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Sozialhilfe und Lohnpolitik in der Krise

24. Februar 1985

aus vorgänge Nr. 73 (Heft 1/1985), S. 97-110

Die seit einem Jahrzehnt anhaltende Beschäftigungskrise wird aller Voraussicht nach auch die kommende Dekade prägen. Glaubt man den zur Zeit vorliegenden Prognosen, wird sich das Ausmaß an Massenarbeitslosigkeit weiter erhöhen, wird die Zahl derer, die aus dem Beschäftigungssystem zeitweilig oder dauerhaft ausgegrenzt werden, weiter ansteigen.
Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Arbeitsmarktlage auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten im bisherigen Verlauf der Krise hatte, welche sie künftig haben könnte. In welchem Maße verschärfen sich durch die Krise individuelle und kollektive Verarmungsrisiken? In welchem Maße kann Lohnpolitik, können sozialstaatliche Sicherungssysteme dazu beitragen, die Einkommen der abhängig Beschäftigten wie der Beschäftigungslosen zu stabilisieren? Bei dem folgenden Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird das Verhältnis von Lohnpolitik und Sozialhilfe(politik) im Vordergrund stehen.

Systembedingte Grundgefährdung und Einkommenssicherung

Die Lebenslage der abhängig Beschäftigten ist in der kapitalistischen Gesellschaft durch eine »systembedingte Grundgefährdung« (Bäcker u.a. 1980) gekennzeichnet. Wer in dieser Gesellschaft nicht über entsprechenden Besitz verfügt, ist gezwungen, vom Verkauf seiner Arbeitskraft zu leben. Da die Logik des Produktions- und Marktsystems primär auf privatwirtschaftliche Gewinnerzielung ausgerichtet ist, stellt das Einkommen der abhängig Beschäftigten aus der Sicht der Beschäftiger eine Kostengröße dar, die es zu minimieren gilt, um im marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampf überleben zu können. Selbst bei störungsfreiem Austausch von Arbeit und Einkommen ist daher aufgrund der widersprüchlichen Interessenlage der Marktparteien eine dauerhafte individuelle wie kollektive Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen keineswegs gewährleistet. Treten Störungen dieses Austauschs auf, ist mit dem Verlust von Erwerbseinkommen auch die Grundlage der Existenz in Frage gestellt, drohen Not und Armut.
Die ökonomische Unsicherheit der sozialen Gruppe der Lohnabhängigen hat kollektive Strukturen der Einkommens- und Existenzsicherung entstehen lassen: Einerseits haben sich die Gewerkschaften als Organisationen der ökonomischen Interessenvertretung der Lohnabhängigen herausgebildet, die allerdings mit wachsender Größe und Einfluß zugleich gesellschaftliche Ordnungsfunktionen wahrnehmen. Ihre Aufgabe besteht darin, über Prozesse des Interessenausgleichs zwischen den abhängig Beschäftigten und über kollektives bargaining mit den Beschäftigern eine Entlohnung (und Anwendungsbedingungen) der Arbeit durchzusetzen, die eine dauerhafte Existenzsicherung wie eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum für alle Beschäftigten ermöglicht. Gewerkschaftliche Lohnpolitik sichert daher unter den Bedingungen des ungestörten Austauschs der Ware Arbeit die »normalen« Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten. Sie leistet dies freilich in höchst unterschiedlichem Maße, wie sich an der hierarchischen Struktur der Tarif- und Effektiveinkommen, aber auch an den Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen Branchen und Regionen ablesen läßt.

Andererseits wurden sozialstaatliche Sicherungssysteme geschaffen, deren Aufgabe einmal darin liegt, normale Arbeitseinkommen auf ein existenzsicherndes Minimum aufzustocken, wenn dies besondere Bedarfslagen erfordern; vor allem sollen sie jedoch die bei Störungen des Verkaufs auftretenden Existenzrisiken aufheben bzw. abmildern. Sie gewährleisten ein Einkommen, auch wenn aus subjektiven oder objektiven Gründen keine Arbeitsleistung erbracht werden kann. Sozialhilfe tritt dabei als letztes Netz, als Ausfallbürge für vorgelagerte Sicherungssysteme auf und soll die Führung eines Lebens entsprechend der Würde des Menschen ermöglichen.

Gewerkschaftliche Lohnpolitik und sozialstaatliche Sicherungssysteme stehen also in einem komplementären Verhältnis zueinander; sie tragen gemeinsam dazu bei, die Einkommens- und Lebenslage der abhängig Beschäftigten zu sichern. Inwieweit sind sie unter den Bedingungen der Krise tatsächlich in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen?

»Industrielle Reservearmee« und sozialstaatliche Einkommenssicherung in der Krise

