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Die (un)heimliche Staats­ge­walt

30. August 2020
Memorandum zur Reform des Verfas­sungs­schutzes

I. Zum Problem

„Im Jahre 96 n. Chr. erbat Plinius der Jüngere als Statthalter von Bithynien vom Kaiser Trajan brieflichen Rat: ,An Ermittlungsverfahren gegen Christen habe ich bisher noch nicht teilgenommen; deshalb weiß ich nicht, ob und in wieweit man sie zu bestrafen oder zu verhören pflegt.‘ Und der Kaiser antwortete: ,Man soll ihnen nicht nachspüren. Falls sie gemeldet oder beschuldigt werden, sind sie zu bestrafen. Anonym vorgelegte Listen dürfen jedoch bei keiner Anklage Verwendung finden; denn das ist von äußerst schlechtem Beispiel und unserer Zeit nicht würdig“ (1). Was dem absoluten Herrscher vor fast 2000 Jahren unwürdig schien, daran nimmt von den demokratischen Politikern unserer Tage nur noch eine Minderheit Anstoß – daß Verfassungsschützer weitgehend unkontrolliert Millionen von Bürgern nachspüren, deren Ausübung von Grundrechten mit dem Stigma der Staatsabträglichkeit millionenfach in Computern speichern und als Zeugen vom Hörensagen – quasi anonym – nicht überprüfbare Informationen in Gerichtsverfahren einbringen.

Denn der Verfassungsschutz beschränkt sich nicht auf die ihm im Bundesverfassungsschutzgesetz vom 27.9.1950 (BGB] 1682) zugedachte Rolle als Sammlungs- und Auswertungsbehörde von Informationen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder auf eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe von Bund und Ländern richten. Vielmehr entwickelte er sich zu einem geheimen Nachrichten- und Staatssicherheitsdienst, der tendenziell versucht, jedes politisch abweichenden Gedankens habhaft zu werden.

Dabei ist das Bundesamt für Verfassungsschutz, das dem Bundesinnenminister untersteht, noch nicht einmal der einzige bundesdeutsche Geheimdienst. Vielmehr existieren in jedem Bundesland noch Landesämter für Verfassungsschutz (2), die zur Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz verpflichtet sind. Zudem leistet der dem Bundeskanzleramt zugeordnete Bundesnachrichtendienst Auslandsspionage und hat in der Vergangenheit – wenn auch auftragswidrig – auch im Inland zahlreiche Personen und Institutionen beobachtet (3). Um die Abschirmung der Bundeswehr kümmert sich zudem der dem Bundesverteidigungsminister unterstehende Militärische Abschirmdienst. Wachsende Bedeutung für den Staatsschutz haben besonders in den letzten Jahren auch die Staatsschutzpolizei und der Bundesgrenzschutz gewonnen. Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch noch das Bundeskriminalamt, insbesondere dessen Sicherungsgruppe Bonn, zu nennen sowie in der Bundesrepublik operierende „befreundete“ Geheimdienste, namentlich die CIA.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz besteht neben der amtseigenen Schule aus folgenden acht Abteilungen:

Abteilung Z – allgemeine Verwaltung

Abteilung I- Grundsatzfragen des Verfassungsschutzes und zugleich verantwortlich für das elektronisch betriebene nachrichtendienstliche Informationssystem, kurz „NADIS“ genannt

Abteilung II – Rechtsextremismus

Abteilung III- Linksextremismus

Abteilung IV – Spionagebekämpfung

Abteilung V – Geheimschutz (wer mit sicherheitsempfindlichen, geheimhaltungsbedürftigen Gegenständen befaßt werden soll, der ist zuvor einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen)

Abteilung VI – Ausländerüberwachung

Abteilung VII- Terrorismus. (4)

Was die finanzielle Ausstattung des Verfassungsschutzes betrifft, so profitierte er überproportional von allen Schwenks der deutschen Politik. Ob es sich um den Ausbau der Bundesrepublik zu einem antikommunistischen Bollwerk unter Adenauer handelte, um die Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung zur Zeit der großen Koalition von SPD und CDU/CSU oder um die Einschränkung von Freiheitsrechten durch die sozial-liberale Koalition bei der Terrorismusbekämpfung – stets wurden alle Schritte durch eine Erhöhung des Überwachungspotentials des Verfassungsschutzes flankiert. So stieg etwa der Etat des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 5.220.400 DM im Jahre 1952 um ca 100% auf 11.080.600 DM im Jahre 1959, um fast 200% auf 29.949.400 DM bis zum Jahre 1969 und um mehr als 300% auf 133 Millionen DM bis 1980 (5). Ähnlich sprunghaft entwickelten sich die Etats der Landesämter für Verfassungsschutz, die alle zusammen noch einmal über einen Betrag verfügen dürften, der um noch einiges höher liegt als der des Bundesamtes. Entsprechend erhöhte sich etwa der Etat des Landesamtes für Verfassungsschutz in Niedersachsen folgendermaßen (6):

