Themen / Sozialpolitik

Zur Lage der auslän­di­schen Arbeiter in Westeuropa

10. April 1970

aus: vorgänge Heft 4/1964, S. 156-158

(vg) Zu diesem Thema schreibt der Schweizer Walter Hollstein in der von Martin Niemöller u. a. herausgegebenen Halbmonatsschrift der Bekennenden Kirche Stimme der Gemeinde“, Ausgabe vom 15. März 1964 (gekürzt um einige Absätze und die Anmerkungen):

Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die Schweiz haben Hunderttausende von Fremdarbeitern: Weiße wie Schwarze und Gelbe. Deren Rolle und Status, Situation und Lage werden mehr und mehr in der Öffentlichkeit diskutiert. Massenmedien, politische Parteien, Kirchen, sozialreformerische Vereinigungen, nationale Kommissionen sorgen sich um das Problem „Fremdarbeit und Fremdarbeiter”.
Alle Tagungen und Diskussionen, Vorschläge und Konferenzen haben indes nichts erbracht, was grundsätzlich zu einer Lösung des Problems beitrüge. Hier und da haben öffentliche, halböffentliche und private Organisationen versucht, die größte Not vieler Fremdarbeiter zu lindern. Generell wird jedoch die Fremdarbeit nur beredet und beschwätzt, ohne daß in der gesellschaftlichen Praxis das Wort in die Tat umgesetzt würde. Allgemeinhin scheuen sich die, die verantwortlich sind, die Misere der Fremdarbeiter zu bezeichnen. Um von den Tatsächlichkeiten abzulenken, diskutiert man in Deutschland, in der Schweiz und anderswo die Frage, wie die Italiener, Marokkaner, Algerier, Spanier, Senegalesen, Griechen usw. angesprochen werden sollen. Statt von Fremdarbeitern liest man nun in den Zeitungen von Gastarbeitern. Ein Gast ist im allgemeinen Sprachgebrauch derjenige, der willkommen ist und gastfreundlich aufgenommen wird. Zum Gast gehört der Gastgeber. Sein Betragen weist in den bezeichneten Ländern darauf hin, wie es um den neuen Begriff „Gastarbeiter” in praxi bestellt ist.
Die einheimische Bevölkerung — gleichgütig ob in Deutschland oder in Großbritannien —hegt gegenüber den FremdarbeiternVorurteile zuhauf. Die Gerüchte vom heißblütigen Messerstecher und bestialischen Sexualverbrecher sind mittlerweile zu den beliebten Moritaten des 20. Jahrhunderts geworden. Daß der Fremdarbeiter faul, dreckig, leicht reizbar und obendrein falsch sei, hört man allenthalben. Daß er die Arbeitslöhne niedriger und die Qualität der Waren schlechter werden lasse, sind zwei „Argumente”, die erst neuerdings im Katalog der Vorurteile wider die ausländischen Arbeiter zu finden sind.
Die Welle der mißlichen Gefühle und Ideen richtet sich vor allem gegen jene Fremdarbeiter, die sich in ihrer Hautfarbe deutlich von den weißen Gastgebervölkern unterscheiden. So ist es in England sogar zu Ausschreitungen gegen die farbigen Arbeiter aus den ehemaligen Kolonien gekommen. Der Kontakt der Fremdarbeiter untereinander hilft ihnen jedoch über die Mauer der Vorurteile, der Abneigung und sogar des Hasses hinweg, die ihnen ihre „Gastgeber” entgegenbringen. Schwieriger zu meistern sind die materiellen Probleme, die sich den ausländischen Arbeitskräften in den westeuropäischen Staaten stellen. Am brennendsten ist wohl die Wohnungsfrage.
Im Sommer können sich viele der Fremdarbeiter mit einer Strohmatte in einer Baubude oder provisorischen Baracke begnügen. Solche erbärmlichen Notquartiere sind indes nicht geschaffen, die Unbilden des Winters ab- und aufzuhalten. In jedem Winter zeigt sich von neuem, was in jedem Sommer versäumt worden ist. Das Gros der Fremdarbeiter bewohnt noch immer Baracken, die zugig, kalt und meist nicht heizbar sind. Jean Senard schildert denn auch in seiner Studie über die „travailleurs noirs en France” die Furcht der fremden Arbeiter vor einem kalten Winter. Die Fremdarbeiter wissen, daß sie empfänglicher für Erkältungskrankheiten sind als der wohlgenährte Durchschnittsbürger. Denn bereits in ihrer Heimat büßten die ausländischen Arbeitskräfte durch schlechte Ernährung und mangelhafte Hygiene die wichtigen Widerstandskräfte ein. Auch in der Fremde können sich die Arbeiter vielfach nicht so ernähren und kleiden, wie es nötig wäre. An Essen, Kleidung und Unterkunft sparen sie, um ihre Familien in Italiens im Senegal, in der Türkei unterstützen zu können.
