Themen / Frieden

Sorge über die derzeitige Gefährdung des Völker­rechts

12. Dezember 2002

Offener Brief des Forums Menschenrechte an die bundesdeutsche Regierung vom Dezember 2002

Offener Brief an die bundesdeutsche Regierung
Herrn Bundeskanzler Schröder
Herrn Bundesaußenminister Fischer

cc: den Deutschen Botschafter bei der UN, Herrn Pleuger
cc: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
cc: Auswärtiger Ausschuss

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Bundesaußenminister,

die Bundesrepublik Deutschland übernimmt am 1. Januar 2003 den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Das FORUM MENSCHENRECHTE, in dem mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen sind, nimmt dies zum Anlass, Ihnen in einem offenen Brief unsere Sorgen über die derzeitige Gefährdung des Völkerrechts zu erläutern. Zugleich möchten wir Ihnen unsere Forderungen bezogen auf eine mögliche militärische Intervention im Irak verdeutlichen.

Die Einhaltung und Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Grundlagen ist entscheidend für den Menschenrechtsschutz. Das FORUM MENSCHENRECHTE hat wiederholt die mangelhafte Umsetzung der völkerrechtlich verankerten Menschenrechte kritisiert.

Die neue Doktrin der US-Regierung, mit der die USA anderen Mitgliedstaaten der UN ausdrücklich auch Präventivschläge und -kriege androhen, verstößt eklatant gegen die UN-Charta, die ihre Mitglieder (in Art. 2) verpflichtet, „ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beizulegen und deshalb die „Androhung oder Anwendung von Gewalt“ als unvereinbar mit den Zielen der Vereinten Nationen verbietet. Die neue US-Doktrin bedroht nicht nur das im letzten halben Jahrhundert mühsam weiter entwickelte Völkerrecht; Sie bedeutet auch die erneute Legitimierung des Krieges als Mittel der Politik und die Rückkehr zum „Faustrecht“ in den internationalen Beziehungen.

Kern der unter der Regierung Bush formulierten US-Doktrin ist, dass die besondere politische Rolle der USA auch eine völkerrechtliche Ausnahmestellung rechtfertige und verlange. Dieser US-amerikanische Anspruch auf Sonderrechte ist bereits in der Politik der US-Regierung zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) überaus deutlich geworden. Kein Amerikaner, so heißt es fast täglich in offiziellen Stellungnahmen, dürfe je vor einem internationalen Gerichtshof stehen, der nicht von den USA kontrolliert werde. Damit wird der IStGh bereits schwer beschädigt, noch ehe er seine Arbeit überhaupt begonnen hat. Denn die hohen in ihn gesetzten Erwartungen wird der Gerichtshof annähernd nur erfüllen können, wenn seine moralische Autorität uneingeschränkt intakt ist. Der Anschein der Unparteilichkeit und des gleichen Rechts für alle sind dafür unabdingbar. Deren unabdingbare Grundlage ist die konsequente Anwendung des Prinzips gleichen Rechts für Alle.

Die Relativierung des zu Recht als völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Durchbruch gefeierten Rom-Statuts des IStGh ist umso alarmierender, als die US-Regierung sich bei ihrem Angriff keineswegs auf den IStGh beschränkt, sondern das menschenrechtliche Völkerrecht, wie es seit Beginn der Vereinten Nationen gewachsen ist, heute grundsätzlich in Frage stellt: Der Kritik an der Behandlung der in Guantánamo inhaftierten Personen, welche den Genfer Konventionen und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und zivile Rechte zuwiderläuft, begegnet die US-Regierung bereits mit dem Argument, dass das humanitäre Völkerrecht im Kampf gegen den Terrorismus nicht mehr tauge. Wie soll von anderen Staaten die Beachtung dieser Rechtsnormen verlangt werden, wenn der mächtigste Staat der Erde sie nicht nur verletzt, sondern öffentlich in Frage stellt, und die europäischen Staaten dazu nicht eindeutig Stellung beziehen?

Das FORUM MENSCHENRECHTE ist besorgt, dass die Bundesregierung und die europäischen Staaten die Gefahr einer Aushöhlung des internationalen Rechts nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen und entsprechend entschieden zu seiner Verteidigung auftreten.