Die möglichen Wirkungen einer anhaltenden Beschäftigungskrise auf die Einkommen der Lohnabhängigen beschreibt die Argumentationsfigur der »industriellen Reservearmee«. Unter »industrieller Reservearmee« oder »relativer Überschußbevölkerung« verstand Marx eine Reserve unbeschäftigter Arbeitsuchender auf dem Arbeitsmarkt, die durch ihren aktiven Wettbewerb um Arbeitsplätze einen dauernden Druck auf das Lohnniveau ausüben. Sie sorgen dafür, daß unter dem Sog der Kapitalakkumulation die Löhne nicht dauerhaft über das Niveau hinaussteigen können, das mit den Verwertungsinteressen der Kapitaleigner nicht vereinbar ist. Eine akkumulationsbedingte Verringerung dieser Reserve und ein dadurch möglicher stärkerer Lohnanstieg muß Gegenstrategien der Kapitalseite auslösen, die zu einer Wiederherstellung der Überschußreserve und damit zu einem absoluten oder relativen Sinken des Lohnniveaus führen. Die systemfunktionale Aufgabe der Beschäftigungskrise besteht also darin, über eine Wiederauffüllung der Reservearmee die Einkommensansprüche der Lohnabhängigen im Zaum zu halten (vgl. Marx 1970, 657 ff.).
In diesem Erklärungsmodell fungiert die industrielle Reservearmee als zentrales Regulationsinstrument der kapitalistischen Marktökonomie, indem sie Akkumulationsprozeß und Einkommensverteilung miteinander kompatibel macht. Dabei definiert sie die Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt, die über die erfolgreiche Interessendurchsetzung der Anbieter- und Nachfragerseite entscheiden.
Vobruba (1983, 108 ff.) hat darauf hingewiesen, daß die Fähigkeit der Reservearmee zur Erfüllung dieser Aufgabe abhängt
– vom Grad der Existenzgefährdung für die aus dem Beschäftigungssystem Ausgegrenzten und
– vom Droheffekt des Arbeitsplatzverlustes für die (noch) Beschäftigten.
Die Wirksamkeit beider Momente wird durch die Existenz sozialstaatlicher Sicherungssysteme entscheidend modifiziert. Diese korrigieren das primäre Machtgefälle am Arbeitsmarkt, das darin begründet ist, daß die Kapitalseite die Möglichkeit zur strategischen Zurückhaltung ihrer Nachfrage nach Arbeitskräften besitzt, während die Lohnabhängigen auf den permanenten Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um (über-)leben zu können. Die strategische Funktion sozialstaatlicher Sicherungssysteme im Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit liegt also darin, durch Gewährung von Transferzahlungen für die Beschäftigungslosen den Zwang zur Annahme jeder Arbeit zu reduzieren und zugleich bei den (noch) Beschäftigten durch die Gewißheit der Auffangnetze die Drohung des Arbeitsplatzverlusts zu entschärfen. Als nichtmarktvermittelte Formen der Existenzsicherung mindern sie den »stummen Zwang« der Marktökonomie; indem sie die Anbieterkonkurrenz verringern, erhöhen sie die Konfliktfähigkeit der Anbieterseite des Arbeitsmarkts. Sie unterstützen daher die Bemühungen der Gewerkschaften, die Einkommensposition der abhängig Beschäftigten in der Krise zu sichern.

Die Wirkungsgesetze der Reservearmee werden durch den sozialstaatlichen Eingriff jedoch nicht einfach aufgehoben, wie Vobruba meint (a.a.O.); vielmehr verweist die innere Ausgestaltung dieser Sicherungssysteme darauf, daß für die Leistungsempfänger die prinzipielle Angewiesenheit auf Arbeitsmarkt und Erwerbseinkommen aufrechterhalten werden soll. Vor allem die restriktiven Bedingungen der Leistungsgewährung sollen den Wegfall des äußeren Drucks durch den Arbeitsmarkt ersetzen. Das System der sozialen Sicherung trägt also in sich die doppelte, sich widersprechende Zielsetzung, zugleich eine materielle Einkommenssicherung und eine Aufrechterhaltung der Anbieterkonkurrenz bzw. des Drucks der Reservearmee zu gewährleisten. Gerade in der Krise tendiert die sozialpolitische Komponente dazu, gegenüber der ordnungspolitischen an Gewicht zu verlieren — vermittelt über die wachsende Bedeutung haushaltspolitischer Problemstellungen: Je mehr die Zahl der Ausgegrenzten wächst und je länger die Krise anhält, umso stärker wird der Konflikt zwischen wachsenden öffentlichen Aufgabe- und Ausgabelasten einerseits und begrenzten finanziellen Ressourcen des Staates andererseits (vgl. Grauhan/Hickel 1978), umso prekärer wird die Aufrechterhaltung der sozial-politischen Sicherungsfunktion.
Darüber hinaus macht die beschriebene »Pufferrolle« diese Sicherungssysteme in der Krise zu einem zentralen Angriffspunkt konservativ-liberaler Politikstrategien; sind doch die Erfolgschancen von Angriffen auf die Lohneinkommen davon abhängig, daß parallel dazu die soziale Sicherung abgebaut werden kann. Als sozialstaatliche Systeme der Einkommenssicherung in der Krise sind vor allem Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe gefordert. Der »verteilungsstrategische Zusammenhang zwischen Arbeits- und Sozialeinkommen« (Adamy/Steffen 1983, 607) konzentriert sich zunächst auf die sozialversicherungsrechtliche Sicherungslinie, verlagert sich aber — je stärker die erste Linie aufgeweicht wird – zunehmend auf die Sozialhilfe als letztem Netz des Sicherungssystems.
Wie hat sich nun die eingangs skizzierte Arbeitsmarktentwicklung auf die Einkommen der Lohnabhängigen ausgewirkt, wie haben sich Lohn- und Sozialeinkommen entwickelt, inwiefern haben Lohn- und Sozialpolitik eine Einkommensgefährdung in der Krise verhindern können?