1950: 250.000 DM (für die „Nachrichtensammelstelle“)

1960: 2.500.000 DM

1970: 4.800.000 DM

1980: 24.000.000 DM

Mithilfe der auf diese Weise immer neu geschaffenen Planstellen (insgesamt dürfte sich deren Anzahl momentan etwa auf vier- bis fünftausend belaufen) und immer höheren Etats für V-Leute konnte der Verfassungsschutz seine Tätigkeit immer weiter ausdehnen, und dies, obwohl das Grundgesetz wie kaum eine andere Verfassung bereits durch einen verfassungsrechtlichen, einen gerichtlichen und einen administrativen Verfassungsschutz mehrfach geschützt ist.

So garantiert etwa der verfassungsrechtliche Verfassungsschutz mit der „Kernbestandsgarantie“ des Artikels 79 Abs. 3 GG die tragenden Verfassungsgrundsätze (Menschenwürde, Demokratie, sozialer Rechtsstaat, bundesstaatliche Ordnung, Gewaltenteilung, Bindung an Gesetz und Recht) selbst gegenüber verfassungsändernden Mehrheiten. Weitere Schutzgarantien enthalten die GG-Artikel 19 Abs 2; Art. 56 in Verbindung mit 64 Abs 2; 33 Abs 4 und 5 und 20 Abs 4. Der gerichtliche Verfassungsschutz enthält beispielsweise die Möglichkeit eines Verbots verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs 2 GG) und die Verwirkung von Grundrechten (Art 18 GG) sowie zahlreiche, allerdings auch teilweise mehr als problematische Bestimmungen des politischen Strafrechts, wie etwa die § § 81-83a StGB (Hochverrat) oder die § § 84-91 StGB (Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats). Im Bereich des verwaltungsrechtlichen Verfassungsschutzes verfügt die Exekutive über zahlreiche Möglichkeiten des präventiven Verfassungsschutzes – so die Art. 28 Abs 3, 37, 87a Abs 4, 91 Abs 1 und 2 GG. Man denke darüber hinaus an die sehr weitgehenden Möglichkeiten der Exekutive gemäß dem Vereinsgesetz, dem Beamten- und Soldatenrecht, dem Ausländerrecht und anderem mehr (7).

Ob angesichts all dieser Möglichkeiten auch noch ein nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz vonnöten ist, ist umstritten. Fest steht hingegen, daß die bisher geübte Praxis dieses geheimdienstlichen Verfassungsschutzes in einem Rechtsstaat nicht länger zu tolerieren ist. Besonders bedenklich erscheint zum einen die von ihm ausgehende Tendenz einer schleichenden Umwandlung der Bundesrepublik in einen Überwachungsstaat und die damit verbundene Aushöhlung von Grundrechten; zum anderen die Tatsache, daß der Verfassungsschutz längst nicht mehr nur Informationen sammelt, auswertet und der Regierung zur Verfügung stellt, sondern daß er trotz der ihm mit Bedacht vorenthaltenen Exekutivbefugnisse aktiv selbst definiert, wer Verfassungsfeind ist und selbst repressive Maßnahmen wie Kündigungen, Hausdurchsuchungen, Berufsverbote etc. veranlaßt. Dazu nur einige Fakten (8).