Diese mißliche Lage der Fremdarbeiter hindert viele „Gastgeber” indes nicht, so viel Geld wie nur irgend möglich von ersteren zu fordern. Die Fremdarbeiter sind den Wucher-Praktiken ihrer Vermieter und Vermieterinnen hilflos ausgesetzt. Für Schlafstellen in Slums, Baracken, Ställen und Toiletten (sie!) müssen die Arbeiter aus Italien, Spanien und Griechenland horrende Preise bezahlen. Vielfach sind die in der Tat nicht verwöhnten Fremdarbeiter ihren Vermietern noch dankbar dafür, daß sie überhaupt eine Unterkunft gefunden haben.
So war es auch im Falle des englischen Herrschers der Slums“ Peter Rachenar, der eine offensichtlich beispielhaft gewordene Methode der Ausbeutung erdachte. Rachenar warf aus den von ihm aufgekauften Häusern die alteingesessenen Mieter hinaus; machte aus drei Wohnungen 10—12 Zimmer und verdiente fortan ein Mehrfaches des normalen Mietbetrages. Die Idee Rachmans, Familien aus Wohnungen hinauszukomplimentieren und in jedes Zimmer drei Fremdarbeiter einzuquartieren, hat sich mittlerweile auch in der Schweiz durchgesetzt. Ob in Luzern, Zürich, Genf oder Basel, allenthalben wird die Notlage der Fremdarbeiter ausgenutzt. Erst jüngst haben zwei Skandale in Genf Aufdeckung erfahren. Unweit der Kunsteisbahn von Les Vernets hatte ein findiger Genfer Lumpenhändler ein Elendsquartier aus alten Holz- und Blechbuden errichtet, das er an Fremdarbeiter vermietete. Pro Jahr zahlte der Lumpenhändler 340 Franken Pacht für das Grundstück; pro Jahr nahm er 60 000 Franken Miete für die aufgestellten Baracken ein. Im Volksmund hieß dieses „Quartier” von Genf nur „bidon-ville”, was man mit Lumpenstadt übersetzen könnte. Am 30. November machten Bulldozer das „bidon-ville” dem Erdboden gleich. Doch wenige Tage später hatten die stolzen Bürger der Rhá´ne-Stadt von neuem Anlaß, sich zu erregen. In Chêne-Bourg hatten zwei Frauen und ein Mann ein baufälliges Holzhaus mit den dazugehörigen Stallungen an Fremdarbeiter vermietet. In 12 Quadratmeter großen „Zimmern” hausten je fünf Personen in zwei Betten. Ein jeder Mieter hatte 70 Franken zu bezahlen. Auf engstem Raum wohnten mehr als 50 Personen in dem abbruchreifen Haus, was im Jahr einem Gewinn von 42 000 Franken entsprach. Diesen 50 Menschen stand eine Toilette zur Verfügung. Heizen konnten sie wegen der Brandgefahr nicht. Der Genfer Staatsrat André Ruffieux bemerkte, daß die Schafe der Besitzer besser untergebracht waren als die Fremdarbeiter.
Doch nicht allein die Vermieter machen mit den Fremdarbeitern ihr Geschäft. Die Bäcker backen inzwischen italienisches Brot; die Metzger verkaufen spanische Wurstspezialitäten; die Teigwarenindustrie vergrößert ihren Umsatz dank der Spaghetti-Käufe der Südländer; der Gebrauchtwarenhandel hat sein Geschäft gesteigert usw. Die Schweiz — mit prozentual im Verhältnis zur Bevölkerung den meisten Fremdarbeitern — kennt nicht einmal eine Kinokrise wie ihre nördlichen Nachbarländer. Viele Filmtheater haben ihr Programm auf italienische Filme im Originalton umgestellt. Der finanzielle Erfolg gibt ihnen recht.
Der geschäftliche Kontakt zwischen Gastgebern und Gästen könnte nicht besser sein; der menschliche nicht schlechter. Es läßt sich resümieren, daß die Fremdarbeiter von einem Viel ihrer Gastgeber
– verachtet werden
