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Die (un)heimliche Staats­ge­walt

30. August 2020
Memorandum zur Reform des Verfas­sungs­schutzes

IX. Verfas­sungs­schutz­be­richte

Die Bundesregierung und die Mehrzahl der Länderregierungen (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein) geben jährliche „Verfassungsschutzberichte“ heraus. Diese wenden sich an die Öffentlichkeit, vor allem an die Presse (1). Sie sind wichtigster Bestandteil des von der Innenministerkonferenz am 9. 12. 1974 beschlossenen Konzepts „Verfassungsschutz durch Aufklärung“ (2). Dabei handelt es sich um eine Modifikation der davor in Hessen praktizierten Konzeption des „informativen Verfassungsschutzes“, die sich an den „kritisch-loyalen oder politisch-engagierten“ Bürger (wendet), um ihm eine Orientierungshilfe in dem oft durch Agitation vernebelten Feld der politischen Auseinandersetzung zu geben“ (3). Die Verfassungsschutzberichte verstehen sich also als Bestandteil der regierungsamtlichen „Öffentlichkeitsarbeit“ (4), als „wichtiger aktueller Beitrag zur politischen Bildung“ (5) und zur „politischen Auseinandersetzung“ (6).

Die mit diesem Konzept der Verfassungsschutzberichte verbundene Problematik ist mehrfach beschrieben worden (7): Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes, Vereinigungen und Parteien, die von Verfassungs wegen geschützt sind (Artikel 9 und 21 Grundgesetz), durch Verunglimpfung zu bekämpfen. Es gehört nicht zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, die in Artikel 87 Grundgesetz präzise als „Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes“ (8) beschrieben sind, in den politischen Meinungsbildungsprozeß einzugreifen, auch wenn dies der Form nach in einer Informationsschrift des Innenministers geschieht. Nun hat zwar – auf eine entsprechende Klage der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ – das Bundesverfassungsgericht dem Bundesinnenminister ausdrücklich das Recht bestätigt, „in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen, und im Rahmen seiner daraus fließenden Zuständigkeit für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Gruppen und Aktivitäten“ in einem Verfassungsschutzbericht Werturteile abzugeben (9). Es hat aber zugleich dazu ermahnt, die Rechte der Parteien zu wahren und es der „Regierung untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluß aufdrängte, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhte“.

Wo aber denn die Grenze zwischen zulässigen Werturteilen und unzulässigen – weil auf sachfremden Erwägungen beruhenden – Wertungen liegt, bleibt nach diesem sibyllinischen Richterspruch unklar. Was im Verfassungsschutzbericht bleibt, ist die offizielle „Verrufserklärung“ (10) über eine Organisation, gegen die – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – kein Rechtsschutz gegeben ist.

Problematisch sind auch die rechtlichen Auswirkungen der Verfassungsschutzberichte. Zwar verkündet der Bundesminister: „Rechtsfolgen dürfen mit ihm [dem Verfassungschutzbericht] nicht verbunden werden“ (11). Diese Forderung ist aber ebenso irreal wie die Unterscheidung zwischen verbotener rechtlicher Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit einer Partei (12) und erlaubten faktischen Nachteilen für die Partei aus der Geltendmachtung ihrer Verfassungsfeindlichkeit (13). Die Folgen für den angehenden Lehrer, Wissenschaftler, Beamten sind die gleichen, wenn er einer Partei angehört, die das Bundesverfassungsgericht für „verfassungswidrig“ erklärt hat, wie wenn er einer im Verfassungsschutzbericht für verfassungsfeindlich erklärten Organisation angehört. Die Gerichte berufen sich – jedenfalls bis vor kurzem – ungezwungen auf Verfassungsschutzberichte bei Entscheidungen über Bewerber für den öffentlichen Dienst (14). Das verfassungsgerichtlich gebilligte und regierungsamtlich verkündete Postulat, der Verfassungsschutzbericht solle als an die Öffentlichkeit gerichtete sachliche Wertung ohne rechtliche Folgen angesehen werden, ist demnach illusionär. Es bleiben zwei Möglichkeiten:

  • Entweder soll auf Verfassungsschutzberichte überhaupt verzichtet werden (15);
  • oder – wie hier vorgeschlagen – die Funktion der Verfassungsschutzberichte sollte neu bestimmt werden.