Gefahr des Überwa­chungs­staates

Anfang der siebziger Jahre schuf der Verfassungsschutz auf Weisung des damaligen Bundesinnenministers H. D. Genscher ein integriertes System (NADIS), um auf dem Wege der Datenverarbeitung nachrichtendienstliche Informationen zu speichern. Auf den beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln stationierten Zentralcomputer haben auch alle Landesämter für Verfassungsschutz sowie der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst direkten Zugriff. Das Bundeskriminalamt und andere Dienststellen können sich auch nach Abschaffung des Datenverbunds auf dem Wege der Amtshilfe bedienen. „Mit NADIS ist das Skelett einer Maschinerie perfekt, die technisch geeignet wäre zur politischen Vollkontrolle eines Volkes“, schreibt der Spiegel und: „bei all dem scheint die Spekulation nicht abwegig, daß, Überschneidungen berücksichtigt, in den geheimen Datenbanken der Bundesrepublik schon heute Persönliches über acht bis neun Millionen Menschen registriert ist – über jeden fünften Erwachsenen“ (9), verfügte doch bereits im Jahre 1973 allein das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz nach eigenen Angaben über 190.000 Einzeldossiers (10). Zu den „Erkenntnissen“, die in den nach Institutionen und Personen gegliederten Dossiers gespeichert werden, kommt der Verfassungsschutz durch ein äußerst aufwendiges und umfangreiches Überwachungssystem; durch Auswertung von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Flugblättern, wissenschaftlichen Arbeiten bis hin zu Doktor- und Examensarbeiten, Kandidatenlisten zum Studentenparlament und zu den Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen, Resolutionen und Protestschreiben, Leserbriefen etc. So gelangten etwa 700 Bürger von Speyer ins Visier des Verfassungsschutzes, darunter auch zahl-reiche SPD-Abgeordnete, die den Aufruf einer Bürgerinitiative unterschrieben, eine der DKP angehörende Kunsterzieherin anzustellen. Ministerpräsident Bernhard Vogel: Wer sich für solche Personen einsetze, den müsse man sich ganz genau ansehen“. Weiterhin versucht der Verfassungsschutz, durch V-Leute, Foto-, Film- und Videotrupps alle großen politischen und gewerkschaftlichen Demonstrationen und Versammlungen zu observieren, so etwa die DGB-Demonstration zum 1. Mai in Gießen (12), die Demonstration des Hessischen Jugendrings gegen Jugendarbeitslosigkeit in Offenbach (13) oder die GEW-Demonstration in Stuttgart (14). Zu solchen Maßnahmen äußerte der Kasseler Polizeipräsident: „Wer hier in Kassel öffentlich den Mund aufmacht, muß eben damit rechnen, daß er dies vor einer Kamera tut“ (15). Bei solchen Anlässen ist es auch eine beliebte Übung, alle Kennzeichen der in der Nähe der Kundgebungs- und Versammlungsplätze abgestellten Kraftfahrzeuge zu notieren, wie es etwa 600 Bürgern aus dem Main-Kinzig-Kreis erging, die eine Forumsveranstaltung der Frankfurter Rundschau zur Müllverbrennungsanlage besuchten (16).

Massenüberprüfungen finden jedoch nicht nur bei besonderen politischen Anlässen sondern auch millionenfach im Zusammenhang mit dem Radikalenerlaß, der Gesinnungskontrolle von Wehrpflichtigen oder bei den Personalüberprüfungen in Privatbetrieben statt. Die Problematik des Radikalenerlasses ist hinreichend bekannt. Was die Wehrpflichtigen angeht, ließ der Militärische Abschirmdienst komplette Jahrgänge, also Millionen, vom Verfassungsschutz überprüfen (17), und laut Bundeswirtschaftsministerium werden die Beschäftigten von über 5% aller großen und mittleren Betriebe regelmäßig vom Verfassungsschutz überprüft (18). Natürlich werden nicht nur Erwachsene, sondern auch Schüler observiert, nach amtlichen Angaben allein in Bayern mindestens 200 (19), während sich in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg alle Auszubildenden im öffentlichen Bereich ohne Altersgrenze und unabhängig vom Ausbildungsberuf einer Verfassungsschutzüberprüfung unterziehen mußten (20). Mit Hilfe von teilweise auch durch Nötigung geworbenen V-Leuten (20a) beobachtet der Verfassungsschutz generell alle Organisationen, Gruppen und Personen, denen er im weitesten Sinne terroristische, kommunistische oder auch neofaschistische Ziele unterstellen kann. Darüber hinaus versucht er tendenziell, alle Gruppierungen und Personen mit abweichenden politischen Meinungen zu überwachen, wie etwa zahlreiche Studenten- und Schülergruppen, Jugendzentren und Bürgerinitiativen, Gewerkschafter und Professoren, Rechtsanwälte und Pfarrer (21), wobei es offenbar auch zur Verfassungsschutzpraxis gehört, Organisationen und Personen durch Provokateure hin und wieder erst zu „staatsabträglichem“ Tun zu motivieren (22).

