Themen / Sozialpolitik

»Sterbehilfe« oder ein »Recht auf Leben«?

01. Juni 1983

Zur Krise der Wohlfahrtsstaatlichen Grundstrukturen in der bundesdeutschen Sozialhilfe

aus vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2/3/1983), S. 129-133

Wenn selbst die Deutsche Bundesbank sich in ihren Monatsberichten — und zwar in der Tendenz eher positiv, »bewahrend« — um die Sozialhilfe bemüht (Deutsche Bundesbank, 1983), so zeigt sich einerseits wie weit die sozialpolitische Krise schon vorangeschritten ist und andererseits wie rückwärts gewandt die anderen politischen Akteure sich verhalten (Gemeinden, kommunale Spitzenverbände, Landesinnenministerien, Bundes- und Landesfinanzministerien usf.), die dieser angeblichen »Hängematte« seit etwa 5 Jahren immer näher auf den Leib gerückt sind. Für sie ist Sozialhilfe kein Menschenrecht im Sozialstaat, sondern immer noch eher eine Polizeizuständigkeit für marginalisierte Gruppen.

Wie ist die Lage?

Beschränken wir uns hier auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), weil dies die »Grundhilfe« darstellt, das letzte Netz sozialer Sicherheit in diesem Sozialstaat. Die Zahl der Empfänger wuchs von 999.131 im Jahre 1974 auf inzwischen 1.254.194 im Jahre 1980 — für 1981 liegen noch keine verläßlichen Zahlen vor, ein Anstieg steht aber schon jetzt fest (Galperin, 1983:3). Allerdings sind die Empfänger inzwischen nicht mehr die gleichen. Standen früher ältere Personen im Vordergrund so heute jüngere Menschen, einschließlich der Alleinerzieher. Damit ist die potentielle Überschneidung mit dem Arbeitsmarkt (»Erwerbsfähigkeit«) immer größer geworden und die Sozialhilfe wird immer deutlicher auch zu einer letzten Auffangzone für wachsende Arbeitslosigkeit (Galperin, 1983: 3; Deutsche Bundesbank, 1983: 39). In diese Auffangzone geraten Sozialhilfeempfänger auf verschiedene Weise: die Arbeitslosenhilfe mag zu gering sein, so daß ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht; die Empfänger haben nie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe gehabt, weil sie in den Arbeitsmarkt gar nicht erst hinein gekommen sind und sind deshalb auf Sozialhilfe angewiesen; schließlich können sie auch derartige Ansprüche »verloren« haben.

Wie nun wird diese wachsende Armutsbevölkerung durch den Staat und die Gemeinden »reguliert«? Diese »Regulierung der Armut« (vgl. Piven/Cloward, 1977) setzt an drei wesentlichen »Flächen« an:

(1) Dem zugelassenen Reproduktionsniveau« der Armen. Hier geht es um das »Existenzminimum« und dessen Formalisierung in »Richt-« oder »Regelsätzen«, sowie um zusätzliche einmalige Leistungen der Sozialbehörde. Im BSHG ist heute der »Regelsatz« die ausschlaggebende Struktur. Durch ihn sollen der laufende Bedarf vermittels eines standardisierten Geldbetrages (im Bundesdurchschnitt belief er sich 1982 im Monat für Haushaltsvorstand und Alleinstehende —»Eckregelsatz« — auf DM 338.—; vgl. Regelsatztabelle) abgedeckt werden (Miete und Heizung sind extra übernommen, einmaliger Bedarf desgleichen, wenngleich hier die Willkür noch am größten ist) und er fußt selber auf einer pingelig-genauen Berechnung des Lebensnotwendigsten, dem »Warenkorb« des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.

(2) Dem repressiven Ring an Zugangs- wie Abgangsvoraussetzungen hinsichtlich des zugelassenen Reproduktionsniveaus. Hier ist vor allem auf die »Arbeitspflicht« nach dem BSHG hinzuweisen. Dem Empfänger obliegt es, ihm vom Sozialamt zugewiesene Arbeit gegen einen geringfügigen Aufwendungsersatz zu übernehmen — oder er verliert seinen Anspruch auf Sozialhilfe.

