Dankrede zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises der Humanistischen Union

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Dankrede zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises der Humanistischen Unionin Freiburg am 16. September 2006.

Über die Zuerkennung dieses Preises freue ich mich wirklich. Es ist ein bedeutender Preis. Er wird von der Humanistischen Union verliehen, die seit ihrer Gründung ein demokratisches Gewissen der Bundesrepublik geworden ist, und er gilt der Erinnerung und dem politischen Erbe Fritz Bauers, einem Mitbegründer der Humanistischen Union. Heribert Prantl hat in seiner Rede zum 100. Geburtstag Bauers den Kampf dieses Mannes um die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, um die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer, für die Anerkennung eines Widerstandsrechtes, für die Humanität der Rechtsordnung eindrucksvoll geschildert und die Frage gestellt, was das noch heute für uns bedeutet.

Diese Frage stellt sich bei jeder Preisverleihung neu. Wenn sie nicht nur eben eine Preisverleihung sein soll, dann muß man sich darüber Rechenschaft ablegen, ob man der Erinnerung an den Namensgeber des Preises gerecht geworden ist und was sie anmahnt.

Ich habe Fritz Bauer nicht persönlich gekannt. Aber er war mir ein Begriff. Er war Landgerichtspräsident in Braunschweig, als ich dort mit Glück und knapper Not aus der Sowjetischen Besatzungszone, der SBZ, wie man damals sagte, ankam. Jahre später war ich Referendar in Marburg, als er zum Generalstaatsanwalt in Frankfurt berufen wurde. Seitdem Fritz Bauer aus seinem skandinavischen Exil nach Deutschland gekommen war, wurde nicht nur das Widerstandsrecht zu seinem Thema, sondern die Frage, ob man ein Volk dazu gewinnen könnte, sich zu seiner Vergangenheit und zu seinem geschichtlichen Versagen zu bekennen und wie man daraus die Bereitschaft seiner Bürger wecken kann, eben deswegen Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Eben diese Frage nach der Verantwortung für die Vergangenheit und für die Zukunft hat auch mich damals umgetrieben – und tut es noch heute.

Jeder von uns kennt die Rede des damaligen Bundespräsidenten v. Weizsäcker im Plenarsaal des Bundestages zum 8. Mai 1945 mit diesem Satz: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“. Er mahnte, die Vergangenheit anzunehmen, wie sie wirklich war. „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Wir erinnern uns an die einhellige uneingeschränkte Zustimmung der damaligen deutschen Öffentlichkeit. Das war 1985. Aber ich erinnere mich auch an die Rede Martin Walsers, ausgerechnet in der Paulskirche, zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998, in der er über diese Erinnerung als von der „Moralkeule Auschwitz“ sprach, von der er sich endlich befreien wollte. Die Elite der deutschen Bildungsbürger erhob sich zu einer stehenden Ovation – mit Ausnahme zweier Zuhörer in der ersten Reihe, Ignaz und Ida Bubis, die an ihre in Auschwitz ermordeten Angehörigen dachten. Natürlich behaupte ich nicht, daß Walser etwa Auschwitz billigen wollte oder daß er ein Antisemit sei. Aber diese Rede hätte auch ein Antisemit halten können.

Ich erinnere mich auch an die haßerfüllten Emotionen gegen die sog. Wehrmachtsausstellung über den geplanten Völkermord im Osten, und an den taktisch klug unterkühlten Widerstand, als ich vergeblich dafür warb, diese Ausstellung im Haus der Geschichte in Bonn zu zeigen. Das gehe schon aus technischen Gründen nicht, wurde mir bedeutet. Außerdem habe man ja auch schon eine Ausstellung über das wechselseitige Schicksal der deutschen und der russischen Kriegsgefangenen gezeigt. Seitdem habe ich dieses Haus nicht mehr betreten und werde es auch in Zukunft meiden.