Daß der Bundesnachrichtendienst jährlich circa 1,6 Mio Telefonanrufe und Briefe in die bzw. aus den Ostblockstaaten mithört bzw -liest (23), Verfassungsschutz wie Polizei seit Jahren zum „vorbeugenden personellen Geheimschutz“ Sexualdaten speichern (24), das Bundeskriminalamt jahrelang Daten von rund 1000 Wohngemeinschaften mit rund 4000 Bewohnern aufbewahrte (25) oder über 10.000 Personen der „beobachtenden Fahndung“ unterzog (26) sowie eine Spezialdatei über alle Besucher zahlreicher politischer Prozesse und Briefschreiber – selbst einer so integren Gefangenenbetreuerin wie Birgitta Wolf – an mutmaßliche Terroristen anlegte, mag das Überwachungszenario komplettieren.

Wessen der Verfassungsschutz nicht selbst durch seine Foto-, Video-, Film- oder Tonbandtrupps, durch V-Leute oder Provokateure, durch Telefon- oder Briefkontrolle, durch „Wanzen“ oder Beschattung habhaft wird, dem versucht er per Amtshilfe oder Auskunft beizukommen, zu der zahlreiche Landesverfassungsschutzgesetze alle „Behörden des Landes, der Gemeinden, der Gemeindeverbände“ usw. verpflichten. Und Auskünfte gibt es da im Zeitalter der Computer und Datenbanken zur Genüge:

– etwa bis zu 400 persönliche Einzeldaten bei den kommunalen und Landesrechenzentren;

– etwa Ergebnisse von Intelligenzquotienten- und Psychotests bei den Lehrer- und Schülerindividualdateien der Länder;

– etwa Auskunft darüber, ob und welche Lehrveranstaltungen ein Student belegt hat, bei den Datenzentralen der Hochschulen oder etwa

– Auskünfte über das Leseverhalten bei öffentlichen Bibliotheken. . .

Insgesamt ein „System der Zuträgerei für den Geheimdienst“, wie es nach den Feststellungen des Staatsrechtlers Hans-Peter Schneider aus keinem anderen demokratischen Land der Welt bekannt ist (28). Über den Umfang, in dem von diesen Möglichkeiten gebrauch gemacht wird, kann man nur Vermutungen anstellen. Allerdings lassen die zahlreichen bekannt gewordenen Fälle reger Amtshilfe und Kooperation zwischen Verfassungsschutz und zahlreichen Institutionen auf eine sehr umfangreiche Praxis schließen. Verwiesen sei nur auf die Kooperation zwischen Verfassungsschutz und Universitäten (29), Schulen (30), Kranken- und Rentenversicherung (31), Gerichten (32), Bundesgrenzschutz und Zoll (33), Bibliotheken (34), Gewerkschaften (35), Zivildienst (36) – und Dutzenden von anderen Stellen, wie sie auch in einem Handbuch für den Verfassungsschutz als „Vielfalt auf dem Gebiet der Erkenntnisgewinnung und ihrer Quellen“ gerühmt wird (37) – auch, so die Handbuchautoren, „das Steuergeheimnis dürfte sich daher in praxi nicht als ernstes Hindernis darstellen“ (38).

Darauf, daß unter diesen Umständen zahlreiche Grundrechte, wie etwa freie Entfaltung der Persönlichkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungs und Vereinigungsfreiheit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Berufsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung immer mehr zur Farce zu werden drohen, ist von vielen Bürgerinitiativen und namhaften Persönlichkeiten immer wieder warnend hingewiesen worden. Zu den „Erfolgen“ einer Politik, die alle diese Warnungen ignoriert hat, gehört unter anderem der Tatbestand, daß aufgrund befürchteter Nachteile heute bereits jeder zweite Jugendliche der Meinung ist, daß es hierzulande besser sei, die eigene Meinung nicht laut zu äußern (39).