(3) Der schlußendlichen Ausformung von Sozialhilfepolitik als »drittem Sektor« sozial-politischer Herrschaft. Hier steht »marginalisierte Sozialpolitik« neben der »durchschnittlichen Arbeitersozialpolitik« und neben der »Sozialpolitik für gehobene Lohnabhängige« in Ersatzkassen und Angestelltenversicherung.

Diese »Spaltungsstrukturen« in der Sozialpolitik sind vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie gesellschaftliche Gegenwehr durch »Solidarität« gerade für die Schwächsten weitgehend außer Kraft setzen. Rüdiger Baron berichtet insoweit über die Anfangszeit der Kaiserlichen Sozialgesetzgebung Ende des letzten Jahrhunderts: »Die scheinbare Aussichtslosigkeit, in ähnlicher Weise die Lage der für das Kapital wertlosen, aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedenen oder von vornherein ‚unbrauchbaren` Schichten der Eigentumslosen verbessern zu wollen, wurde von der organisierten Arbeiterbewegung stillschweigend akzeptiert. In dieser Abkoppelung des Pauperismus vom sozialen Kampf der Arbeiterbewegung liegt der wesentliche Grund für die von der Sozialdemokratie in der Folgezeit genährte ‚Sozialstaatsillusion‘. Die mit der gesetzlichen Sozialversicherung eingeführte Differenzierung wurde von der Sozialdemokratie (seit der Jahrhundertwende S. L.) zum Prinzip erhoben; zugleich beraubt die Reduzierung des sozialpolitischen Interesses der Arbeiterbewegung auf die Schichten, die bereits das Verwertungsinteresse des Kapitals auf ihrer Seite haben, die Elendsschichten eben desjenigen Konfliktpotentials, mit dem sie sich aus ihrer sozialen Vernachlässigung befreien könnten« (48)

Welche Situation zeichnet sich in den letzten Jahren ab?

Die seit den sechziger Jahren relativ fest gefügte Struktur eines Anspruchs auf ein Existenzminimum (nach dem BSHG) beginnt sich aufzulösen. Hierbei spielen eine Reihe von Entwicklungen ineinander: Zunächst »vergaß« man, den Warenkorb, wie es vordem regelmäßiger geschehen war, an die heutigen sozialen Standards anzugleichen. Als es dann Anfang der achtziger Jahre doch geschehen sollte, scheiterte dies am Veto der kommunalen Spitzenverbände. Zudem zerschlug der Bund in der Operation `82 (Leibfried/Wenzel, 1982) diese Struktur insofern, als er die Anpassung des Warenkorbs an gestiegene Preise, die bislang automatisch geschehen war, durch Prozentvorgaben (für 1983 1%) außer Kraft setzte: der wirkliche Preisanstieg ist nunmehr unerheblich. Hiervon sind neben den Empfängern wegen der zunehmenden Überschneidungen mit dem Arbeitsmarkt vor allem die Gewerkschaften bzw. die Arbeitnehmer selber betroffen, denn hier wird nun mit stets zunehmender Wirkung der Teppich unter der Tarifpyramide weggezogen. Galperin notiert dazu: »Mit der Koppelung von Sozialhilfeausstattung und Reallohnentwicklung würde überdies ein Teufelskreis eröffnet: Reallohnsenkung bewirkt über die Abstandswelle (d.h. Regelsätze sollen »Abstand« zu den Niedriglöhnen wahren — S.L.) eine Senkung der Regelsätze — die Regelsatzausstattung erscheint alsbald wieder als angemessen — Reallohneinbußen scheinen angesichts eines akzeptierten Sozialhilfeniveaus wieder sozial verträglich zu sein — Reallohnsenkung bewirkt über die Abstandswelle eine Senkung der Regelsätze usw.«