Soweit ersichtlich gibt es in keinem anderen staatlichen Tätigkeitsbereich institutionalisierte periodische Berichte an die Öffentlichkeit. Stattdessen werden in einer Reihe von Aufgabenfeldern regelmäßig Berichte an das Parlament erstattet, teilweise als Regierungsberichte – Jahreswirtschaftsberichte, Subventionsberichte, Umweltberichte – teilweise als Berichte der besonderen Beauftragten – Bericht des Wehrbeauftragten, des Datenschutzbeauftragten. Auch hinsichtlich der Nachrichtendienste unterliegt die Regierung der parlamentarischen Kontrolle. Es ist nicht einzusehen, warum Berichte über die Tätigkeit der Nachrichtendienste am Parlament vorbei der Öffentlichkeit übergeben werden sollten. Vielmehr wird vorgeschlagen, der Regierung die gesetzliche Pflicht aufzuerlegen, dem Parlament – nicht der Parlamentarischen Kontrollkommission – in Form einer zu veröffentlichenden Bundestagsdrucksache regelmäßig Bericht über den Verfassungsschutz zu erstatten. Das Parlament hätte Gelegenheit und Veranlassung (16), sich mit diesem wichtigen und kontrollbedürftigen Exekutivbereich zu befassen. Der Verfassungsschutzbericht müßte vor allem

  • die Abgeordneten über die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde einschließlich der Bund-Länder-Zusammenarbeit im Berichtszeitraum unterrichten,
  • darstellen, welche Bestrebungen nach Ansicht der Regierung als gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet anzusehen sind,
  • darlegen, ob und ggf. warum nicht, Maßnahmen nach Art. 9 Absatz 2 und 21 Absatz 2 Grundgesetz gegen Vereinigungen und Parteien ergriffen werden sollen.

Die Vorlage des Berichtes ist kein zulässiges Mittel der Terroristenbekämpfung (17).

Dagegen sollte entgegen der Ansicht der derzeitigen Bundesregierung (18) auch und gerade die Verbotsdiskussion öffentlich geführt werden. Die Frage nach dem Rechtsschutz gegen Wertungen, „Verrufserklärungen“ durch Parlamentarier stellt sich in anderer Weise als bei regierungsamtlichen Publikationen. Zudem wäre es denkbar und wünschenswert, durch eine entsprechende gesetzliche Regelung klarzustellen, daß an die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Organisationen in den Verfassungsschutzbericht rechtliche Auswirkungen nicht geknüpft werden dürfen.

(1) In Niedersachsen auch äußerlich in Form von Pressemitteilungen; der Verfassungsschutzabteilung des niedersächsischen lnnenministeriums waren diese Verfassungsschutzberichte übrigens zeitweise unbekannt: noch 1976 behauptete diese Abteilung, es könne solche Berichte nicht geben, weil die Tätigkeit des Verfassungsschutzes geheimhaltungsbedürftig sei.

(2) dargestellt im Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1979 S. 13.

(3) „Informativer Verfassungsschutz in Hessen 1976/1977″, Bericht des Hessischen Innenministers, S. 4.

(4) Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalen 1979, S. 1.

(5) Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1979 S. 1.

(6) Verfassungsschutzbericht des Bundes 1979, S. 3.

(7) Jürgen Seifert, Die Definitionsgewalt des Verfassungsschutzes, in: 3. Russell-Tribunal, Band 4, Einschränkung von Verteidigungsrechten, Verfassungsschutz, Berlin 1979, Seite 127-140; ders. Vereinigungsfreiheit und hoheitliche Verrufserklärungen, in: Grundrechte als Fundament der Demokratie, hg. v. J. Perels, Frankfurt M. 1979 S. 157-181; ders. Wer bestimmt den „Verfassungsfeind“, in: Brückner, Damm, Seifert, 1984 schon heute, 3. Aufl. 1979 S. 107-124; Norman Paech, Zur Rechtmäßigkeit des Verfassungsschutzberichts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 1979, S. 1141-1146.

(8) Die in allen Verfassungsschutzgesetzen enthaltene Ausweitung auf „Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen“ überschreitet die Ermächtigung der Verfassung eindeutig; darauf hat bereits 1955 Andreas Hamann hingewiesen, vgl. ders. Verfassungsschutz und Recht des öffentlichen Dienstes, in: Recht im Amt 1955 S. 68-73.

(9) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 40, S. 287/293.

(10) Ausdruck von J. Seifert.

(11) Verfassungsschutzbericht 1979 S. 4.

(12) BVerfGE 12, 296 (Leitsatz 1).

(13) BVerfGE 39, 334/360; 40, 287/293.

(14) Oberverwaltungsgericht Münster, Urteil vom 1. 9. 1978, in: Der Öffentliche Dienst 1979 S. 135/137; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 25. 11. 1977, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1978 S. 744/747.

(15) Darauf läuft die Auffassung hinaus, die Regierung dürfe im Verfassungsschutzbericht einen „Amtsverdacht“ nur äußern, wenn sie beabsichtige, ein Straf- oder Verwaltungsverfahren einzuleiten; so K.-H. Ladeur in: Neue Juristische Wochenschrift 1978, S. 1652/ 1653.

(16) Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat den Verfassungsschutzbericht 1978 zum Anlaß für eine Große Anfrage genommen (Bundestags-Drucksache 8/3214).

(17) Nach Ansicht der Bundesregierung dient der Verfassungsschutzbericht der „geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Extremismus“. Antwort auf die in Anm. 16 erwähnte Große Anfrage, Bundestags-Drucksache 8/3615 S. 4.

(18) Bundestags-Drucksache 8/36I5, S. 1 und 4.

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