„Die Furcht vor Spitzeln, Wanzen und Geheimcomputern habe sich bereits“, resümiert die Hamburger FDP-Chefin Helga Schuchardt, „auf das geistige Klima in unserem Land in verheerender Weise ausgewirkt“. . . Von den 900.000 Studenten“, schätzt Berlins Hochschulsenator Peter Glotz, „hat die Hälfte wirklich Angst“ – sie vor allem fühlen sich getroffen von dem 1972er Radikalenbeschluß, nach dem bislang 2,5 Millionen Westdeutsche mit Computerhilfe überprüft worden sind. . . „Ich kontrolliere, was ich in den Papierkorb werfe“; „ich wage es nicht, an einer Demonstration teilzunehmen“; „ich vermeide es, in linken Buchläden zu kaufen“ – diese Bekenntnisse veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie … Bereits geringste politische Aktivität, „beispielsweise der Besuch einer Veranstaltung“, berichten die Therapeuten, lasse bei jungen Westdeutschen „Zweifel darüber aufkommen, ob man damit seine berufliche Zukunft gefährdet“. Viele zögen sich daher in „ihr privates Schneckenhaus zurück“… Frei von Angst vor einer vermeintlichen „perfekten Überwachungsmaschinerie“ scheinen nicht einmal mehr SPD-Parteitagsdelegierte: Manch einer, meldete das parteiinterne Sozialdemokrat-Magazin, weigere sich sogar, „seinen Namen in Spendenlisten für die spanische Bruderpartei einzutragen; die Genossen fürchteten allen Ernstes berufliche Nachteile, falls derlei Daten in Staatsschutz-Computer eingespeist würden…“ (40).

Definitionsmacht

War aufgrund der Erfahrungen mit der Gestapo im Bundesverfassungsschutzgesetz vom 27.9. 1950 ausdrücklich verankert worden: „Polizeiliche Befugnisse oder Kontrollbefugnisse stehen dem Bundesamt für Verfassungsschutz nicht zu“ ( § 3 Absatz 2), so hat sich der Verfassungsschutz seitdem, wenn auch nicht direkte polizeiliche Befugnisse, so doch immer mehr faktische Definitions und Repressionsmacht angeeignet. Durch seine vielfach völlig unkontrollierte Praxis der Weitergabe von Informationen und Fehlinformationen an öffentliche und private Arbeitgeber, Parteien und Gewerkschaften, Polizei und Gerichte, ausländische Geheimdienste und andere Dienststellen sowie durch diskriminierende Observationsmethoden hat der Verfassungsschutz in zahllosen Fällen Entlassungen, Wohnungskündigungen, Festnahmen etc veranlaßt; häufig, ohne daß sich die Betroffenen dagegen hätten zur Wehr setzen können.

So wurde beispielsweise der 26jährige Bankkaufmann M. Ziegelhöfer von einer bayerischen Kreissparkasse fristlos entlassen, weil er laut Gerichtsprotokoll „in einer Wohngemeinschaft wohne, die verfassungsrechtlich überwacht worden sei“ (41). Auf Veranlassung des Verfassungsschutzes von den Hamburger Stahlwerken gekündigte Mitarbeiter erhielten aufgrund von einer „neuen Art schwarzer Listen“ – so die IG Metall – auch in anderen Hamburger Betrieben keine Chance mehr (42). Die Lehramtskandidatin A. Boppel erhielt eine Stelle an einer Schule nicht, weil der Verfassungsschutz Bedenken gegen sie geltend gemacht hatte. Als sich herausstellte, daß die Verfassungsschutzinformation falsch war, war die Stelle dann leider schon vergeben (43). Ähnlich sorgte der Verfassungsschutz per Denunziation für die Entlassung des Atom-Managers Klaus Traube (44) oder durch diskriminierende Observationsmethoden für die Entlassung des Journalisten J. Müller (45). Und als sich das Saarbrücker DKP-Mitglied H. Müller-Kitnau um den Vorsitz der HBV-Jugend bemühte, lancierte der Verfassungsschutz dessen Dossier in die Welt, so die „begründete Vermutung“ der Saar-SPD-Landtagsfraktion (46); von der guten Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes mit den Geheimdiensten verschiedener diktatorischer Regime, sicher nicht zum Vorteil von deren demokratischen Opponenten, ganz zu schweigen (47).

Kontrolle?

Daß der bundesdeutsche Verfassungsschutz, zumal er jahrzehntelang von ehemaligen Gestapo-, SS- und SD-Rängen geprägt wurde (48), sich wenig um das Grundgesetz schert, ist offensichtlich. Auf den ersten Blick überraschender ist allerdings, wie Regierung und Parlament auf Verfassungsbrüche des Verfassungsschutzes reagieren. Innenminister Höcherl entschuldigte 1964 den durch die Telefonabhöraffäre bekanntgewordenen Bruch des Fernmeldegeheimnisses mit der bezeichnenden Bemerkung, die Verfassungsschützer könnten schließlich nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, und nach diesem Motto ist der Verfassungsschutz bislang von Politikern aller Couleur behandelt worden: nachdem der Verfassungsschutz Verfassung und Recht lange genug gebrochen hatte, wurden Verfassung und Recht schließlich seinen Praktiken angeglichen.