»Um dies unmißverständlich zu formulieren: Ich besorge wegen der sozialhilferechtlich scheinbar naheliegenden Wechselwirkungen zwischen Lohn- und Sozialhilfeniveau einen zusätzlichen Druck auf Arbeits- und Ersatzeinkommen. Betrachtungen zur Sozialhilfe sind in schwierigen Zeiten eben nicht nur intellektuelle Konsumgüter für Fachkreise, sondern zumindest den Tarifpartnern für einen gedanklichen Seiteneinstieg angeboten« (1983 : 5). Aber nicht nur Gewerkschaften, sondern auch »neue soziale Bewegungen« sind von diesem Thema angesprochen: seien es die Sozialhilfeinitiativen oder seien es alternative Sozialpolitiker bei den Grünen. Im letzteren Bereich besteht die akute Gefahr, den Zerstörungen im Minimumbereich mit einer grünen Variante des Subsidiaritätsprinzips in die Hände zu arbeiten: »Selbsthilfe« kann jedenfalls unter heutigen Randbedingungen eine monetäre Grundsicherung des Existenzminimums nicht ersetzen (vgl. Heiner, 1979).

Ferner wird der »repressive Ring« fester angezogen. Dafür gibt es vielerlei Anzeichen. Personal und Amt werden »unzugänglicher«. Die Skandalisierungsquote in der öffentlichen Meinung nimmt — ganz unabhängig von wirklich gegebenen Skandalen — enorm zu. Vor allem aber die Programme eines »Sing for your supper« (»Ohne Arbeit kein Brot« ist die deutsche Übersetzung — in der allerdings der herrschaftsironisierende Oberton fehlt), also die Arbeitsprogramme, nehmen zu. Dabei geht es nicht um »Arbeitstherapie« oder ähnliches, wie manchmal in den sechziger und siebziger Jahren. Das erkennt man schon daran, daß das ausgesprochene Motiv der Verschärfung (zum Beispiel in Berlin) Berechnungen sind, wonach durch Arbeitsangebote eine Abschreckung und damit eine finanzielle Entlastung der Sozialhilfeträger bewirkt werden soll. In diesem Bereich wäre es zentral, die repressive Verkoppelung von Arbeit und Sozialhilfe aufzulösen, denn:

  • Das Existenzminimum darf nicht zu einem Mittel der Abschreckungspolitik werden — es ist unbedingt zu gewährleisten.
  • Die erfolgreiche Reintegration in den Arbeitsmarkt ist grundsätzlich nur bei Freiwilligkeit möglich, nicht aber aufgrund eines Zwangsprogramms, das mit der Drohung von Existenzvernichtung operiert.
  • Die Arbeit die hier zugewiesen wird, fällt in den öffentlichen Sektor und tritt regelmäßig
    — teils an die Stelle einer Expansion regulärer Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst oder
    — ist der Lückenbüßer für die Streichung bzw. Sperrung solcher Stellen.

Auch hier sind also wieder die Gewerkschaften bzw. die Arbeitnehmer allgemein angesprochen. Nicht nur der tarifliche Teppich wird langsam weggezogen, sondern auch die »Stellenpyramide« schmilzt so langsam an ihrem breiten Niedriglohnsockel dahin. Die Sozialhilfe wird dann zur offiziell betriebenen »Schattenökonomie«.

Folgerung und Forderung: ein Menschen­recht auf Existenz

Allerdings wird die zentrale Frage sein, ob Gewerkschaften und »normale« Arbeitnehmer durch diese Krise dazu gebracht werden, die etablierte Aufspaltung zwischen der Sicherung der durchschnittlichen Arbeiterexistenz und Armutspolizei wirksam zu überbrücken bzw. zu überspringen. Ein strategischer Parameter für die politische Auseinandersetzung wird dabei in den kommenden Jahren das »Recht auf Leben«, das »Menschenrecht auf ein unbedingtes Existenzminimum« sein. Versteht man die Sozialhilfe mehr als Sozialpolizei oder Marginalitätskontrolle (oder im Grünen als bürokratisiert gehandhabte Staatsknete) so liegt ein solches Recht alles andere als nahe. »Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel« wäre dann die Gegenmaxime — und mit jedem weiteren Schritt der Zerstörung der Grundstrukturen kämen wir dann der »Sterbehilfe« näher. So will es die moralische Ökonomie (»moral economy«) des Eigentums. Versteht man hingegen die Sozialhilfe als umfassende Mindestsicherung, als das wichtigste, weil letzte Netz sozialer Existenzsicherung und geht man von einer »moralischen Ökonomie« des Wohlfahrtsstaates, des Lebens, aus, wird eine zusätzliche Festigung dieses Mindestplateaus zu einer immer zentraleren Aufgabe — trotz und gerade wegen der Krise.