Arbeitseinkommen und Lohnpolitik in der Krise

Betrachtet man die Einkommen der abhängig Beschäftigten im vergangenen Jahrzehnt, stellt man fest, daß die (Brutto-)Tarif- und Effektiveinkommen in diesem Zeitraum absolut gestiegen sind – wenn auch geringer als in den Jahrzehnten zuvor und mit deutlich sinkender Tendenz in den letzten Jahren. Sie stiegen seit Ausbruch der Krise jedoch in allen Jahren (außer 1979 und 1980) schwächer als die Besitzeinkommen; die bereinigte Lohnquote, ein Maß für die funktionelle Einkommensverteilung zwischen den Einkommen aus Besitz und aus abhängiger Arbeit, fiel von 1975 bis 1983 von 71,5 auf 68,5 %. Die Entwicklung der privaten Einkommen vor staatlicher Umverteilung ist also in den letzten zehn Jahren durch eine massive Umverteilung zu Lasten der Lohneinkommen gekennzeichnet. Das Lohnniveau wurde – bezogen auf Volkseinkommen und Besitzeinkommen – nachhaltig abgesenkt.
Die Nettoeinkommen aus Besitz und unselbständiger Arbeit haben sich noch stärker auseinanderentwickelt. Die steuerliche Belastung des Unternehmersektors lag 1983 mit 17,6% Abgabenanteil auf dem niedrigsten Stand der Nachkriegszeit; demgegenüber ist die Belastung der Einkommen der abhängig Beschäftigten kontinuierlich weiter angestiegen und lag 1983 bei 31,3%. Schließlich stiegen die Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten seit 1980 sogar schwächer als das Preisniveau; sie sind also seitdem jährlich real gesunken. Auch bei Betrachtung der Haushaltseinkommen ergibt sich ein vergleichbares Bild: zwischen 1975 und 1981 hat eine deutliche Umverteilung zugunsten der Selbständigenhaushalte (ohne Landwirtschaft) stattgefunden. Erhöhten sich die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmerhaushalte lediglich um ca. 34 % (real um 4,6 %), lag der Anstieg bei den Selbständigen bei etwa 58 % (real +22 %) (zu den Zahlen vgl. Welzmüller 1984 a, 1984 b).
Darüber hinaus haben sich die Einkommen der Unselbständigen stärker ausdifferenziert, sind vor allem die Besetzungszahlen unterer Einkommensklassen gestiegen sind. Dazu haben neben verschärfter interner und externer Personalrotation der Betriebe, der Ausbreitung neuer, marginalisierter Beschäftigungsformen, Umschichtungen der Arbeitsplatzstruktur und wachsenden Einkommensdifferenzen zwischen Branchen und Regionen auch gewerkschaftliche Tarifstrategien beigetragen. Im Gegensatz zu früheren Jahren haben die Gewerkschaften in der Krise darauf verzichtet, untere Tarifgruppen über Festbetrags- und Sockelerhöhungen besonders abzusichern.

Insgesamt ist es der gewerkschaftlichen Lohnpolitik im bisherigen Verlauf der Krise nicht gelungen, eine Verschlechterung der Lebenslage der Lohnabhängigen zu verhindern; in den letzten Jahren mußten sogar absolute Einbußen im realen Lebensstandard hingenommen werden. Damit stieg das Risiko für wachsende Teile der Erwerbsbevölkerung, im Gefolge der Beschäftigungskrise in Armut bzw. armutsnahe Lebenslagen abzusinken. Dieses Risiko konkretisiert sich über drei Abstiegskanäle:

  • Durch die allgemeine Senkung des Lohnniveaus werden vor allem untere Lohngruppen in die Nähe von bzw. unter die Armutsgrenze gedrückt.
  • Die wachsende Ausdifferenzierung unterer Einkommensgruppen läßt die Zahl der Bezieher von armutsnahen Niedrigeinkommen ansteigen.
  • Die zeitweilige oder dauerhafte Ausgliederung aus Erwerbsarbeit und der damit einhergehende Verlust von Erwerbseinkommen haben schließlich für die Betroffenen eine unmittelbare Existenzgefährdung zur Folge, wenn nicht sozialstaatliche Lohnersatzleistungen kompensierend eingreifen.

Welchen Beitrag haben die sozialstaatlichen Sicherungssysteme geleistet, diese drohenden Verarmungsrisiken aufzufangen und die Einkommensentwicklung der Lohnabhängigen zu stabilisieren?

Die sozialversicherungsrechtliche Auffanglinie: Arbeitslosenversicherung

Zentrale Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist der Schutz vor den materiellen Folgen von Arbeitslosigkeit; sie erfüllt diese Sicherungsfunktion vor allem durch die gestuften Lohnersatzleistungen Arbeitslosengeld und -hilfe. Wesentlichstes Konstruktionselement dieser Formen einer Einkommenssicherung ist ihre Ausgestaltung nach dem Äquivalenzprinzip. Bezugsgröße der Unterstützungsleistungen ist das vormalige (bereinigte) Erwerbseinkommen, insofern spiegeln Arbeitslosengeld und -hilfe die Einkommenspyramide der Beschäftigten auf abgesenktem Niveau wider. Aber nicht nur Höhe, sondern (beim Arbeitslosengeld) auch Dauer der Leistung sind nach dem Äquivalenzprinzip geregelt. Darüberhinaus setzt der Bezug dieser Leistungen vormalige Beitragsleistungen von einer Mindestdauer voraus, ist er gekoppelt an die Bereitschaft der Leistungsempfänger, zumutbare Arbeit am Arbeitsmarkt anzunehmen. Schließlich wird Arbeitslosenhilfe nur gewährt, wenn ein tatsächlicher Bedarf geltend gemacht werden kann und dieser im Rahmen einer Bedürftigkeitsprüfung anerkannt wurde. Zusammengenommen führen diese Konstruktionsmerkmale der Arbeitslosenversicherung dazu, daß eine weitgehende materielle Absicherung (auf freilich reduziertem Niveau) nur für die Kerngruppe der ehemals besserverdienenden, langjährig beschäftigten Arbeitnehmer erreicht wird, während Angehörige der. Randbelegschaften und vor allem der sog. Problemgruppen des Arbeitsmarkts entweder überhaupt keine Ansprüche besitzen oder durch das niedrige Leistungsniveau in armutsnahe Lebenslagen abgedrängt werden. Die Arbeitslosenversicherung erfüllt also keineswegs die Aufgabe, alle Beschäftigungslosen vor den Folgen der Arbeitslosigkeit zu schützen; vielmehr bewirken ihre strukturellen Konstruktionsmängel, daß bei anhaltender Beschäftigungskrise für wachsende Teile der Erwerbstätigen die Ausgrenzung am Arbeitsmarkt durch das versicherungsrechtliche Leistungssystem nicht aufgehoben, sondern verdoppelt wird.

