Sozialstaat und Gemeinwohl. Reflexionen eines Verfassungsvaters
Grundrechte-Report 1998, S. 15-22
Vor 50 Jahren trat der Parlamentarische Rat zusammen, um das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten. Inzwischen hat sich eine rasante Entwicklung vollzogen, zum Beispiel im technischen Bereich: elektronische Informationssysteme, Raumfahrt, Gentechnik. Für mich als letztes noch lebendes Mitglied des Parlamentarischen Rats stellt sich die Frage, ob dadurch die – zunächst provisorisch gedachte – Verfassung nicht überholungsbedürftig geworden sein muß. Gelten damalige Grundforderungen für den staatlichen Aufbau noch? Oder zeichnet sich eine andere Republik ab, die wir 1948/49 nicht erahnen konnten?
Wirtschaftsmacht und Demokratie-Verständnis
Der Art. 20 GG legt als ehernes Prinzip einer Demokratie fest, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Der Parlamentarische Rat formulierte es bewußt so markant (markanter als die vorausgegangene bayerische Verfassung von 1946: „Träger der Staatsgewalt ist das Volk“), da man plebiszitäre Elemente wie Volksbegehren, Volksentscheid, Urwahl des Bundespräsidenten gerade nicht einbauen wollte.
Schon seit Ludwig Erhards Zeiten als Wirtschaftsminister und Bundeskanzler (1949-1966) wurde in der Politik viel vom „Primat der Wirtschaft“ gesprochen, in dem Sinne, daß unternehmerische Initiative als Motor und bestimmender Faktor wirtschaftlicher Prosperität für alle zu werten sei. Da in der Marktwirtschaft die Preisbildung originär bei Industrie, Handel und Gewerbe liegt, hat das Unternehmertum ohnehin eine dominierende Position, während die Arbeitnehmer und Verbraucher auf die Maßgaben der Inhaber der Produktionsinstrumentarien allenfalls sekundär reagieren können.
Im großen und ganzen blieb in der Ära des Wiederaufbaus und des „Wirtschaftswunders“ das soziale Klima so frei von Turbulenzen, daß wir von Nachbarländern um den sozialen Frieden beneidet wurden. Soziale Fortschritte wurden erreicht: Betriebsverfassungsrecht, Dynamisierung der Renten, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall etc.
Doch ein brisantes Problem rückt ins Blickfeld: die Unternehmenskonzentration – zunächst im nationalen, dann zunehmend im internationalen Bereich, wozu der sich allmählich anbahnende europäische Zusammenschluß und die Export-Erfolge auf den Weltmärkten ebenso beitrugen wie die Globalisierung. Die Machtzusammenballung in Form von Konzernen, Trusts, Kartellen begleitet die wirtschaftliche Entwicklung seit erdenklicher Zeit: Schon 1867 hat Karl Marx im Kapital den Konzentrationsprozeß als wesentliches Merkmal des kapitalistischen Systems herausgestellt, und in diesem Punkt hat sich seine Darstellung als zutreffend erwiesen. Beim Fusionieren oder Aufsaugen von Betrieben und der damit verbundenen Rationalisierung gehen Arbeitsplätze in beträchtlicher Zahl verloren. Dieser Prozeß setzt sich unaufhaltsam fort. Berichte darüber finden sich regelmäßig im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Einige willkürlich aufgezählte Beispiele aus jüngerer Zeit: Drei große Zuckerfabriken in Norddeutschland fusionieren nach süddeutschem Vorbild; Philips und Grundig; Versandhaus Otto und Baur (Burgkunstadt); Bayerische Vereinsbank und Hypobank; Mannesmann und Fichtel & Sachs; BMW und British Rover/Rolls Royce; Thyssen und Krupp; Touristik Union International und Hapag Lloyd/Preuss_ag; Bank für Gemeinwirtschaft und Crédit Lyonnais; Siemens und British Nuclear Fuels mit Auswirkungen auf den Weltmarkt bei Uranbeschaffung, Brennelementeversorgung, Nuklearservice, Forschung etc.
