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Demokra­ti­sche Republik oder Exeku­tivstaat

02. März 1978
Datum: Montag, 03. August 2020

Joachim Perels

Thesen zu Bedingungen linker Politik. Aus: vorgänge Nr. 32 (2/1978), S. 9-13

1.

Die Möglichkeit, linke Politik zu betreiben, ist nicht unwesentlich bedingt durch die Entwicklung des demokratischen Verfassungssystems, dessen Normen einen weiten Handlungsspielraum für legale gesellschaftskritische Aktivitäten eröffnen. Die Verfassungsrealität ist gegenwärtig jedoch dadurch gekennzeichnet, daß sich einerseits der Staatsapparat in zentralen Bereichen gegenüber den Schranken und Sicherungen des demokratischen Verfassungsrechts eine eigene, originäre Entscheidungskompetenz anmaßt und daß andererseits gesellschaftliche Privilegienpositionen dem Zugriff des demokratischen Prozesses vorab entzogen werden. Beispiele für diese beiden Entwicklungslinien liegen offen zutage.

Als Professor Peter Brückner suspendiert wurde, begründete das Niedersächsische Wissenschaftsministerium dies damit, daß Brückner eine „feindselige Haltung gegen unseren Staat immer wieder zum Ausdruck gebracht“ habe. Eine derartige Argumentation, die Treue zum Staat „an sich“ postuliert, setzt die rechtsstaatliche Grundforderung, daß der Staat selber nur in den Grenzen des Verfassungsrechts zu fungieren habe, er also an die Grundrechte gebunden ist (Art 1 Abs 3 GG), von der Tagesordnung ab. Dies widerspricht einem durch die liberalen Freiheitsrechte konstituierten Gemeinwesen, das sich von einem autoritären Staat, welcher seine Untertanen einer verbindlichen politischen Doktrin unterwirft, dadurch unterscheidet, daß es den freien Meinungskampf, Kritik und Anti-Kritik garantiert. Entsprechend gilt, daß auch und gerade ein kritikwürdiges Verhalten – wie die von Brückner mitverantwortete Form der Herausgabe des Göttinger Mescalero-Artikels (vgl Vg 29 (5/1977), S 14) – einer Strafsanktion prinzipiell entzogen ist.

Auch an anderen politischen Konflikten des letzten Jahres war die Tendenz zum Exekutivstaat abzulesen: zum Beispiel an der Abhör-Affäre Traube. Als Beamte des Verfassungsschutzes in die Wohnung von Klaus Traube eingedrungen waren, um eine „Wanze“ zu installieren, hat die Bundesregierung dies Vorgehen in verschiedener Weise zu begründen versucht. Zur Legitimation wurde u. a. ein sogenanntes überverfassungsgesetzliches Notstandsrecht bemüht, das dazu berechtige, auch über geschriebene Normen des Verfassungsrechts hinwegzugehen. Die geschriebenen Normen – in diesem Fall der Art 13 des Grundgesetzes, der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert – fallen so einem „originären“ Eingriffsrecht des Staates zum Opfer.

Ein weiteres Beispiel, das den allgemeinen Trend zur Herauslösung des Staates aus den Garantien des demokratischen Verfassungsrechts beleuchtet, ist die Verwendung des § 34 Strafgesetzbuch. Dieser Paragraph, der bestimmt, daß ein geringerwertiges Rechtsgut verletzt werden kann, wenn nur auf diese Weise ein höherwertiges Rechtsgut geschützt werden kann, betrifft einzig die Beziehung der Staatsbürger untereinander. Obwohl sich dieser Paragraph nicht auf Handlungen der Exekutive bezieht, ist er dazu verwandt worden, Eingriffserweiterungen der Exekutive für Interventionen in freiheitliche Rechtspositionen zu legitimieren. Nachdem Hanns-Martin Schleyer entführt worden war, wurden Besuche von Verteidigern bei ihren Mandanten mit der Begründung unterbunden, daß der § 34 StGB ein gewissermaßen zusätzliches Eingriffsrecht für die staatliche Gewalt enthalte, das es erlaube, entgegen einer ausdrücklichen Bestimmung der Strafprozeßordnung, Besuche von Verteidigern bei ihren Mandanten zu unterbinden. Obgleich einzelne Ermittlungsrichter unter Berufung auf diese Bestimmung der Strafprozeßordnung Verteidigern weiter den Zugang zu ihren Mandanten ermöglichen wollten, hat die Exekutive in einigen Fällen durch Anweisungen an die Justizverwaltung verhindert, daß derartige Entscheidungen der Ermittlungsrichter ausgeführt wurden.