Diese Strukturdefizite wurden im Gefolge der Krise durch wiederholte politische Einschnitte in das Leistungssystem des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) sogar noch verschärft. Anlaß hierfür bot die Überforderung der versicherungsrechtlichen Form einer kollektiven Risikovorsorge gegen Arbeitslosigkeit durch die anhaltende Massenarbeitslosigkeit. Bei schrumpfenden bzw. stagnierenden Beitragseinnahmen und rapide wachsendem Ausgabebedarf ist die chronische Defizitneigung eines solchen Sicherungssystems in der Krise vorprogrammiert. Zwar könnten die Beitragssätze kontinuierlich angehoben, könnte der Kreis der Beitragszahler ausgeweitet, könnte die Zuschußpflicht des Bundes zur Aufrechterhaltung des Leistungsniveaus genutzt werden. Die Versicherungsform ermöglicht und begünstigt jedoch eine Lösungsstrategie, die sich primär an einer fiskalischen Sanierung orientiert und ihren Niederschlag findet in Leistungseinschränkungen wie in restriktiveren Bedingungen der Leistungsgewährung auf Kosten der betroffenen Leistungsempfänger. Eine solche Politik hat sich in der Bundesrepublik vor allem seit der Operation ’82 durchgesetzt. Indem sie das Leistungsniveau der Arbeitslosenversicherung senkte, die Leistungdauer verkürzte und die Zugangsbedingungen zu diesen Leistungen erschwerte, hat sie die Ausgrenzungspforten dieses Leistungssystems drastisch erweitert (vgl. Balsen u.a. 1984).
Die Überschneidungsbereiche zwischen Arbeitslosenversicherung (AFG) und Armenpolitik (BSHG) haben seither zugenommen: 1982 mußten bereits fast 100 000 Bezieher von AFG-Leistungen zusätzlich Sozialhilfe in Anspruch nehmen (vgl. Deininger 1984, 445); Arbeiter- und Armenpolitik sind somit in der Krise enger zusammengerückt (vgl. Adamy/Steffen 1984). Dem Leistungssystem der Sozialhilfe ist durch diese Entwicklung in der Krise zunehmend die Funktion einer allgemeinen sozialpolitischen Grundsicherung zugewachsen. Damit gewinnen Bedingungen wie Niveau der Leistungsgewährung im Rahmen der Sozialhilfe wachsendes Gewicht für den Zusammenhang von Reservearmee und Einkommensentwicklung in der Krise.

Sozialhilfe zwischen Sicherheitsabstand und Bedarfsprinzip

Die Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherung hat »unter normalen Bedingungen« die Aufgabe, soziale Risiken und Notlagen abzudecken, die durch vorgelagerte Sicherungssysteme nicht aufgefangen werden. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sichert all denen, die über keine oder keine ausreichenden Einkommen verfügen, deren Geld- und Grundvermögen bestimmte Grenzen nicht übersteigt und die keine unterhaltspflichtigen Angehörigen besitzen, einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe zu. Die Hilfeleistung soll den bedürftigen Personen eine Lebensführung ermöglichen, die mit
der Würde des Menschen zu vereinbaren ist ( § 1 Abs. 2 BSHG). Vor allem im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt soll eine Bedärfsdeckung im Sinne eines sozio-kulturellen Existenzminimums gewährleistet werden.
Die Leistungen der Sozialhilfe werden nachrangig gewährt; Vorrang haben nicht nur andere Sozialleistungen und private Versorgungsansprüche, sondern hat vor allem die Verpflichtung, eine Arbeit am Arbeitsmarkt anzunehmen. Der Hilfeempfänger wird damit grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen; darauf, durch den Verkauf seiner Arbeitskraft ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Diese Verpflichtung wird insbesondere durch die Sanktionsnorm des § 25 BSHG erzwungen. Charakteristisches Merkmal der Sozialhilfe ist darüberhinaus die sog. Bedürftigkeitsprüfung; sie dient in der Praxis weniger der Ermittlung des zu einem menschenwürdigen Leben notwendigen, individuellen Bedarfs, sondern soll vor allem feststellen, ob tatsächlich alle vorrangigen Leistungsansprüche ausgeschöpft wurden.  Die restriktiven Prinzipien der Arbeitspflicht und der Bedürftigkeitsprüfung wurden als zentrale Elemente der klassischen Fürsorge in das BSHG übernommen. Sie erfüllen die ordoliberale Forderung, den Zugang zu dieser Hilfeleistung so schwierig wie möglich zu gestalten, da die Leistungen der Sozialhilfe in keinem Verhältnis zu individuellen Vorleistungen stehen. Die von diesem »latenten ordnungspolitischen Sprengsatz« (Klauberg/Prinz 1984) befürchteten negativen Rückwirkungen des sozialstaatlichen Eingriffs in den privaten Prozeß der Einkommensentstehung und -verteilung sollen also minimiert werden. Vor allem der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft darf nicht untergraben werden, würden doch sonst die Grundlagen des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, würden insbes. das Leistungsprinzip und die Wirkungsgesetze, der Reservearmee außer Kraft gesetzt.