Im Mai 1945 hat mich die „Gnade der späten Geburt“ nicht beruhigt. Es hat mich beschäftigt, wie wir und die Menschen in unserer Umgebung mit dem zurechtkamen, was wir erlebt hatten. Selbst wir halben Kinder hatten doch gemerkt, daß es hinter dem einst glänzenden und bejubelten Vorhang eine zweite Wirklichkeit gab und geben mußte, auch wenn man sie uns nicht erklärte. Aber sie war da. Man merkte sie aus unbedachten Redewendungen, in blutrünstigen und schwülstigen Liedertexten, im Erlebnis der höhnisch so genannten „Reichskristallnacht“, im Auftauchen der Menschen mit dem gelben Stern und ihrem spurlosen Verschwinden, bei dem sich deren Nachbarn Hausrat und Vermögen unter den Nagel rissen. Offenbar wußten sie, daß die nicht zurückkommen werden. Das vollzog sich in völliger Öffentlichkeit und niemand wurde daran gehindert, es zu sehen und sich dazu Gedanken zu machen, wenn man es denn wollte. Erst nachdem alles vorbei und überlebt war, beteuerte plötzlich jeder, eigentlich dagegen gewesen zu sein. Unsere Lehrer, die das jeden Morgen „Heil Hitler“ gebrüllt hatten, sprachen plötzlich ungeachtet unserer Erlebnisse von „unseren Freunden von der Roten Armee“ und sagten wieder nichts, als allmählich ein System aufgebaut wurde, das zwar nicht in seinem Inhalt, wohl aber in seinen Strukturen genau dem entsprach, dem wir gerade entkommen waren.

Aus den Mitläufern wurden auf den Persilscheinen, der größtem Lügensammlung der deutschen Geschichte, heimliche Widerstandskämpfer. Ich war die vielfältigen Ausreden satt und habe mich in Marburg monatelang in die Bücherei des Amerika-Hauses gesetzt, um die Dokumente und Verhandlungen der Nürnberger Prozesse nachzulesen. Was für ein Kontrast zu dem damals aufkommenden Gerede, Kriegsverbrecher als „Kriegsverurteilte“ zu bezeichnen und den Versuchen, sie zu entschuldigen.

Es ist das bleibende Verdienst Fritz Bauers, im Braunschweiger Remer-Prozeß die Ehre der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 wiederhergestellt und durch den Auschwitz-Prozeß in Frankfurt einen Teil der unerhörten Verbrechen dokumentiert zu haben, die nicht – wie es immer hieß – im deutschen Namen, sondern von Deutschen begangen wurden, und zwar nicht etwa auf eigene Faust, sondern als ein systematischer Teil des Unrechtsstaates, dessen Urteile der Deutsche Bundestag erst 1998 nach langen Diskussionen um die Ermordung Dietrich Bonhöffers jede Rechtswirkung abgesprochen hat.

Damit hatte sich ein anderer Gedanke Fritz Bauers durchgesetzt, daß man nämlich nicht – wie das in den Urteilen der obersten Gerichte der ersten Nachkriegsjahre versucht wurde – unter dem Unrechtsmüll des sog. Dritten Reiches noch Spuren normaler, guter alter Staatlichkeit hervorkramen könnte, sondern daß es ein Unrechtsstaat, eben ein Terror-Regime, gewesen war.

Das war kein glatter Weg. Ich erinnere an die Verjährungsdebatte, an die Diskussion über die Strafbarkeit der sog. Auschwitz – Lüge und an manchen Zweifel, ob man mit den Mitteln des Strafprozesses neben der historischen Verantwortung auch die individuelle Schuld noch richtig messen kann und in welchem Verhältnis dann die tatsächlich erkannten Strafen zu dem gigantischen Umfang der Verbrechen stehen sollten.

Fritz Bauer hat die Dokumentation der Taten und der Verantwortung mit den Mitteln des Strafprozesses erzwungen. Niemand kann dem mehr ausweichen. Aber Schuldbekenntnisse der einzelnen Täter, Mitläufer, Mitwisser, Wegseher, eine wirkliche  Kollektivscham  – wie Theodor Heuß sie anmahnte -, ist ausgeblieben.