Bei dieser Sicherung des »Menschenrechts auf Existenz« fällt es auch nicht mehr schwer, den Traditionen wieder näher zu treten, die an der Wiege des Existenzminimums stehen (Leibfried, 81). Schließlich ging es bei dem ersten nationalen Institutionalisierungsschub der Armutspolitik in der Weimarer Zeit gerade um »die Richtsätze«. Damals allerdings war von dieser Armutspolitik bald die Mehrheit der Bevölkerung betroffen (Inflationszeit und die Folgen), so daß »der Warenkorb-Regelsatz-Komplex… in jener Zeit (funktional gesprochen) nur eine komplizierte Chiffre für… (eine radikal gestellte Frage nach umfassenden sozialstaatlichen Teilhaberechten — S.L.), einen breiten Anspruch auf gesellschaftliche Umverteilung und eine, die Mehrheit der Bevölkerung umfassende, soziale Umverteilungsgerechtigkeit (war)« (Leibfried u.a., 1983 : 10). In dem Maße wie die Armutsproblematik zu einem allgemeinen Thema für Arbeitnehmer und Gewerkschaften wird, wie zudem die »neuen sozialen Bewegungen« auf die Grenzen der »Selbsthilfe« und die Notwendigkeit allgemeiner gesellschaftlicher Solidarität durch die Sicherung solcher Mindeststandards stoßen, in dem Maße wird dieses »Recht auf Leben« auch neue Sprengkraft haben. Dabei wird sich die Weimarer Erfahrung kaum wiederholen, denn die Ausgangsbedingungen sind heute schon deshalb anders, weil

  • es um den Abbau eines ausgebauten Netzes sozialer Sicherung geht (was sowohl die Interessenstruktur wie die Mobilisierungschancen verändert);
  • das Problem mit den jetzigen gesellschaftlichen Ressourcen grundsätzlich bewältigbar ist;
  • die sozialen Bewegungen eher stärker und umfassender geworden sind und derzeit jedenfalls sensibler auf solche Zerfallsprozesse zu »reagieren« scheinen, weil die Betroffenheit deutlich umfassender geworden ist.

Literatur

Deutsche Bundesbank, 1983: Die Aufwendungen für Sozialhilfe seit Beginn der siebziger Jahre, in: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, April, S. 36 – 44.
Peter Galperin, 1983: Sozialhilfe ’83 — ein Soziometer reagiert auf bewegte Zeiten, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, Juni (im Druck). Stephan Leibfried, 1981: Existenzminimum und Fürsorge-Richtsätze in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Sozialarbeit 4(1982), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 469 – 523.
Stephan Leibfried,‘ Michael Heisig; Eckhard Hansen, 1983: Existenzminimum und Sozialpolitik. Ein Forschungsprojekt zur Entwicklung und Krise der Sozialhilfepolitik in der Bundesrepublik, in: Soziale Arbeit, Juni (im Druck).
Stephan Leibfried,‘ Gert Wenzel, 1982: Spar-Operation ’82, in sozialmagazin, Juli/August, S. 40 – 48.
Frances Fox Piven; Richard A. Cloward, 1977: Regulierung der Armut. Die Politik der Öffentlichen Wohlfahrt, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 449 Seiten,
Regelsatztabelle, 1982: Regelsatztabelle 198., in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Jg. 62, Nr. 2 (Februar), S. 75.
Rüdiger Baron, 1979: Weder Zuckerbrot noch Peitsche. Historische Konstitutionsbedingungen des Sozialstaats in Deutschland, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 12, Frankfurt: Suhrkamp, S. 13 – 55.
Maja Heiner, 1979: Die »Grünen« und die Sozialarbeit — Perspektiven einer zukünftigen sozialen Arbeit aus der Sicht der ökologischen Bewegung, in: Neue Praxis, Jg. 9, Nr. 2, S. 147 -/62.

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