Aber nicht nur die fehlende Koppelung von Leistung an Vorleistung, von Essen an Arbeit kennzeichnet den System-Sprengsatz der Sozialhilfe. Auch die Bemessung der Hilfeleistung selbst steht in (potentiellem) Gegensatz zu den Gesetzen des Marktes: Erwerbseinkommen werden nach Markt- und nicht nach individuellen Bedarfsgesichtspunkten bemessen; sie richten sich nach der allgemeinen Lohnentwicklung sowie nach der Position der Beschäftigten innerhalb der Berufs- und Einkommenspyramide. Demgegenüber liegt der Sozialhilfe — zumindest dem Anspruch nach — der individuelle Bedarf zugrunde. Sinkt das allgemeine Einkommens- und Lohnniveau, sinken insbesondere die unteren Lohngruppen, wächst eine Überschneidungszone, innerhalb derer das Erwerbseinkommen nicht mehr ausreicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Möglichkeit wie Ausmaß dieses Überschneidungsbereichs hängen nicht nur von der individuellen und kollektiven (Erwerbs-)Einkommensentwicklung ab, sondern ebenso von Definition wie Niveau dessen, was als Minimumstandard gelten soll.

In der bundesrepublikanischen Sozialhilfe — insbesondere in der »Hilfe zum Lebens-unterhalt« (HzL), die ja eine alltägliche Lebensführung auf dem Niveau eines sozio-kulturellen Minimuns sichern soll — wird dieser Mindestbedarf sehr restriktiv definiert.
Neben einmaligen Hilfen, Mehrbedarfszuschlägen für bestimmte Personengruppen und den Wohnungskosten umfaßt die HzL pauschalisierte  laufende Leistungen, die sog. Regelsätze. Sie werden auf der Basis eines Warenkorbs festgelegt, der die Güter und Dienste beinhaltet, die von Experten als Bestandteile des Exitenzminimums eingeordnet werden. Letzlich wird dabei ein absolutes, physisches Minimum lediglich um eine sozio-kulturellen Zuschlag aufgestockt, der jedoch weniger an der allgemeinen gesellschaftlichen Einkommensentwicklung orientiert ist, sondern ebenfalls einen Zuschnitt des „absolut notwendigen“ aufweist. Es handelt sich also faktisch um einen absoluten Minimumstandard (vgl. Hartmann 1979).

Die Regelsätze weisen neben dieser absoluten Komponente jedoch auch eine relative Komponente auf, die allerdings lediglich negativ, d.h. im Sinne einer relativen Obergrenze definiert ist. § 22 Abs. 3 BSHG schreibt vor, daß bei der Festsetzung der Regelsätze darauf zu achten ist, „daß sie zusammen mit den Durchschnittsbeträgen für die Kosten der Unterkunft unter dem im Geltungsbreich der jeweiligen Regelsätze erzielten durchschnittlichen Netto-Arbeitsentgelt unterer Lohngruppen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld bleiben, soweit nicht die Verpflichtung, den Lebensunterhalt durch die Regelsätze im notwendigen Umfang zu sichern, bei größeren Haushaltsgemeinschaften dem entgegensteht“. Die Höhe der Sozialhilfe soll demnach Nettoverdienste in unteren Lohngruppen nicht überschreiten – das Bedarfsprinzip bleibt lediglich im Hinblick auf besondere Bedarfslagen großer Haushaltsgemeinschaften gewahrt.

Diese Vorschrift stellt ein zweites zentrales Verbindungsglied zum privaten Lohnfindungsprozeß dar; Niveau und Struktur der von den Tarifparteien ausgehandelten Lohneinkommen sollen durch die Sozialhilfe nicht gestört werden (vgl. Hauser u.a. 1985). Letztlich wird hiermit am überkommenen Prinzip des „less egibility“ festgehalten, wonach die öffentliche Armenhilfe unter dem Niveau des niedrigsten Arbeitslohns liegen soll, um nicht Faulheit und Müßiggang Vorschub zu leisten (vgl. Schulte/Trenk-Hinterberger 1982). Zugleich wird damit definitorisch das Problem der „working poor“ eleminiert: es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die Vorschrift des § 22 wurde erst vor kurzem aus der Regelsatzverordnung in den Gesetzestext übernommen und dadurch in ihrer Bedeutung aufgewertet, Statt aus der Möglichkeit von Überschneidungen zwischen Lohneinkommen und Sozialhilfe den Schlusss zu ziehen, die Einkommenshöhe in unteren Lohngruppen sei zu niedrig (vgl. Breuer/Hartmann 1982, 460), wurde sie in den letzten Jahren immer wieder zum Anlaß genommen, die Regelsätze als überhöht zu kritisieren und ihre notwendige Korrektur nach unten zu fordern.