Bauer hat 1962 – also noch vor dem Auschwitz – Prozeß – in einem noch heute lesenswerten und beeindruckendem Aufsatz über „Die Schuld im Strafrecht“ die uns beherrschende Vorstellung von der Willensfreiheit des Menschen bestritten und als gedankliche Konstruktion zu dem Zweck bezeichnet, ein Vergeltungs- und Sühnestrafrecht zu verwirklichen, das eigentlich einen autoritären Staat kennzeichne. In Wirklichkeit lasse die Wandlungsfähigkeit menschlicher Überzeugungen und Motivationen, ihre Abhängigkeit von sozialen und kulturellen Gegebenheiten und von Vorbildern nur übrig, allein die Resozialisierung, also die mitmenschliche Hilfe als Sinn des Strafrechts und des Strafvollzugs anzuerkennen. Diese Überzeugung muß ihn im Auschwitz -Prozeß auf eine harte Probe gestellt haben, weil er doch gerade diesen Tätern zutreffend die Ausrede verweigerte, sie hätten nicht anders handeln können oder sie hätten ihre Taten nicht als Unrecht erkannt.

Wo immer man bei Fritz Bauer anknüpft, an die Forderung nach einer humanitären Rechtsordnung, an den Kampf um die Rehabilitierung des Rechts, an die Verpflichtung des Einzelnen Verantwortung zu übernehmen, an die Verpflichtung des Staates, die Würde des Einzelnen zu respektieren, immer bleibt die Frage, ob wir denn selbst in unserer Zeit der Anforderung genügen, diese Grundpositionen zu verteidigen und zu verwirklichen.

Dabei liegt es nahe, sich zuerst der Frage zu stellen, ob wir genug gegen neofaschistische, rassistische und antisemitische Umtriebe unserer Zeit tun, deren Zahl in den letzten Jahren gestiegen ist. Wir tun es nicht. Haben wir uns daran gewöhnt und blenden wir sie als unangenehm aus unserem kollektiven Bewußtsein aus ? Mich hat vor einigen Wochen in Düsseldorf ein Besucher gefragt, er wisse zwar, daß der frühere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, Personenschutz gehabt hatte, aber was ich denn dazu sage, daß nun auch sein Grab ständig geschützt werde ? Es ist schwer, darauf ehrlich zu antworten. Es gibt zu viele Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber, deren Täter nicht ermittelt wurden.

Mich beunruhigt, daß es in Ostdeutschland Bereiche gibt, die wie einen Stadtbezirk von Beirut als „no-go-areas“ bezeichnet werden, die man besser meidet, wenn man Ausländer ist oder jedenfalls so aussieht. Mich beunruhigt, daß die dortigen Haßprediger den Eindruck haben, den tatsächlichen, wenn auch heimlichen Volkswillen zu verwirklichen, den die anderen nur aus political correctness, aus Anpasserei, nicht zu äußern wagen, und daß die örtlichen kommunalen Würdenträger diese Vorgänge verniedlichen oder ängstlich hinnehmen. Natürlich hat das etwas mit der sozialen Situation von Leuten zu tun, die zur Stärkung ihres Selbstgefühls Opfer suchen, denen gegenüber sie mächtig sein und auf denen sie herumtrampeln können. Da entwickelt sich etwas, das ganz unabhängig von den Wahlergebnissen ernsthafter und intensiver Aufmerksamkeit bedarf und das man wegen seiner sozialen Wurzeln und wegen seines Umfanges nicht allein der Polizei oder privaten Bürgerinitiativen zur Erledigung zuschieben kann. Ich werbe seit Jahren dafür, im Bundeshaushalt ein breit angelegtes Hilfsprogramm für kommunale Jugendarbeit insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern zu verankern, an dem sich auch Unternehmen, private Organisationen, Verbände, Vereine, Kommunen Westdeutschlands mit Spenden, Patenschaften, Stipendien, Lehrgängen beteiligen könnten und sollten. Stattdessen gibt es nur eine Reihe kleinerer, sich verzettelnder Maßnahmen und Programme.