Die gegenwärtige Weltpolitik, dominiert von der US-Administration, stellt sich zunehmend als ein Prozess der Zersetzung des Völkerrechts und der Instrumentalisierung der UN durch globale Einfluss-Absprachen zwischen den Veto-Mächten des UN-Sicherheitsrats dar, denen dabei eigener Machtzuwachs wichtiger ist als Frieden und Menschenrechte. Dem muss mit einer entschiedenen Menschenrechts-Strategie begegnet werden, die die Erzeugung des notwendigen politischen Drucks ohne Militäreinsätze und entsprechende Kriegsfolgen erlaubt.

Grundelemente einer solchen Strategie – wie sie bereits die Nicht-Regierungsorganisationen auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 gefordert haben – sind „Prävention“ und „Dialog“ als Grundorientierung ziviler Konfliktbearbeitung. Um die Ursachen von Terror und Hass zu überwinden, sind außerdem alle Mittel zur Überwindung von Not, Hunger und Armut einzusetzen, die bisher in riesigen Aufrüstungsvorhaben gebunden sind.

Mitgliedsorganisationen im FORUM MENSCHENRECHTE haben seit langem auf die schweren Menschenrechtsverletzungen im Irak aufmerksam gemacht. Die irakische Bevölkerung leidet seit Jahren unter den Menschenrechtsverletzungen, die ihr ihre Regierung zufügt: systematische Folter, außergerichtliche Hinrichtungen, „Verschwindenlassen“, willkürliche Verhaftungen, Vertreibungen und unfaire Gerichtsverhandlungen. Es wird geschätzt, dass allein im Nordirak etwa eine halbe Million Kurden, Assyrer, Yeziden und Turkmenen in den vergangenen drei Jahrzehnten den gezielten Exekutionen, Bombardements, Vertreibungen, Massakern und Folterungen zum Opfer gefallen sind. Bis zu 3,5 Millionen irakische Staatsangehörige sind durch die brutale, gegen Minderheiten gerichtete Politik zu Flüchtlingen und Vertriebenen geworden.

Irakische Flüchtlinge brauchen Schutz. Der dramatische Fall der BAMF-Anerkennungsquoten von über 65% im Jahr 2001 auf nur noch 16,5% im September 2002 ist nicht zu rechtfertigen. Mit großer Sorge sehen wir, dass die Nachbarstaaten Türkei und Iran sich bereit machen, eine erneute Massenflucht aus dem Irak über ihre Grenzen zu verhindern. Statt koordinierter Abschottung bedarf es einer gemeinsamen Aufnahmepolitik, bei der auch Deutschland aktiv mitwirken muss.

Zu den massiven Menschenrechtsverletzungen im Irak kommt die Verelendung weiter Teile der irakischen Bevölkerung aufgrund der 1990 von der UN verhängten Sanktionen. Insbesondere Säuglinge und Kinder nehmen Schaden. Verschiedene UN-Gremien wie UNICEF oder das UN-Welternährungsprogramm verweisen auf die Leiden der irakischen Bevölkerung. Der UN-Sicherheitsrat muss diese Appelle berücksichtigen. Die Sanktionen haben das Recht auf Nahrung, auf Gesundheit, auf Bildung in vielen Fällen extrem verschlechtert.

Zwar missbraucht die irakische Regierung die Auswirkungen der Sanktionen für eigene Propagandazwecke. Doch das rechtfertigt nicht, dass der UN-Sicherheitsrat den Stimmen keine Beachtung schenkt, die eine Aufhebung derjenigen Sanktionen fordern, die zu schweren Verletzungen der Rechte der irakischen Bevölkerung führen.

Das FORUM MENSCHENRECHTE fordert die Bundesregierung auf, im Konflikt um den Irak auf internationaler Ebene offensiv politische Initiativen zu ergreifen mit dem Ziel, auf politischem Wege eine Verbesserung des Menschenrechtsschutzes der irakischen Bevölkerung zu erreichen. Die Frage, was für den Schutz der Zivilbevölkerung – insbesondere der Opfergruppen der grausamen Unterdrückungspolitik des Baath-Regimes – jenseits der Option einer militärischen Option getan werden kann, muss in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen rücken.

Für die vor Ihnen liegenden Aufgaben im UN-Sicherheitsrat wünschen wir Ihnen gutes Gelingen.

Mit freundlichen Grüssen,

gez. Rainer Huhle
(Nürnberger Menschenrechts-
zentrum)

Barbara Lochbihler
(amnesty international)

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