Tatsächlich haben empirische Untersuchungen und Modellrechnungen nachgewiesen, daß solche Überschneidungen zwar theoretisch denkbar sind, daß sie jedoch statistisch nicht nachzuweisen sind; dies gilt sowohl für den Vergleich mit den allgemeinen Nettoeinkommen wie mit den Löhnen und Gehältern in Wirtschaftszweigen mit besonders niedrigen Einkommen (vgl. Breuer/Hartmann 1982, Hauser 1985). Bei den 1982 über
50 000 in der Sozialhilfestatistik ausgewiesenen Empfängerhaushalten mit angerechneten Erwerbseinkommen muß davon ausgegangen werden, daß in der Regel keine volle Erwerbstätigkeit vorliegt (vgl. Deininger 1984, 445).

Sozialhilfe in der Krise: Senkung der Armutsgrenze

Trotz real sinkender Lohneinkommen hat sich also in den letzten Jahren der Überschneidungsbereich zwischen Beschäftigteneinkommen und Sozialhilfe nicht nennenswert erweitert. Gleiches gilt – wenn auch in abgeschwächter Form – für den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe. Obwohl sich die vorgelagerte Sicherungslinie der Arbeitslosenunterstützung als sehr durchlässig erwiesen hat, ist die Zahl der Arbeitslosen unter den Hilfeempfängern  — trotz stark steigender Tendenz — bislang noch relativ niedrig geblieben. Die knapp 160000 Haushalte bei denen die Hauptursache der Hilfegewährung im Verlust des Arbeitsplatzes lag, machten 1982 einen Anteil von etwa 17% aller Empfängerhaushalte von HzL aus (vgl. Deininger 1984, 445). Arbeitslosigkeit hat sich damit in den letzten Jahren zwar zu einem Hauptgrund für Sozialhilfebedürftigkeit entwickelt, gemessen am absoluten Anstieg der Hilfeempfängerzahlen insgesamt, aber auch an der Zahl der Arbeitslosen ohne Leistungsansprüche aus dem AFG, ist dieser Zusammenhang bisher noch relativ schwach. Diese Aussage gilt auch, wenn man in Rechnung stellt, daß unter den Arbeitslosen viele Anspruchsberechtigte darauf verzichten, ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend zu machen (generell liegt diese Dunkelziffer bei der Sozialhilfe bei ca. 100%; vgl. Hartmann 1981).
Zwei Gründe sind m.E. für diese Entwicklung maßgeblich: Zum einen sanken die Ein-kommen der Haushalte von Arbeitslosen nicht so stark wie die individuellen Arbeitsloseneinkommen; bei einem erheblichen Teil der Arbeitslosenhaushalte trägt das Ein-kommen anderer Haushaltsmitglieder zu einer Stabilisierung des Haushaltseinkommens bei (vgl. Welzmüller 1982). Auch wenn für den einzelnen Arbeitslosen durch den Versorgungsverbund Haushalt bzw. Familie eine Verarmung häufig vermieden werden kann, wächst doch die individuelle Abhängigkeit, wachsen die materiellen und psychoszialen Lasten für die Familie. Die Bedürftigkeitsprüfungen bei Arbeitslosen- und Sozialhilfe nehmen diese tatsächliche oder unterstellte soziale Einbindung von Arbeitslosen zum Anlaß, sie aus dem Netz der sozialen Sicherung auszugrenzen und die Lasten der Krise auf die »kleinen sozialen Netze« der Betroffenen abzuwälzen.
Die Beschäftigungskrise in der Bundesrepublik hat somit weniger die Entstehung massenhaften absoluten Elends zur Folge gehabt: Die über Arbeitslosigkeit vermittelten Abstiegsprozesse auf der Leiter des sozialen Besitzstands haben sich für die Betroffenen wohl stärker in Einkommenseinbußen niedergeschlagen, die noch oberhalb der quasi-offiziellen Armutsgrenze der Sozialhilfe lagen. Die Ballung in den Einkommensklassen dicht oberhalb der aktuellen Armutsgrenze hat sich verstärkt.

Entscheidend für das relativ geringe Ausmaß an Überschneidungen zwischen der materiellen Lage von Beschäftigten und Arbeitslosen einerseits und Sozialhilfebedarf andererseits war zum anderen die Tatsache, daß die Armutsgrenze seit Mitte der 70er Jahre, insbes. seit 1978, kontinuierlich abgesenkt wurde. Die Regelsätze der HzL wurden seitdem (außer 1981) nicht nur schwächer angehoben als das Preisniveau, so daß das Versorgungsniveau heute real erheblich unter dem damaligen Stand liegt. Sie bleiben auch hinter dem Anstieg der verfügbaren Haushaltseinkommen zurück, so daß sich auch die relative Position von Sozialhilfeempfängern verschlechtert hat (vgl. Welzmüller 1984 b). Diese relative und (real) absolute Senkung des Armutsstandards hat verhindert, daß die wachsende Gruppe der Bezieher von Niedrigeinkommen unter die Armutsgrenze gefallen ist und einen Sozialhilfebedarf geltend machen kann.

Auch die unterste Sicherungslinie gegenüber Einkommensverlusten und Verarmungsrisiken erwies sich also — vor allem in der zweiten Phase der Beschäftigungskrise — als wenig widerstandsfähig. Die wachsende Zahl von Sozialhilfeempfängern wurde vielmehr von Bund und Kommunen zum Anlaß genommen, eine Lösung der angeblichen »Krise der Sozialhilfe« auf Kosten der Betroffenen durchzusetzen. Tatsächlich wurden die lautstark beklagten Kostensteigerungen in der Sozialhilfe jedoch sehr viel mehr durch die Teuerung bei der stationären Unterbringung im Rahmen der Hilfe in besonderen Lebenslagen als durch die Zunahme der HzL-Empfänger verursacht. Den-noch konzentrierten sich die öffentlichen Sparmaßnahmen der letzten Jahre innerhalb der Sozialhilfe auf den Leistungsbereich der HzL (genauer: vgl. Naegele 1983): Vor allem der Verzicht auf eine Anhebung der Regelsätze entsprechend der allgemeinen Preis- und Einkommensentwicklung, ihre faktische »Deckelung«, hat zu einer Aushöhlung des Bedarfsprinzips in der Sozialhilfe geführt.