Ich vermisse eine überzeugende Bilanz des Bundes und der Länder über ihre bisherigen Bemühungen in dieser Sache.

Die zweite Sorge gilt der Humanität unserer Rechtsordnung und der Verfassungswirklichkeit der Bürgerrechte. Fritz Bauer hat die Verirrungen unserer Zeit nicht mehr erlebt, die den Studentenunruhen und der Störung der gutbürgerlichen Saturiertheit und Selbstsicherheit der westdeutschen bundesrepublikanischen Gesellschaft seit dem Ende der 60er Jahre folgten. Ich meine den Terrorismus der RAF, der heute verharmlosend Deutscher Herbst genannt wird, die Versuche, bestimmte wirtschaftliche Großprojekte mit polizeilichen Mitteln durchzusetzen, die beispiellose innenpolitische Aufrüstung der letzten 25 Jahre durch immer höhere Strafdrohungen und wachsende polizeiliche Eingriffsrechte, den schleichenden Umbau unseres Straf- und Strafverfahrensrechts in ein präventiv – polizeiliches Überwachungsrecht, die wachsenden innerstaatlichen Zuständigkeiten der Nachrichtendienste, den fast völligen Abbau des Asylrechts und des Fernmeldegeheimnisses bis hin zum dreisten Zugriff des Staates auf den Kernbereich privater Lebensbeziehungen – auf das Gespräch unter vier Augen in der eigenen Wohnung – und bis hin zu der Vorstellung, der Staat in der Gestalt des Herrn Verteidigungsministers könne notfalls ein paar hundert Passagiere eines Flugzeugs erschießen lassen, wenn er meint, damit eine Gefahr für andere Menschen abwenden zu können, also nach Erwägungen der Opportunität. Das Leben der Bürger kann doch keine staatliche Verfügungsmasse werden, die seinem Ermessen unterliegt!

Es ist fast erheiternd, daß wir bei der sog. Schleierfahndung – also bei dem Recht der Polizei, jedermann im öffentlichen Verkehrsraum auch ohne Verdacht überprüfen zu können -, bei dem Preußischen Polizeirecht von 1850 angelangt sind, das damals allerdings noch die Ausrufung des Belagerungszustandes voraussetzte. Oder daß wir beim Großen Lauschangriff das Gespräch eines Belauschten mit seiner Mutter oder seiner Ehefrau weniger schützen als sein Gespräch mit dem Steuerberater. Und was heißt: Beobachtung des „Vorfeldes“: Wo beginnt es? Soll es für polizeiliche Tätigkeit schon genügen, wenn sie im Kopf eines Menschen böse Gedanken vermutet?

Wir beginnen, die Maßstäbe zu verlieren. Es war für mich erschreckend, daß Offiziere eines Jagdgeschwaders erklärt haben, sie würden auf Befehl auch ein vollbesetztes entführtes Passagierflugzeug abschießen, Befehl sei Befehl. Man müsse dem System vertrauen und schulde ihm Gehorsam. Würden sie das auch dann sagen, wenn sie die vielleicht hundert, vielleicht zweihundert Männer, Frauen und Kinder nicht mit einem Knopfdruck in ihrem Cockpit, sondern einzeln, einen nach dem anderen, erschießen müßten? Was für ein Kontrast zu dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das die Degradierung eines Offiziers der Bundeswehr aufhob, der sich aus Gewissensgründen geweigert hatte, indirekt an dem Irak-Krieg mitzuwirken, für den er keine völkerrechtliche Grundlage erkennen konnte!

Soll man sich darüber aufregen, wenn der Verteidigungsminister erklärt, er würde ungeachtet des Urteils des Bundesverfassungsgerichts notfalls ein Flugzeug eben abschießen lassen, wenn er also erklärt, einen Mord anordnen zu wollen, nämlich die vorsorgliche Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln, – und der Rest des Kabinetts schweigt dazu? Ja, man muß sich darüber empören, auch darüber, daß er hoffen kann, für seine markige Erklärung Beifall zu erhalten. Der Minister sagt, er würde nach einem solchen Befehl zurücktreten. Ist das alles? Er müßte nicht nur entlassen, sondern vor Gericht gestellt werden, solange die Bundesrepublik ein Rechtsstaat ist.