So griff der Verfassungsschutz über ein Jahrzehnt lang verfassungswidrig in das Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ein. Dem öffentlichen Skandal folgte keine stärkere Kontrolle des Verfassungsschutzes, sondern im Rahmen der Notstandsgesetzgebung eine Grundgesetzänderung, die dem Verfassungsschutz nun die Postkontrolle erlaubte, wobei in diesem Falle zugleich noch ein weiteres Grundrecht, nämlich die Rechtsweggarantie, aufgehoben wurde. Der Verfassungsschutz betrieb seit Anfang der 50er Jahre Spionageabwehr und setzte weiterhin jahrzehntelang ohne gesetzliche Ermächtigung nachrichtendienstliche Mittel ein und erhielt dann schließlich 1972 durch Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes das Recht dazu. Der Verfassungsschutz observierte jahrelang Ausländerorganisationen in der Bundesrepublik und wurde erst später dazu legitimiert. Ähnlich sanktionierten erst verschiedene Landesverfassungsschutzgesetze im nachhinein eine vom Verfassungsschutz bereits seit Jahrzehnten vorweggenommene exzessive Amtshilfepraxis. Entsprechend deckte auch der ehemalige Bundesinnenminister Maihofer ohne Nachfrage den Verfassungsbruch des Verfassungsschutzes in der Traube-Affäre. Erst als monatelang ein Geheimdienstskandal dem nächsten folgte, die haarsträubendsten Praktiken bekannt wurden und die Öffentlichkeit durch eine historisch einmalige Häufung von Skandalen anders nicht mehr zu besänftigen war, mußten zwei für fortgesetzte Verfassungsbrüche verantwortliche Minister (Maihofer und Leber) ihren Hut nehmen. Seitdem agiert zumindest der Bundesinnenminister G. Baum erheblich zurückhaltender.

Ob sich allerdings wirklich durchgreifende Reformen gegen die CDU/CSU und die konservativen Teile von SPD und FDP durchsetzen lassen oder ob nur allzu offensichtlich rechtswidrige oder schlicht ineffektive Praktiken beseitigt werden, scheint zur Zeit noch nicht entschieden. Dabei ist jeder Millimeter Fortschritt in Richtung auf mehr Rechtsstaatlichkeit, wie etwa die vom Bundesinnenminister ausgehende Problematisierung der früher uferlosen Amtshilfepraxis zu begrüßen. Allerdings ist bisher weder bei Parlament noch Regierung der Wille deutlich geworden, das eigentliche Übel, das die bisherige Verfassungsschutzpraxis darstellt, an der Wurzel zu packen und Verfassungsschutzregelungen zu schaffen, die rechtsstaatlichen Kriterien wirklich standhalten.

(1) So zitiert von H.-P. Schneider: Wer schützt uns vor dem Verfassungsschutz, in: Kritische Justiz 1/1976, S. 75

(2) Dabei gibt es zwei unterschiedliche Organisationsformen: in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Saarland und Berlin wurden die Ämter für Verfassungsschutz als selbständige, dem Innenminister zugeordnete Landesoberbehörden eingerichtet. In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein bilden sie besondere Abteilungen im Innenministerium bzw. unterstehen als solche dem Senator für Inneres.

(3) vgl. D. Damm: Die Praktiken des BND, in: Kritische Justiz 1/1975, S. 90ff

(4) vgl. D. Damm, S. 14, in: Brückner/DammlSeifert: 1984 schon heute?, 1979

(5) vgl. dazu Kap, 0609 der jeweiligen Bundeshaushaltspläne

(6) vgl. Kap. 0390 des Haushaltsplans des Landes Niedersachsen

(7) vgl. H.-P. Schneider: Der Verfassungsschutz – Grundordnungs-hüter, Sicherheitsdienst oder Geheimpolizei, in: W.-D. Narr (Hg.): Wir Bürger als Sicherheitsrisiko, Reinbek 1977, S.93ff