Zu den Konzentrationsfolgen gehört das Ladensterben im Einzelhandel infolge von Offensiven der Großhandelsketten auf der „grünen Wiese“, wodurch mittelständische Firmen zugrunde gehen. Solche Fusions- und Vernichtungsstrategien finden ihren Niederschlag im sozialen Klima der einzelnen Volkswirtschaften. Das Muster für diese Entwicklung zum Hochkapitalismus zeigt sich in den USA. Die These von den „Selbstheilungskräften“ des Marktes und seiner „Selbstregulierung“ ist ad absurdum geführt und hat sich als leere Propagandafloskel erwiesen. Auch ein Wirtschaftsaufschwung belebt den Arbeitsmarkt nicht mehr. Der fromme Wunsch nach einer Halbierung der Erwerbslosenzahl ist unter diesen Bedingungen zwischenzeitlich als Illusion abgeschrieben. Ist im System ungebremster freier Marktwirtschaft das Millionenheer der Menschen ohne festen Arbeitsplatz als unvermeidlich hinzunehmen?
Weil aus betriebswirtschaftlichen Gründen jede Möglichkeit genutzt wird, an Lohnkosten und Arbeitsplätzen zu sparen, blüht die Beschäftigung von Niedrigstlohnempfängern, die mit zwielichtigen Methoden aus den nicht zur Europäischen Union zählenden Staaten mit geringstem Lebensstandard und höchster Arbeitslosigkeit angeheuert werden – von fast legalen polnischen Erntehelfern bis zu portugiesischen Arbeiterkolonnen. Dieser auch durch intensivste Kontrollen kaum zu verhindernde Handel mit menschlicher Arbeitskraft ist Betrug an der einheimischen Volkswirtschaft, an den Rentenversicherungsträgern, den Krankenkassen, der Bundesanstalt für Arbeit, denen auf diesem Wege viele Beitragszahler entzogen werden; zum Ausgleich der Sozialhaushalte wäre das Geld bitter nötig. Wenn super-liberale Freiwirtschaftler zudem die Einbeziehung der vielen Millionen bislang beitragsfreien 610/520-Mark-Jobs in die Sozialversicherung energisch ablehnen, wird die Strategie deutlich: ihren Anteil an Sozialversicherungsleistungen einzusparen, um Kosten abzuschütteln – mit dem Resultat, daß die bereits heute unerträglichen Defizite weiter anwachsen und auf die große Masse der kleinen Steuerzahler abgewälzt werden müssen.
Der systemimmanente Zwang zur größtmöglichen Senkung der Produktionskosten führt darüber hinaus zum Transfer der Herstellungsmechanismen in „Billiglohnländer“, d. h. in Länder ohne den Sozialstandard, wie er im Herzen Europas im Zuge der Industrialisierung über lange Zeit entstanden ist. Im Inland hat sich diese unrühmliche Strategie zum Generalangriff auf die Restmerkmale von „sozialer Marktwirtschaft“ ausgeweitet. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG soll letztlich ganz ausgehöhlt und seiner Inhalte beraubt werden.
Bei Fusionen und Verlagerungen – nicht nur in der Großindustrie, sondern auch bereits im mittelständischen Bereich – werden oft Manager mit anderer Staatsangehörigkeit eingesetzt, die, wenn es um Bilanzen und Erträge oder ums Personal geht, deutscher Jurisdiktion entzogen sind. Wenn auf dem weiten Feld internationalen Privatrechts, besonders des Gesellschafts- und Steuerrechts, verschiedenartige Normen zusammentreffen, ergeben sich schwierige Rechtsfragen. Die staatliche Finanz-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik kann unterlaufen werden, was sich durch Betriebsprüfung kaum noch kontrollieren läßt. Die wirtschaftliche Entwicklung stellt Parlament und Regierung vor vollendete Tatsachen; beide erfahren häufig erst nach Vertragsabschlüssen von Vorgängen größter Tragweite. Im Vorfeld solcher Abschlüsse finden Diskussionen wohl allenfalls zwischen Experten des Wirtschaftsministeriums und des Kartellamts statt – die Öffentlichkeit aber bleibt ahnungslos. Das Kartellamt befindet sich zudem ohnehin in einer schwachen Position; es kann durch den Einfluß der Regierung faktisch ausgehebelt werden.
Fazit: Das Volk als „Souverän“ bleibt trotz aller Staatsgewalt, die von ihm ausgehen soll, auf diesen Schauplätzen wirtschaftlicher Machtentfaltung ausgeschaltet und kann auch indirekt, über die Wahl seiner Repräsentanten, keinen Einfluß ausüben, weil in einer ungezügelten Marktwirtschaft weder Parteien noch Abgeordnete legal einzugreifen vermögen und eine nachträgliche Kontrolle sinnlos wäre. Die Entwicklung läuft also am Parlament vorbei, über den Bundestag hinweg.