Nicht alles ist unvertretbar, was ich hier in groben Zügen als innenpolitische Aufrüstung bezeichnet habe. Natürlich muß Kriminalität bekämpft werden und natürlich muß sich die Polizei dabei moderner Mittel bedienen können. Eine ganze Reihe dieser Maßnahmen sind auf eine breite öffentliche Zustimmung einer um ihre Sicherheit besorgten Bevölkerung gestoßen. Aber es ist unverkennbar, daß unter Berufung auf immer neue Feinde des Rechtsstaats, die RAF, die Organisierte Kriminalität, die Drogenmafia, die von Schleusern herbeigeführte Ausländerschwemme, der massenhafte Mißbrauch des Asylrechts, die Terroristen, die Islamisten, die Haßprediger, immer neue staatliche Eingriffs- und Kontrollrechte eingeführt worden sind, die unsere Freiheiten und Bürgerrechte wesentlich eingeschränkt haben, insbesondere, wenn sie sich nicht nur gegen den Täter, sondern gegen Personen richten, die sich rechtmäßig verhalten, aber vorsorglich oder vorbeugend Objekt polizeilicher Maßnahmen werden, weil die Polizei argwöhnt, sie könnten in Zukunft eine Straftat begehen wollen. Da fangen wir an, nicht böse Taten, sondern vermutete böse Gedanken zu verfolgen.

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum hat einmal ein Buch unter dem Titel: „Der Staat auf dem Weg zum Bürger“ veröffentlicht. Ich habe den Eindruck, daß der Staat eher auf der Suche nach Gegnern war, nach immer neuen apokalyptischen Reitern, nach Gefahren, die es im Sinn einer wehrhaften Demokratie abzuwehren gilt. Da wird die Freiheit zu einer Gefahr, vor der man bei der Sicherheit Zuflucht nehmen muß.

Ich wage die These, daß es nicht in erster Linie der tatsächliche Umfang dieser Gefahren ist, der zu einer Aufgabe einst schwer erkämpfter Freiheiten verleitet hat, sondern daß der schleichende Umbau und Abbau unserer Rechtskultur zu einer Gewöhnung führt, sich lieber anscheinend wohlmeinenden Beschützern anzuvertrauen als ein Risiko hinzunehmen. Das Risiko erscheint umso kleiner, als die Polizei ja nur die Bösen jagt, zu denen man selbst eben nicht gehört. Das ist politische Zechprellerei. Man will mehr Sicherheit und ist überzeugt, daß man sie mit der Freiheit des anderen bezahlt. „Ich schulde“, hat der Düsseldorfer Polizeipräsident Hans Lisken dazu einmal formuliert, „meinem Nächsten die Achtung seiner Rechte, aber nicht den Abbau meiner Freiheit zur Erhöhung seiner Sicherheit“.