(8) Ausführlicher dazu vgl.: D. Damm 1979, a.a.O.; W.-D. Narr, a.a.O., Drittes Internationales Russell-Tribunal, Bd. 4, Berlin 1979; T. Walde ND-Report, München 1971; J. Bökche: Der Weg in den Überwachungsstaat. Reinbek 1979

(9) Bölsche a.a.O., S. 39 und 37

(10) Der Stern 13/1973, S. 74

(11) Frankfurter Rundschau 15. 12. 1977

(12) Frankfurter Rundschau 10. 5. 1978

(13) Informationen des Hessischen Jugendrings 1/1976

(14) Extradienst 4. 3. 1977

(15) D. Damm 1979, a.a.O., S. 34

(16) Frankfurter Rundschau 29. lt. 1980; ob es sich bei solchen Aktivitäten jeweils um den Verfassungsschutz, oder- wie in diesem Fall – um die Politische Polizei handelt, ist nicht immer auszumachen, trägt jedoch noch zusätzlich zur Verunsicherung des Bürgers bei.

(17) Der Spiegel 37/ 1979; vgl. auch J. Bölsche, a.a.O., S. 37, demzufolge nach Angaben des Innenministeriums der Militärische Abschirmdienst bereits 1977 4 Millionen Sicherheitsüberprüfungen durchgeführt habe.

(18) Frankfurter Rundschau 3. 8. 1978

(19) Der Spiegel 31/1978, S. 7420 Frankfurter Rundschau 6. 10. 1978

(20a) vgl. dazu etwa D. Damm 1979, a.a.O., S. 38f; E. Spoo: Die Macht des Geheimdienstes, in: W.-U. Narr, a.a.O., S. 139; Stern vom 2. 11. 1978; metall 25-26/1978, S. 28

(21) vgl. dazu zu zahlreichen Fällen insbesondere D. Damm 1979 a.a.0., E. Spoo a.a.D. Russell-Tribunal a.a.O.

(22) vgl. etwa D. Damm 1979, a.a.0., S. 46ff; vgl. auch etwa die FälleUrbach (Der Spiegel 22/1971, S. 87), Bodeux (Stern 12/1979,S. 249ti) oder Lepzien (Frankfurter Rundschau 20. 2. 1981)

(23) Der Spiegel 47/1978, S. 24ff

(24) Der Spiegel 33/1979, S. 60

(25) Frankfurter Rundschau 26. 1. 1979

(26) vgl. J. Bälsche, a.a.O., S.62ff

(27) Frankfurter Rundschau 26. 11. 1980

(28) Der Spiegel 30/1976, S. 30ff

(29) Der Spiegel 14/1980, S. 100ff

(30) Frankfurter Rundschau 20. 9. 1978

(31) Der Spiegel 43/1978, S. 139

(32) Frankfurter Rundschau 20. 4. 1979

(33) J. Bölsche a.a.0., S. 64ff

(34) Frankfurter Rundschau 30. 3. 1978

(35) Frankfurter Rundschau 25. 7. 1977

(36) Frankfurter Rundschau 27. 9. 1979

(37) H.J. Schwagerl/R. Walther: Der Schutz der Verfassung, Köln/Berlin/Bonn/München 1968, S. 87

(38) ebenda, S. 89

(39) vgl. Studie des Instituts für Jugendforschung im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell: Die Einstellung der jungen Generation zu Arbeitswelt und Wirtschaftsordnung 1979, München 1980

(40) 1. Bölsche a.a.O., S. 13f

(41) Konkret 3/1977,S. 31

(42) Frankfurter Rundschau 4, 4. 1978; vgl. auch Drittes Russell-Tribunal, a.a.O., S. 144fC

(43) Der Spiegel 12/1977, S. 52

(44) K. Traube: Lehrstück Abhöraffäre, in: W.-D. Narr, a.a.O., S. 61ff

(45) Frankfurter Rundschau 27. 4. 1979; vgl. zu ähnlichen fällen: Frankfurter Rundschau 12.3.1977; 12.3. 1977;Russell-Tribunal, a.a.O., S. 113ff

(46) Der Spiegel 33/1979, S. 6lf

(47) vgl. ausführlicher zur Problematik der Definitionsmacht des Verfassungsschutzes – J. Seifert: Die Definitionsgewalt des Verfassungsschutzes, in: Russell Tribunal, a.a.O., S. 127ff; zu weiteren Fällen vgl. ebenda, S. 140ff und D. Damm 1979, a.a.O.

(48) vgl. T. Walde, a.a.O., S. 118f

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