– für Fehler (Qualitätsschwund, Verschmutzung der Städte, Erhöhung der Sexualdelikte, Teuerung der Waren usw.) verantwortlich gemacht werden, die sie ursächlich nicht begangen haben
– vielfach ausgebeutet werden.
Diese Faktoren sind es jedoch nicht allein, die die Freiheit der Fremdarbeiter einengen, wenn nicht gar aufheben. Die Fremdarbeiter können ihre Arbeitsstellen zumeist nicht frei wählen. Vielfach ist ihnen verboten, den Arbeitsplatz zu wechseln. Ihre Familien dürfen sie in den meisten Fällen nicht in das fremde Land nachholen. Politische Aktivität ist ihnen nicht gestattet. Ganzheitlich besehen, sind die Fremdarbeiter der etwaigen Willkür staatlicher Stellen ausgeliefert. Ein Beispiel unter vielen ist das der beiden griechischen Fremdarbeiter Eleftherios Fragiadakis und Themistokles Dimaridis, die aus Deutschland abgeschoben werden sollten. Der erstere hatte angeblich gegen das deutsche Paßgesetz verstoßen; der letztere soll seine Umgebung mit einer ansteckenden Krankheit gefährdet haben. Beide Behauptungen der Gesetzeshüter erwiesen sich als falsch. Nichtsdestotrotz wurde Fragiadakis mit Gewalt, aber ohne gesetzliche Grundlage von westdeutscher Polizei in ein Flugzeug nach Griechenland gebracht. Schon in Zürich, konnte der Grieche von seinem Rechtsanwalt zurückgeholt werden.
An weniger dramatischen Aktionen läßt sich noch deutlicher aufweisen, wie wenig leicht das Leben der Fremdarbeiter im Ausland ist. So beschreiben Roman Bradmann und Peter Höltschi in einer Enquête, wie feindselig die Frauen der Gastarbeiter von den schweizerischen Hausfrauen in Läden und an Verkaufswagen behandelt werden. Eisiges Schweigen stelle sich ein, wenn ein südländische Käuferin erscheine.
Wen verwundert’s, daß die Fremdarbeiter ihre Gastgeber als kalt, herzlos und gehässig bezeichnen? Die größten Klagen kommen dabei aus Norddeutschland, wo die Fremdarbeiter völlig isoliert und einsam sind. Ihr Leben ist in der Tat — wie Jean Sénard beschreibt —„pitoyable et déraciné“ (erbarmungswürdig und entwurzelt).
Die Tatsache, daß die Gastgeber die von ihnen angeforderten und benötigten Fremdarbeiter meiden und sie obendrein weitgehend schlecht behandeln, hat ihnen den Vorwurf eingetragen, sich als Herrenmenschen zu gebärden. Es lassen sich generell keine Beweise finden, die diese Behauptung unwahr erscheinen ließen.
„Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen das schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich“. Das schrieb Friedrich Engels. Karl Marx nannte das Lumpenproletariat „einen Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu”. Und im Kommunistischen Manifest heißt es vom Lumpenpro1etariat, daß es die „passive Verfaulung der untersten Schichten der Gesellschaft” sei. Die französische Zeitschrift Le Figaro Litteraire mag vor allem an die Bestimmung des Lumpenproletariers als eines Menschen „sans aveu” (ohne Ehrbarkeit) gedacht haben, als sie ihre Serie über die Fremdarbeiter mit dem Schlagwort vom „neuen Lumpenproletariat” ankündigte.
Aber: auch wenn die Fremdarbeiter miserabel untergebracht, vielfach ungenügend verpflegt und oft schlecht gekleidet sind, kann man sie nicht als Lumpemproletarier bezeichnen. Freilich spielen in der Beurteilung geographische Gesichtspunkte eine Rolle. In Frankreich sind die afrikanischen Fremdarbeiter ebenso schlecht gestellt wie die westindischen in Großbritannien. In Belgien geht es den italienischen Grubenarbeitern vergleichsweise nicht so gut wie ihren Landsleuten, die in der schweizerischen Industrie beschäftigt sind. Will man schon eine Gegenüberstellung, so muß man sagen, daß sich die Fremdarbeiter in der Schweiz weitaus am besten stehen. Schon von dem Lebensstandard aus betrachtet, wäre es mithin falsch, die Fremdarbeiter als Lumpenproletarier zu bezeichnen. Die wesentliche Unterscheidung der ausländischen Arbeitskräfte des Jahres 1964 von Marxens Lumpenproletariat ist aber die, daß die Fremdarbeiter gewillt sind, ihrem in der Heimat gegebenen Elend zu entrinnen und sich durch Arbeit und Einsatz aus der nicht selbstverschuldeten Not zu befreien. Dieser Wesenszug der Aktivität ist dem Lumpenproletarier unbekannt.