Wenn man den jährlichen Grundrechte-Report der Humanistischen Union liest, dann merkt man, wie eng das Korsett geworden ist, in das der liberale Geist des Grundgesetzes eingeschnürt worden ist. Nicht nur steigender Wohlstand, sondern auch wachsende soziale Unsicherheit führt zu einem ständig zunehmenden, geradezu unersättlichem Sicherheitsbedürfnis, das man politisch und rechtlich zu begründen versucht. Besonders beliebt war das Zitat aus Wilhelm v. Humboldts Schrift über die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“, daß Freiheit nicht ohne Sicherheit denkbar sei. Es ist das Schicksal der Klassiker, nur zitiert, aber nicht gelesen zu werden. Man muß v. Humboldt lesen. Er war ja nicht so töricht zu behaupten, daß die Freiheit des Einzelnen oder die gesellschaftliche Freiheit mit wachsenden staatlichen Kontroll- und Überwachungsbefugnissen steige. Er hatte den vorrevolutionären Obrigkeitsstaat vor Augen und für ihn war Sicherheit, im sicheren Besitz der Freiheit zu sein. In einem ähnlichen Kurzschluß wie die Humboldt- Interpreten hat Isensee das Recht auf Sicherheit vor staatlicher Willkür ungemünzt in ein allgemeines Recht auf Sicherheit, als sei es ein ungeschriebenes oberstes Grundrecht, das dazu berechtigt, ja geradezu verpflichtet, alle anderen Grundrechte zu relativieren. Das ist eine vorkonstitutionelle Überzeugung, die mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist. Im Fall v. Metzeler – oder sollte ich Daschner sagen – hat es eine auch unter Juristen immer breitere Diskussion darüber gegeben, ob das absolute Verbot der Folter nicht begrenzt werden müsse, natürlich mit richterlicher Erlaubnis und unter ärztlicher Kontrolle, wir sind ja schließlich keine Barbaren. Schließlich sei nicht jede Zufügung von Schmerzen gleich eine Folter. Ein anderer Staatsrechtler empfiehlt, auf Rechtsfeinde nicht mehr das überkommene Strafrecht, sondern ein Feindrecht anzuwenden, so wie man in der Antike mit den Barbaren  umging. Es hätte mich auch gewundert, wenn nicht irgendjemand versuchen würde, Guantanamo juristisch zu rechtfertigen.

Nachdenklicher macht mich Kay Waechter, der zutreffend davor warnt, in jedem polizeilichem Zugriff auf Informationsmittel der modernen Technologie einen verfassungswidrigen Angriff auf das Persönlichkeitsrecht zu sehen, der aber gleichzeitig die Frage stellt, ob es nicht auch einen demokratischen Überwachungsstaat geben könne. Ja, wenn man in ihm noch bestimmen könnte, wer und was außer der Straßenverkehrsordnung sonst noch alles überwacht wird, und wenn man sich auch in einem Staat noch frei fühlen könnte, der den Charme eines blankgeputzten Räderwerks hat, ein Staat, der alles sieht, alles hört, alles weiß und alles ahndet. Früher sagte man von Österreich – die Abschweifung sei mir erlaubt -, es sei zwar eine absolute Monarchie, aber gemäßigt durch eine großzügige Schlamperei. Da hatte man noch ein Bewußtsein dafür, daß Vollkommenheit unerbittlich ist und daß ein Teil des Datenschutzes, also des Persönlichkeitsrechtes, ja gerade darauf beruht, daß wir um der Humanität willen versuchen, der Technik Menschlichkeit beizubringen – Löschungsfristen, weil man vergessen können muß, Zweckbindung, weil niemand außer Gott allwissend sein sollte, Übermittlungsschranken, weil hemmungslose Tratscherei jedes Vertrauen zerstört, Schutz des Kernbereichs privater Lebenssphäre, weil man die Tür hinter sich zumachen und jemandem beichten können muß, auch wenn man nicht katholisch ist.

Es gibt auch liberale Politiker, die von dem Paradigmenwechsel sprechen, daß man sich nicht mehr gegen den Staat schützen müsse, weil wir doch selbst der Staat seien. Das geht nicht ab ohne masochistische Züge. Da wird es hingenommen, wenn die Regierung möglicherweise auch Abgeordnete einer demokratischen Partei vom Verfassungsschutz beobachten läßt – oder jedenfalls erklärt, sie sage nichts darüber, ob sie darüber etwas wisse. Da wird die Abschaffung der Immunität vorgeschlagen, weil man schließlich keine Privilegien habe. Natürlich haben sie welche und sollen sie auch haben, sogar gegenüber der eigenen Fraktionsführung, weil sie die Bevölkerung vertreten, wen denn sonst? Sie sind ein selbständiges Verfassungsorgan. Wer das nicht versteht, hat die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte nicht verstanden. In jedem Staat wird Macht ausgeübt, die mißbraucht werden kann und oft genug mißbraucht wird, ob nun der Staat mit den knallenden Stiefeln offener Macht oder auf den leisen Sohlen des wohlmeinenden Beschützers daherkommt. Die Ausübung von Macht muß immer kontrolliert werden und kontrolliert werden können!