In der Auseinandersetzung um die Bekämpfung des Terrorismus sind vonseiten der CDU/CSU und der Gruppen, die die Union publizistisch unterstützen, Vorschläge gemacht worden, die ebenfalls in die Richtung gehen, dem Staatsapparat mehr Möglichkeiten zur Beschneidung individueller Rechtspositionen zu geben. Der bayerische Innenminister Alfred Seidl plädierte dafür, gegenüber dem Terrorismus zu einer schärferen Gangart überzugehen und die Todesstrafe wieder einzuführen; im Grundgesetz sei die Todesstrafe rechtssystemwidrig abgeschafft worden. Es ist eine makabre Angelegenheit, daß die Abschaffung der Todesstrafe als rechtssystemwidrig bezeichnet werden kann; denn die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates hatten 1949 das Schafott verriegelt, weil sie noch sehr genau in Erinnerung hatten, in welcher Weise die Todesstrafe von den Mörderregenten des Dritten Reiches gegen die politische Opposition eingesetzt worden war. Die Anwendung der Todesstrafe gegen unzählige politische Gegner des Dritten Reiches enthüllte, was es bedeutete, wenn dem Staat auch noch die Verfügungsgewalt über das Leben seiner Bewohner überantwortet wird.

In der Diskussion um die Bekämpfung des Terrorismus ist weiter vorgeschlagen worden, den Artikel 18 Grundgesetz zu verändern. Artikel 18 sieht vor, daß diejenigen, die Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbrauchen, durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestimmter Grundrechte verlustig gehen können. Vorgeschlagen wird nun, die Bestimmungsgewalt darüber, wer Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbrauche, der Exekutive zu übertragen. Das bedeutet, daß nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern die Exekutive die Verfügungsgewalt über die wesentlichen Grundrechte in die Hand bekäme. Die jeweilige Regierung könnte die politische Feindbestimmung mit juristischen Sanktionsfolgen vornehmen, wobei dann nur noch nachträglich ein verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gewährt würde. Die Verfechter derartiger Vorschläge scheinen, um die höflichste Interpretation zu wählen, vergessen zu haben, daß die eigentliche Verfassungsurkunde des Dritten Reiches in der Notverordnung zum „Schutz von Volk und Staat“ vom 28.2.1933 bestand, die der nationalsozialistischen Exekutive die Machtmittel zur Vernichtung der Grundrechte in die Hand gab.

Wird die Exekutivgewalt auch nur in Ansätzen von Grundrechtsbindungen abgekoppelt, so werden Instrumente bereitgestellt, mit denen morgen unter sich verschärfenden ökonomischen Krisenbedingungen ganze gesellschaftliche Konfliktfelder durch staatliche Verfügung lahmgelegt werden können; Streiks und andere gewerkschaftliche Aktionen könnten etwa durch den Rückgriff auf ein überverfassungsgesetzliches Notstandsrecht, jenem „Tarnwort für Verfassungsbruch“ (Adolf Arndt), zerschlagen werden.

Der Entwicklung zur verselbständigten Exekutivgewalt korrespondiert die Tendenz, gesellschaftliche Hierarchien zu legal nicht veränderlichen Konstanten zu verwandeln. Auch hierfür mangelt es nicht an Beispielen.

Als „Klassenkampfparole“ hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung gegen die sozialdemokratische Juristin Charlotte Nieß jenen Programmpunkt der Vereinigung Demokratischer Juristen disqualifiziert und als Indiz für fehlende Verfassungstreue gewertet, der nichts anderes enthält als die Forderung nach Demokratisierung des ökonomischen Bereichs. Daß eine derartige Wertung die Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, immerhin die größte Organisation der abhängig Beschäftigten, unterderhand jenseits der Verfassungsordnung ansiedelt, dürfte den bayerischen Richtern nicht einmal bewußt gewesen sein. Sie haben ihre politische Grundeinstellung schlicht unreflektiert in juristische Sanktionsformen übersetzt.

Einem vergleichbaren Argumentationsmuster wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof folgt der Arbeitgeberverband mit seiner Klage gegen das vom Bundestag verabschiedete Mitbestimmungsgesetz. Obgleich dieses Gesetz nicht einmal die Parität zwischen Kapital und Arbeit herstellt, hat es nach Ansicht der Wirtschaft die von der Verfassung gezogene Grenze bereits überschritten. Die Souveränität des im Parlament repräsentierten Volks findet aus diesem Blickwinkel ihre Schranke dort, wo der Kernbereich privater Dispositionsfreiheit über Produktivvermögen beginnt.

