Beitragsbild Jugendkriminalität und Jugend(straf)politik
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Jugend­kri­mi­na­lität und Jugend(straf)politik

30. August 2020
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Gegen die Krimi­nal­po­litik mit der Angst

Verlagsbeilage der Humanistischen Union in der tageszeitung (taz) vom September 1998 (Redaktion: Roland Otte)

 

Verdeckter Ermittler im Kostüm

Verdeckter Ermittler mit potentiellen Delinquenten?

von Bernd-Rüdeger Sonnen

 

Jugendkriminalität bezeichnet die Gesamtheit aller Straftaten der 14- bis unter 18jährigen Jugendlichen und der 18- bis unter 21jährigen Heranwachsenden. Mit dem Begriff „Jugendkriminalität“ wird eine enge Beziehung zwischen „Jugend“ und „Kriminalität“ signalisiert. Vergleichbare, an persönlichen Merkmalen orientierte Bezeichnungen wie „Erwachsenenkriminalität“ oder gar „Kriminalität der Mächtigen“ sind zumindest ungewöhnlich. Einzelne Straftaten Jugendlicher, die betroffen machen und bei denen unser Mitgefühl den Opfern gilt, werden in einer um Sensationen konkurrierenden Medienlandschaft spektakulär dramatisiert. Unzulässige Gleichsetzungen und Verkürzungen sind die Folge: Jugendkriminalität wird zur typischen Kriminalität, delinquentes Verhalten Jugendlicher als Gewaltkriminalität wahrgenommen. Kinder und Jugendliche gelten als zunehmend gewaltbereit, kriminell und gefährlich (nicht als gefährdet). Die subjektive Kriminalitätsfurcht, die ohnehin das objektive Opferrisiko um ein Vielfaches übersteigt, wächst und wird schließlich zur Angst vor „der“ Jugend. Es entsteht das Feindbild von „kleinen Monstern“ und „Brutalo“-Jugendlichen. „Bekämpfung“ ist angesagt, d.h. Wegsperren und Ausgrenzen.

Dämonisierung und Ängste um die innere Sicherheit werden so zum Anlaß für die repressive Wende in der Jugend- und Kriminalpolitik. Anstelle aufgeregter Forderungen an den Gesetzgeber mit der Folge von Panikgesetzen sind jedoch Augenmaß und Besonnenheit, Sensibilität und Rationalität im Umgang mit Jugendkriminalität angebracht.

Jugendkriminalität ist ein Teilausschnitt der Kriminalität. Korruptions-, Umwelt- und Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung, Waffen- und Menschenhandel, aber auch Gewalt in der Familie (wie Kindesmißhandlung und sexueller Mißbrauch) sind Kriminalitätserscheinungsformen bei Erwachsenen. Jugendliche fallen durch eher sichtbare und leichter nachweisbare Delikte besonders im Bagatellbereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität auf. In den Statistiken sind sie entsprechend überrepräsentiert. Die polizeilich registrierte Jugendkriminalität ist wie in allen europäischen Ländern in den letzten Jahren auch bei den Gewaltdelikten angewachsen; die Anzeigebereitschaft hat zugenommen. 7,3% aller Jugendlichen und 8% aller Heranwachsenden sind 1996 als tatverdächtig registriert, 92,7% bzw. 92% sind also nicht polizeiauffällig geworden. Bei 0,9% bestand der Verdacht einer Gewalttat. Die oft behauptete neue Qualität der Gewalt läßt sich nicht hinreichend sicher belegen. Fest steht dagegen, daß es sich überwiegend um Gewalt innerhalb der Gleichaltrigengruppe handelt, beispielsweise in Form von sog. „Abziehereien“ (von Kleidungsstücken), die sich strafrechtlich als Raub oder räuberische Erpressung darstellen. Nach wie vor sind Kinder und Jugendliche viel öfter Opfer von Gewaltanwendung durch Erwachsene als Täter. Gesichert ist auch, daß Jugendkriminalität ein normales und vorübergehendes Phänomen ist. Ein Einstieg in eine „kriminelle Karriere“ läßt sich jedenfalls selbst bei wiederholten Straftaten nicht zuverlässig prognostizieren.

Auf diesen, durch neuere kriminologische Forschungen belegten Erkenntnissen beruht die 1990 mit dem 1. Jugendgerichtsgesetz-Änderungsgesetz begonnene Reform des Jugendstrafrechts. Eckpfeiler sind der Verzicht auf eine formelle Sanktion zugunsten einer informellen Erledigung (Diversion), von der die Praxis in 2 von 3 Fällen Gebrauch macht. Diversion ist eine schnellere, humanere und kostengünstigere Möglichkeit, die unter Präventionsaspekten auch erfolgversprechender ist. Kommt es zu Anklage, Hauptverhandlung und Urteil, können ambulante Maßnahmen wie Betreuungszuweisung, sozialer Trainingskurs und Täter-Opfer-Ausgleich die traditionellen Reaktionsformen der Geldbuße, des Jugendarrestes und der Jugendstrafe weitgehend ersetzen, ohne daß sich die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Der Gesetzgeber erinnert selbst an die schädlichen Nebenwirkungen des Vollzuges von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe und signalisiert weiteren Reformbedarf.

Der aktuelle Ruf nach mehr Härte verläßt diesen Reformkurs. Gefordert werden Herabsetzung der Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre, Herausnahme der Heranwachsenden aus dem Jugendstrafrecht, geschlossene Unterbringung, Einstiegsarrest bei Bewährung, längere Strafen und mehr Jugendstrafvollzug. In dem veränderten kriminalpolitischen Klima wird das Jugendgerichtsgesetz mit seinen Weichenstellungen zur Jugendhilfe als „Schmuse-Strafrecht mit allerlei Sozial-Klimbim“ diffamiert. Es gibt aber keinen Beleg dafür, daß die Ausgangsbasis des Reformansatzes nicht mehr tragfähig ist – im Gegenteil. Der Ruf nach einem zupackenden Strafrecht vernachlässigt die Entstehungs- und Bedingungszusammenhänge der Jugendkriminalität vor dem Hintergrund sozialstruktureller Veränderungen, Ausgrenzungen und Marginalisierungen und lenkt von persönlicher, gesellschaftlicher und politischer (Mit-) Verantwortung ab. Es fehlt die gerade im Interesse potentieller Opfer liegende Folgenorientierung.

Anstelle repressiver Sicherheitskonzepte sollten erfolgversprechende präventive Ansätze mit Mut und Phantasie weiterentwickelt werden. Falsch wäre es allerdings, statt einer eigenständigen emanzipatorischen Jugendpolitik unter dem Aspekt der Kriminalprävention lediglich eine Jugendstrafpolitik zu betreiben.

 

Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen lehrt am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg und ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe.

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