Für die Paukenschläge in dieser Demonstration wirtschaftlicher Macht sorgt dann der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Hans-Olaf Henkel. Unverhohlen versucht er sich als „System-Veränderer“ und fordert konkret nicht nur eine Änderung des Wahlrechts, sondern auch eine Beschneidung der föderalen Struktur. Dabei waren es bei Schaffung des Grundgesetzes gerade konservative Politiker, die sich für eine einflußreiche Länderkammer (Bundesrat) stark machten. Auch über ein Mehrheitswahlrecht ließe sich keine (noch) unternehmerfreundlichere Regierung garantieren – es sei denn, man beabsichtige, noch großzügigere anfällige Medien zu unterstützen und beeinflußbare Privatsender aufzukaufen.
Die Präsidenten des BDI und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sind – zumal sich die Entwicklung zum Hochkapitalismus beschleunigt – in unserem Staat sehr mächtige, hoch angesehene Verbandssprecher geworden. Aber Staatsmänner mit verfassungsrechtlicher Kompetenz sind sie nicht. Wenn sie die gesellschaftliche Ordnung der Republik verändern wollen, müssen sie in ihre Schranken verwiesen werden, damit nicht aus dem „Primat der Wirtschaft“ ein Diktat der Wirtschaft wird.
Eigentum verpflichtet
Die Gewährleistung des Eigentums ist von alters her in fast allen demokratischen Verfassungen verankert – denn die Menschen hängen am Eigentum. Über die Problematik einer Einschränkung von Eigentumsrechten diskutierte, bevor sich der Parlamentarische Rat damit befaßte, 1946 die bayerische Verfassungsversammlung. Dort bezogen sich die aus dem Schweizer Exil zurückgekehrten Mitglieder Wilhelm Hoegner und Hans Nawiasky auf Regelungen im Schweizer Zivilgesetzbuch, das sich mehr an das altdeutsche „Gemeineigentum“ anlehnt, statt der römisch-rechtlichen Auffassung zu folgen, die dem Eigentümer das Recht gibt, seine „Sache“ (womit auch Tiere einbezogen sind) nach Belieben auszunutzen. Diese Auffassung prägt auch das „Sachenrecht“ im bürgerlichen Gesetzbuch, so daß beispielsweise in besonders schönen Landschaften das Betreten von Fluß- und See-Ufern, von Wäldern und Bergen durch Verbotstafeln mit der Aufschrift „Privat“ untersagt ist. In Bayern wurde durch eine besondere Bestimmung der Landesverfassung ein allgemeines Zutrittsrecht geschaffen.
Ob der Eigentümer das Recht hat, seine „Sache“ uneingeschränkt zu nutzen, war stets die Ausgangsfrage, wenn es um Sozialisierung oder Mitbestimmung ging. In der Nachkriegszeit wurde das Eigentumsrecht nicht absolut gesetzt. Wer erinnert sich heute daran, daß die rheinische CDU damals in ihrem „Ahlener Programm“ unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich die Vergesellschaftung vorgesehen hat? Das Grundgesetz enthält in seinem Art. 15 diese Möglichkeit noch als „Kann-Vorschrift“. In Bayern waren 1946 trotz absoluter CSU-Mehrheit zwingende Muß-Normen beschlossen worden. In der Landesverfassung ist klar formuliert „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl“ (Art. 3). „Eigentumsordnung und Eigentumsgebrauch haben auch dem Gemeinwohl zu dienen“ (Art. 103, Abs. 2). „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“ (Art. 151, Abs. 1). „Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenzen in der Rücksicht auf den Nächsten und die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls“ (Art. 151, Abs. 2). In Bonn wählte man nur eine schwache Soll-Vorschrift (Art. 14 GG).
Auch ohne Sozialisierung wird in einem sozial angelegten Volksstaat immer wieder die Frage auftauchen, ob und inwieweit Eigentum eingeschränkt werden kann oder soll. Angedeutet findet sie sich etwa in Art. 74 GG (konkurrierende Gesetzgebung) in den Ziffern 11, 15, 16. Darauf fußt z. B. die Kartellgesetzgebung.