Daß die Fremdarbeiter eine ökonomische Notwendigkeit darstellen, bezweifelt heute niemand mehr. Vor allem in Deutschland, in der Schweiz und in den Benelux-Staaten wären Hoch-, Tief-, Straßen- und Wohnungsbau ohne die Arbeit der Italiener, Spanier und Griechen undenkbar. Aber auch das Gastgewerbe, die Metall-, Textil- und Maschinenindustrie wäre ohne die Unterstützung der Fremdarbeiter in ihrer Produktion entschieden gehemmt. Ein Beispiel: „Fast die Hälfte aller Angestellten und Arbeiter der Maschinenfabrik Brown Boveri in Baden sind Ausländer. Bündige Antwort der Betriebsleitung auf die Frage, was sie im Falle eines totalen Abzugs der Fremdarbeiter täte: ,Zumachen’”.
Zumachen müßten nicht nur Brown Boveri im schweizerischen Städtchen Baden bei Zürich. Zumachen müßten Baufirmen in Deutschland, Kohlengruben in Belgien, Autofirmen in Frankreich usw. Die Hochkonjunktur hat die Fremdarbeit zu einer ökonomischen Notwendigkeit gemacht. Karl Marx schrieb hierzu vor beinahe hundert Jahren: „Mit der Akkumulation und der sie begleitenden Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst die plötzliche Expansionskraft des Kapitals… Große Menschenmassen müssen.., ohne Abbruch der Produktionsleiter in anderen Sphären auf die entscheidenden Punkte werfbar sein. Die Übervölkerung liefert sie“.
Die Gefahren der Fremdarbeit werden mitgeliefert! So klagt man allenthalben, daß der Arbeitsfriede gestört sei. Die einheimischen Arbeiter und die sie vertretenden Gewerkschaften befürchten, daß die Unternehmer ein Überangebot auf dem Arbeitsmarkt ausnützen könnten und also die Löhne senken würden. Obendrein beschweren sich die einheimischen Arbeiter darüber, daß die Fremdarbeiter-Kollegen sich Positionen und Vorteile verschaffen würden, die von den einheimischen Arbeitern, langen Lohnkämpfen, zähen Tarifverhandlungen und erbarmungslosen Streiks erkämpft worden sind. Die Fremdarbeiter indes hätten sich „ins gemachte Nest gesetzt”. Darüber hinaus stellt sich die. Frage, ob die Fremdarbeiter den gleichen Status einnehmen können und sollen wie die einheimischen Arbeiter.
Die Unternehmer befürchten ihrerseits, daß sie ihre industrielle Planung zu sehr nach einem hochkonjunkturbedingten Spitzenbedarf ausgerichtet haben. Der Staat schließlich sieht die Gefahr der Inflation und Wirtschaftskrise heraufdimmern.
Wohin der Weg von der exportbedingten Hochkonjunktur über de Erweiterung der Industnie und der Bewegung auf dem Arbeitsmarkt bis zur ständig anwachsenden Teuerung führen kann, läßt sich mancherorts bereits erahnen. Der aufmerksame Fremde, der zum Beispiel. von Paris mehr sehen, möchte als die hinlänglich bekannten Attraktionen der Seine-Stadt, wird erleben können, daß aus dem Segen „Fremdarbeit” sehr rasch eine Plage werden kann. Überall dort nämlich, wo sich Menschen unter dem Schild „On embauche ici” versammeln, zeigt sich schon jetzt, wo die Hochkonjunktur hinfiihren kann: zur Arbeitslosigkeit jener Fremdarbeiter, die ins Land geholt worden sind, um Wohlstand und Reichtum zu mehren. Jetzt stehen sie vor verschlossenen Fabriktoren, und keiner mehr kann sie brauchen. Das freilich ist noch lange nicht die Regel. Doch das, was sich täglich etwa in der Rue Balard in Paris abspielt, wo „Citroen” seine Autos baut, könnte sich andernarts wiederholen.

Walter Hollstein

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