden Toten nicht.)
 II. Veränderungen
Unsere Gesellschaft verändert sich – verglichen mit vorangegangenen Epochen – rasant. Diese Veränderungen betreffen alle Lebensbereiche: die technologische und die Wissenschaftsentwicklung, die Art des Wirtschaftens, das soziale Gefüge der Gesellschaft, die Bindungen der Menschen

untereinander… Mitunter stellt das auch das Konzept der Bürgerrechte vor gänzlich neue Fragen, die sich nicht unter Rückgriff auf ihre traditionelle Systematik lösen lassen.
1. Staat und Gesellschaft sind „verbürgert“:  die alten Stände bzw. Klassen – Adel, Klerus, Handwerk, Bauern, auch das Industrieproletariat – haben sich aufgelöst, der für die Bürgerrechte konstitutive Gegensatz von Staat und Gesellschaft ist überwunden. Unserer Staat ist kein Feudalstaat, die Beamten keine exklusive Kaste mehr, er ist ein Staat des Bürgertums geworden, ein Instrument in der Hand der Bürger. Die große Mitte der Gesellschaft erlebt die Staatsmacht nicht mehr als Bedrohung, sondern als Garant ihrer Entfaltungsmöglichkeiten und ihrer Sicherheit. Als Bedrohung wird nicht mehr die Macht des Staates, sondern seine Ohnmacht gegenüber externen Bedrohungen wahrgenommen – Terrorismus, Zuwanderung, Asylsuchende, Verbrecher usw. Der machtvollste Teil der staatlichen Exekutive, die Polizei, ist zu der gesellschaftlichen Institution geworden, die in der Bevölkerung am meisten Vertrauen genießt.
2. Von existenzieller Bedeutung sind Menschenrechte für diejenigen, die – von der Mitte der Gesellschaft aus gesehen – die wahrgenommene Bedrohung verkörpern. Das setzt den Ansatz der Menschenrechte unter Druck, denn er hat keine natürliche Verankerung in der Mitte der Gesellschaft, sondern wird als lästig und hinderlich in der Auseinandersetzung mit den Bedrohungen empfunden.
3. Trotz der Auflösung der Klassen und der (fast) allgemeinen Verbürgerlichung findet in unserer Gesellschaft eine neue Segregation statt. Die Chancen zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern sind höchst ungleich verteilt, die Gegensätze haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Und niemals zuvor hat sich die Gesellschaft so umfassend der Rationalität der Wirtschaftsgesetze unterworfen. Die soziale Dimension der Menschenrechte gewinnt damit gegenüber den Freiheitsrechten an Bedeutung.
4. Technische und wissenschaftliche Entwicklungen erlauben einen Zugriff auf den Menschen, wie wir ihn bislang nicht gekannt haben. Beschränkungen, die dem Zugriff von Staat und Gesellschaft auf den Einzelnen durch den Stand der Technik gesetzt waren, entfallen und verlangen teilweise völlig neue Antworten, die nicht ohne weiteres aus dem traditionellem System der Bürgerrechte abgeleitet werden können.
So erlaubt uns bspw. der Fortschritt der Gentechnik den Zugriff auf Stadien der menschlichen Entwicklung, der uns bislang verwehrt war: Wir können Embryonen außerhalb des Mutterleibes technisch herstellen und am Leben halten, wir können per PID ihre genetische Qualität erkunden (und dann danach entscheiden, welcher in den Mutterleib eingepflanzt und welcher „verworfen“ wird), wir können klonen und künstliche Chimären aus menschlichen und tierischen Zellen herstellen, wir können die Keimbahnzellen manipulieren (so dass sich die Manipulationen auf die Nachkommen übertragen), und wir können genetisch bedingte Krankheiten erkennen, die sich noch gar nicht manifestiert haben.
Diese Zugriffsmöglichkeiten stellen grundlegende Fragen an das Konzept der Menschenrechte. Wann ist ein Mensch ein Mensch? Wann wird er zum Träger von Grundrechten und Menschenwürde? Welche Zugriffe auf die menschliche Entwicklung zu welchen Zwecken sollen zulässig sein? All dies sind Fragen, die auch aus bürgerrechtlicher Sicht beantwortet werden müssen.
Auch die Entwicklung der Informationstechnologie hat eine ganz neue Qualität von Zugriffsmöglichkeiten geschaffen: über Handys, GPS, Mautsysteme u.ä. lassen sich theoretisch Profile der physisch-realen Bewegungen fast jedes Bürgers herstellen; die virtuellen Bewegungen im Netz hinterlassen an jeder Serverkreuzung ihre Spuren, Patientenkarten sollen intime Gesundheitsdaten sammeln, elektronische Warenverwaltungssysteme können Konsumgewohnheiten offen legen usw. Mit riesigen Schritten nähern wir uns dem gläsernen Menschen. Als Anfang der 80er Jahre die Volkszählungsvorhaben zu massenhaftem Protest führte, hatten viele das Orwell-Jahr 1984 als Horror-Vision vor Augen. Zwanzig Jahre später sind wird dort angekommen und fühlen uns sauwohl dabei.
 III. Herausforderungen
Die Humanistische Union muss sich diesen Herausforderungen stellen: Auf die Veränderungen muss sie Antworten finden, gegen die Relativierungen die Bürgerrechte wieder in der Mitte der Gesellschaft verankern. Das bedeutet konzeptionelle Arbeit: sie muss das Konzept der Bürgerrechte fit machen für das 21. Jahrhundert.
Für diese Aufgaben braucht die HU Diskussions- und Bündnispartner: nicht nur die anderen alt-ehrwürdigen Bürgerrechtsverbände wie die Gustav Heinemann-Initiative oder das Grundrechte-Komitee, sondern auch: Gewerkschaften, Verbände, Kirchen, NGOs usw.
Entscheidend wird schließlich sein, ob es gelingt, die Idee der Bürgerrechte auch wieder für jüngere Menschen interessant zu machen. Wie andere Bürgerrechtsvereinigungen auch leidet die HU unter Überalterung und Mitgliederrückgang. Dies wird einerseits organisatorische Antworten erfordern – dass GHI und HU nun in Bürogemeinschaft arbeiten, ist ein Schritt in die richtige Richtung -, zwingt aber auch zum Nachdenken über Kommunikations- und Kampagneformen.

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