Gnadenloses Konkurrenzdenken
Die damalige Aufgeschlossenheit für das Gemeinwohl besteht nicht mehr. In den Köpfen der Menschen ist ein Wandel vor sich gegangen. Der Begriff ist zwar im Wortschatz noch vorhanden, er wurde jedoch im Laufe der Jahre entwertet und stark demontiert. In der herrschenden Meinung scheint er überflüssig, fast verpönt zu sein.
Hier sieht sich der Betrachter der Zeitläufte mit dem „Zeitgeist“ konfrontiert, mit dem sich jeder befassen muß, der sich um eine tolerante, auf Ausgleich, humanes Miteinander und ehrliche Kooperation aufbauende moderne Demokratie bemüht. Die Aussichten sind allerdings trübe, fast trostlos. Die Mentalität hat sich diametral geändert. Wir leben in einer raffgierigen Konsumgesellschaft. Wettstreit und Eigensucht sind die Antriebskräfte nicht nur in der Wirtschaft, sondern sie greifen auch auf andere Lebensbereiche über, so daß etwa die Geisteswissenschaften und das Bildungswesen ans Ende der Wertskala geraten. Überlieferte ethische Normen und immaterielle Bindungen gehen verloren. Schnäppchen- und Vorteilsdenken bestimmt nicht nur das Einkaufsverhalten, sondern führt mit innerem Zwang zum Überrunden und Ausschalten von Konkurrenz, zu rücksichtslosem Ellenbogengebrauch. Diese rüde Praxis wird den Beteiligten kaum bewußt. Man spürt nicht, daß das Streben nach dem größtmöglichen Vorteil, die Übervorteilung und der Straftatbestand Vorteilsnahme (im öffentlichen Dienst) nahe beieinanderliegen. Gleichwohl findet eine – von Kirchensprechern beider großer Konfessionen geforderte – Generaldebatte über die Anerkennung elementarer Grundwerte als unerläßlichen Konsens nicht statt; die Politik fürchtet, beim Wählervolk anzuecken und Stimmen zu verlieren. In der uniformen kapitalistischen Massengesellschaft wird weiter auf Individualismus, Eigeninitiative, Personalismus, Unternehmerdenken gesetzt. Man fordert Unternehmer-Mut, der sich in der Neugründung von Betrieben äußern soll; dabei verschweigt man jedoch, daß, wenn die Kaufkraft der Verbraucher nicht angehoben wird, Neu-Unternehmer trotz staatlicher Anlauf-Förderung entweder selbst auf der Strecke bleiben oder bei der Konkurrenz die Zahl von Insolvenzen weiter erhöhen. Alle gutgemeinten Appelle zu Optimismus oder einem „Ruck durch das ganze Land“ (Bundespräsident Roman Herzog) müssen verhallen, solange wirtschaftlicher Gewinn um jeden Preis, also unter restloser Ausschöpfung aller Freiheiten, als einziges Ziel und das Geld als Maßstab aller Dinge gilt, als Garant für die Käuflichkeit aller Güter.
Zivilcourage ist geboten
Zum Demokratieverständnis gehört die innere Verpflichtung auf den Gemeinschaftsgeist, die Mitverantwortung für ein gemeinsames „großes Ganzes“, verbunden mit dem Willen, durch persönliches Engagement einen eigenen Beitrag zum Gedeihen des Staats und zur Wohlfahrt seiner Bürger einzubringen – ebenso wie die Erkenntnis, daß uferlose Freiheit ohne ein Minimum an Selbstbeschränkung und Disziplin, ohne einen Mindestkonsens über ethische Prinzipien eine Gesellschaft zerbröselt. Der Aufruf zur Bewußtseinsänderung muß bei jedem einzelnen ansetzen, intensiv zuerst auf allen Ebenen der Erziehung: in der Familie, den Schulen, in der beruflichen Bildung sowie auch in den Hochschulen.
Welche Partei, welche Politiker bringen – auch gegenüber einer bei diesem Thema zunächst tauben Massengesellschaft – genügend Zivilcourage auf, eine Bewegung unter dem Losungswort „Rettet das Gemeinwohl!“ einzuleiten, aus der sich eine dem Verfassungsauftrag entsprechende, dem Gemeinschaftssinn verpflichtete sozialstaatliche Demokratie von Zukunftshoffnung und Bestand entwickeln könnte? Hier liegt die Chance, Politikverdrossenheit und Lethargie zu bekämpfen und, damit eine humane Gesellschaft gedeihe, auf der Basis des Zusammengehörigkeitsgefühls und -spiels die Zukunft zu gestalten.