Diese Entwicklung ist umso problematischer, da der den Regelsätzen zugrunde liegende Warenkorb schon seit vielen Jahren reformbedürftig ist und keineswegs einem gesellschaftlichen Mindestbedarf entspricht. Wäre der seit 1970 unveränderte Warenkorb allein den seitdem gewandelten Ernährungs- und Verbrauchsgewohnheiten der Bevölkerung angepaßt worden, hätten — so ein Reformvorschlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge — bereits 1980 die Regelsätze auf der Basis des neuen Warenkorbs um über 30% angehoben werden müssen. Statt dieser notwendigen Fortschreibung des sozio-kulturellen Minimums wurde jedoch das Gegenteil praktiziert. Aus haushaltspolitischen Gründen wie aus Gründen der wachsenden Überschneidungsgefahren in der Krise wurde der Minimumstandard gesenkt. Um dieses Ziel zu realisieren, haben bei der Diskussion um eine Neuzusammensetzung bzw. Neuberechnung des Warenkorbs die Sozialhilfe-Experten einer interministeriellen Arbeitsgruppe der Länder nicht einmal darauf verzichtet, zu skandalösen Manipulationen bei der Bedarfsermittlung Zuflucht zu suchen. Angesichts der wissenschaftlichen Fragwürdigkeit und politischen Brisanz dieser Berechnungsmethoden zeichnet sich die Tendenz ab, zukünftig den Warenkorb als Berechnungsgrundlage für die Bedarfsermittlung ganz aufzugeben; stattdessen soll die Festsetzung der Regelsätze jährlich der Entwicklung des tat-sächlichen Verbrauchs vergleichbarer unterer Einkommensklassen angepaßt werden. Bei sinkenden Erwerbs- oder Transfereinkommen würden automatisch auch die Regelsätze nach unten angepaßt (vgl. Bunzenthal 1984, Naegele 1983).

Nicht zufällig wird ein derartiger Vorschlag zu einem Zeitpunkt in die sozialpolitische Debatte geworfen, zu dem absehbar ist, daß in den kommenden Jahren eine weitere (reale) Absenkung des Minimumstandards mit dem bisherigen gebrauchswertorientierten Ansatz einer Bedarfsermittlung in wachsenden Konflikt geraten könnte. Da ein weiteres Andauern und eine weitere Verschärfung der Beschäftigungskrise bereits heute absehbar sind, da die sozialpolitische Grundsicherung der Sozialhilfe in den nächsten Jahren in immer stärkerem Maße von den ausgegrenzten Teilen der Erwerbsbevölkerung in Anspruch genommen werden muß, da zudem auch ein weiteres (relatives und reales, demnächst vielleicht auch absolutes) Sinken der Lohneinkommen vorprogrammiert scheint, müssen die Konstruktionsprinzipien des untersten Minimums so modifiziert werden, daß der Konflikt mit der Entwicklung von Arbeitsmarkt und Einkommensverteilung weitgehend vermieden werden kann. Diese haushalts- und ordnungspolitische Ausrichtung geht jedoch eindeutig zu Lasten der sozialpolitischen Schutzfunktion dieses letzten Auffangnetzes des Sozialstaats.
Nur am Rande soll noch darauf hingewiesen werden, daß dieser Abbau von Leistungsniveau (und -struktur) ergänzt wird durch eine Verschärfung der Bedingungen der Leistungsgewährung durch die Sozialhilfeträger. Dabei gewinnt die Verpflichtung zu gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit zunehmend die Funktion einer zweiten Bedarfsprüfung (vgl. Hoppensack/Wenzel 1983).

Einkommenssicherung in der Krise und gewerkschaftliche Politik

Die skizzierte Entwicklung von Lohn- und Sozialeinkommen im bisherigen Verlauf der Beschäftigungskrise ist das Ergebnis von Verteilungskämpfen, die von Seiten der Gewerkschaften bislang lediglich im Rahmen von Lohnpolitik ausgetragen wurden. Demgegenüber hat die zentrale Funktion von Sozialpolitik für eine Einkommenssicherung in der Krise zumindest für die Praxis gewerkschaftlicher Politik kaum Folgen gehabt. Die Gewerkschaften haben sich in der Bundesrepublik im vergangenen Jahrzehnt primär darauf konzentriert, die Arbeits- und Einkommensbedingungen der noch Beschäftigten zu verteidigen. Zwar haben sie versucht, mit der sich verstärkenden Arbeitszeitkomponente gewerkschaftlicher Tarifpolitik einen zumindest indirekten Beitrag zur Verbesserung der Lage der Arbeitslosen zu leisten; die sozialpolitische Absicherung der Ausgegrenzten haben sie dagegen weitgehend dem »Sozialstaat« überlassen.