Bisher hat noch jede Diktatur lauthals die Einheit von Staat und Volk verkündet. Aber die Bürger in Leipzig haben nicht gerufen: „Wir sind der Staat“ sondern „Wir sind das Volk“. Selbst in unserer freiheitlichen Demokratie gibt es Entscheidungen, die Bürger, die keine Revolutionäre sind, in Gewissenskonflikte treiben und dazu bringen lieber ihrem Gewissen, als den staatlichen Gesetzen zu folgen. Da mögen die Sitzblockaden von Mutlangen oder von Gorleben umstrittener sein als die Gewährung von Kirchenasyl für Kinder, die mit ihren Eltern abgeschoben werden sollen, obwohl sie vor 10 oder 15 Jahren hier geboren wurden und vorbildlich integriert sind. Wir können diesen Bürgern nicht vorwerfen, daß sie die Humanität der Rechtsordnung einfordern. Darum darf man nicht nur fragen, was ein Staat kann oder können sollte, sondern wo die Grenzen sind, die er wahren muß, wenn er von seinen Bürgern als Rechtsstaat verstanden und darum von ihnen verteidigt werden will. „Man bekämpft“, hieß es einst in einem Aufruf der Humanistischen Union von 1978, dessen Erstunterzeichner der damalige Rechtsanwalt Otto Schily war, „die Feinde des Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung.“ Das ist auch heute noch richtig, auch wenn er es selber nicht mehr glaubt.

Es ist leicht, sich auch mit den Konservativen aller Parteien darüber zu einigen, daß es solche Grenzen staatlicher Macht geben muß. Aber Konservative weichen aus, wenn es um die konkrete Festlegung geht, wo diese Grenzen gezogen werden müssen. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zum sog. Großen Lauschangriff und zum Luftsicherheitsgesetz, aber auch das Urteil zum Niedersächsischen Polizeirecht und Urteile der Verfassungsgerichte von Sachsen und Mecklenburg – Vorpommern markieren solche Grenzen, denen der Gesetzgeber nur widerwillig und zögernd folgt.

Wir leben noch nicht in einem Überwachungsstaat. Aber wir sind zweifellos an einem Punkt angelangt, an dem die Fülle der Einzelmaßnahmen und die Fortsetzung der Eingriffe nicht mehr hingenommen werden darf, weil sie beginnen, unser Rechtsdenken, die Überzeugung von der Unverbrüchlichkeit unserer kulturellen Grundwerte zu vergiften und zu zerstören. Es ist bewunderungswürdig und offenbar notwendig, daß das Bundesverfassungsgericht die erwähnten Entscheidungen auf den Grundwert der Menschenwürde stützt und sie in ihrem Kern auch vor einer verfassungsändernden Mehrheit schützt. Es gilt, um mit den beiden Verfassungsrichterinnen Hohmann-Dennhardt und Jäger zu sprechen, nicht mehr den Anfängen, sondern dem bitteren Ende zu wehren. Es hat mich berührt, welches öffentliche Echo diese Entscheidungen weit über die juristische Fachebene hinaus gehabt haben und daß diese Entscheidungen auch über ihren eigentlichen Anlaß hinaus beginnen, das Recht der inneren Sicherheit zu beeinflussen. Sie verringern nicht die innere Sicherheit, sondern führen sie in ihren eigentlichen Kontext zurück, daß sie nämlich kein Selbstzweck ist, sondern dem inneren Frieden einer Gesellschaft dient, daß sie nicht nur ein Ergebnis polizeilicher Befugnisse ist, sondern darauf gründet, daß der Bürger die Rechtsordnung als gerecht anerkennt und darum bereit ist, sie zu verteidigen und Verantwortung zu übernehmen.

Fritz Bauer war ein Vorbild. Der Kampf um die Humanität des Staates und seiner Rechtsordnung ist nicht beendet. Er wird nie beendet sein. Dazu mahnt auch die Verleihung dieses Preises, für den ich der Humanistischen Union herzlich danke.

Burkhard Hirsch

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