»Die Erkenntnis, daß mit dem Absenken der Arbeitsloseneinkommen (und der Sozialhilfeeinkommen) auch der Weg bereitet wird für eine Verminderung der Arbeitseinkommen«, scheint in den Gewerkschaften nach wie vor kaum verbreitet zu sein. Dagegen wird diese »innere Wechselbeziehung von Arbeitseinkommen und Arbeitslosenbzw. Sozialhilfeeinkommen« von einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik dazu genutzt, die Einkommen der abhängig Beschäftigten insgesamt zu senken (Welzmüller 1982, 456 f.). Die zunehmenden Angriffe auf den sozialstaatlichen Besitzstand der Lohnabhängigen wurden von den Gewerkschaftsorganisationen bislang lediglich mit verbalen Protesten beantwortet. Diese haben jedoch nicht ausgereicht, den sozialpolitischen Kahlschlag der letzten Jahre zu verhindern. Lähmend für den gewerkschaftlichen Widerstand war sicherlich die Tatsache, daß der Sozialabbau unter sozialliberalen Vorzeichen begann und unter den Bedingungen der politischen »Wende« dann verschärft fortgeführt wurde.
Je rascher nach Weimarer Vorbild die sozialversicherungsrechtliche Auffanglinie ausgedünnt und abgetragen wurde, umso prekärer bestätigte sich die historische Erfahrung, daß Armenpolitik keinen Gegenstandsbereich gewerkschaftlicher Interessenpolitik bildet (vgl. Leibfried/Tennstedt 1985). Boten die Selbstverwaltungsorgane der Arbeitslosenversicherung den Gewerkschaften wenigstens die Möglichkeit, qua Minderheitsvoten die Sicherung des kollektiven Besitzstands ihrer Mitglieder — wenn auch folgenlos — einzufordern, so findet Sozialhilfepolitik faktisch unter Ausschluß der Gewerkschaften statt. Ihre Mitwirkung ist weder institutionell vorgesehen, noch wird sie von den Gewerkschaftsorganisationen durch entsprechende Mobilisierungskampagnen eingefordert.

Treffen die Prognosen zu, wonach im kommenden Jahrzehnt Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt noch weiter auseinanderklaffen werden, wächst die Gefahr, daß sich eine Polarisierung der Erwerbsbevölkerung verfestigt; daß die Kluft wächst zwischen denen, die im Kernbereich des Produktionssystems beschäftigt sind und deren Arbeits- und Lebensbedingungen auch in der Krise relativ gesichert sind und den wachsenden Randgruppen der Erwerbstätigen, die entweder zeitweilig oder dauerhaft aus dem Beschäftigungssystem ausgegrenzt werden und ihre Existenz über Transfereinkommen oder »informelle Tätigkeiten« absichern müssen. Damit wird nicht nur die Sicherung der Erwerbseinkommen im Kernbereich gegenüber den bröckelnden Rändern zum Problem. Zugleich stellt sich die doppelte Frage, im Rahmen welcher Sicherungssysteme für die ausgegrenzten Ränder eine Einkommenssicherung gewährleistet werden kann und inwieweit es unter den Bedingungen der Krise möglich ist, diese Einkommenssicherung auch praktisch durchzusetzen?

Gelingt es nicht, über Beschäftigungsstrategien oder Strategien der Arbeitszeitpolitik die Reservearmee am Arbeitsmarkt abzubauen, werden Strategien der Einkommenssicherung — gleichgültig ob für die Beschäftigten oder die Ausgegliederten — gegen die Wirkungsmechanismen dieser Reservearmee durchzusetzen sein. Dabei bilden das Niveau eine Mindestsicherung oder die Niveaus eines gestuften Sicherungssystems für die Ausgegrenzten zugleich die Untergrenze für Einkommensverluste der Beschäftigten. Solche Grundsicherungen könnten in unterschiedlichen Leistungssystemen eingeführt werden; so z.B. innerhalb der Arbeitslosenversicherung als eine bedarfsorientierte Grundsicherung für alle Arbeitslosen (vgl. Balsen u.a. 1984), innerhalb der Sozialhilfe auf der Basis eines reformierten Warenkorbs oder weiterreichender Teilhabemodelle (vgl. Leibfried/Hansen/Heisig 1985) oder innerhalb des Steuersystems als negative Einkommensteuer (vgl. Bust-Bartels 1984).
Entscheidend für die Durchsetzbarkeit solcher Modelle ist weniger ihr Finanzierungsbedarf als vielmehr ihre soziale Basis; also die Chance, eine umfassende Bewegung für die Errichtung einer solchen Sicherungslinie zu mobilisieren und sie auch in der Krise halten zu können (vgl. Leibfried/Hansen/Heisig 1984). Auch wenn die Gruppe der Ausgegrenzten und von Verarmung Bedrohten weiter wächst und durch neue Teilgruppen (qualifizierte Berufsanfänger) in ihrem Handlungspotential gestärkt wird, dürfte ohne eine übergreifende Solidarstrategie zwischen Beschäftigten und Beschäftigungslosen die soziale Basis wohl kaum für einen erfolgversprechenden Kampf um eine angemessene Grundsicherung ausreichen. Aber auch dann ist ihr Erfolg unter den Bedingungen der Krise keineswegs gewährleistet. Zentrale Voraussetzung für eine »Befestigung« der »offenen Flanken« einer Einkommenssicherung in der Krise ist somit eine konzeptionelle Neuorientierung gewerkschaftlicher Politik gegenüber den wachsenden Verarmungsgefahren, ist eine Gewerkschaftspolitik, die Sozialpolitik auch praktisch als einen gleichgewichtigen Schwerpunkt gewerkschaftlicher Interessenvertretung versteht und die sich öffnet gegenüber neuen Gruppen (Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger) wie neuen Handlungsfeldern.

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