Der in diesen und vielen vergleichbaren Fällen zum Ausdruck kommenden Position liegt die fundamentale These zugrunde, daß die Verfassung die privatwirtschaftliche Ordnung zur allein legalen Ordnung mache. Bekanntlich findet diese These in der Entstehungsgeschichte und dem Normgehalt des Grundgesetzes, wie er in Art 20, 28 und Art 15 GG zum Ausdruck kommt, auch nicht die geringste Stütze, sie hat nur den verblüffenden Nebeneffekt, einen großen Teil der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz für den legalen Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft offenhalten wollten, nachträglich ins Lager der Verfassungsfeinde einzuweisen. Die

Absurdität dieses Ergebnisses spricht für sich. Es macht aber überdeutlich, welcher Deformierung die Verfassung unterliegt, wenn sie nicht mehr demokratische Rahmenregelung für die antagonistischen Kräfte ist, sondern zum Kampfinstrument gegen den sozialen und politischen Gegenspieler herabgewürdigt wird (vgl J. Perels, Die Grenzmarken der Verfassung, in: Kritische Justiz 4/77, S 375 ff).

2.

Die wesentliche Ursache für die Herausbildung einer verselbständigten Exekutivgewalt und die Festschreibung sozialer Privilegienpositionen ist, grob gesprochen, darin zu sehen, daß ein Widerspruch zwischen den Funktionserfordernis-sen des gesellschaftlichen Systems und den politischen Gestaltungsfreiheiten der demokratischen Rechtsordnung entstanden ist. Um diese These zu verstehen, muß man sich in einigen Zügen die gegenwärtige politische Kampflage klarmachen. Sie ist wesentlich dadurch bestimmt, daß die problemlose Interpretationsweise in den Kategorien des gesellschaftlichen Status quo infragegestellt ist, weil die Linke in Bereichen der Sozialisation und der kritischen Öffentlichkeit im Gefolge der Protestbewegung bestimmte Änderungen durchzusetzen vermochte. Der Linken ist es gelungen, praktische Fragen des sozialen Lebens – von der Kindererziehung über die Hochschulorganisation bis zur Kernenergie – auf die Konstruktion des gesellschaftlichen Gesamtsystems zurückzubeziehen. Die Interpretationsherrschaft über zentrale gesellschaftliche Probleme liegt nicht mehr ohneweiteres in den Händen des Bürgertums und der es stützenden intellektuellen Schichten. So ist der gesellschaftliche Konflikt nicht zuletzt an der Frage festgemacht, wer die Interpretationsherrschaft, die kulturelle Hegemonie über diese Gesellschaft erwirbt.

Die demokratische Rechtsordnung bietet den Kräften der politischen und gewerkschaftlichen Linken durch Meinungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und andere Freiheitsrechte die Möglichkeit, auf legalem Wege gesellschaftliche Strukturfragen, die gerade auch durch die Krise virulent geworden sind, zu thematisieren. Die politischen Freiheitsrechte ermöglichen, eine Bewältigung der Arbeitslosigkeit, die die Investitionsautonomie der Unternehmer unangetastet läßt, als ein Kurieren an den Symptomen kapitalistischer Produktionsweise zu kennzeichnen; die politischen Freiheitsrechte ermöglichen, die beabsichtigte Verwendungsform der Kernenergie als ein Raubbauverhalten gegenüber Mensch und Natur zu charakterisieren; die politischen Freiheitsrechte ermöglichen, um ein letztes Beispiel zu nennen, autoritäre Formen des Bildungssystems und der in ihm vermittelten Bildungsgehalte kritisch zu überprüfen.

Für die Fortexistenz des gesellschaftlichen Status quo sind die Gestaltungsfreiheiten der demokratischen Rechtsordnung eine potentielle Gefahr, zumal dann, wenn im Gefolge der ökonomischen Krise bei Teilen der Bevölkerung eine kritische perspektivische Analyse der Grenzen kapitalistischer Krisenbewältigung auf offene Ohren stoßen sollte. Kurz: Die Wiederherstellung der kulturellen Hegemonie des Bürgertums stößt paradoxerweise auf die Schranken der alten bürgerlich-demokratischen Legalität. Dies ist imübrigen keine neue Beobachtung. Schon Marx hatte in der Analyse des 18. Brumaire davon gesprochen, daß das Bürgertum diejenigen Freiheitsrechte, die es zunächst als liberale erkämpft und gefeiert hatte, in dem Augenblick denunzierte, als die Kräfte der Arbeiterbewegung jene alten bürgerlichen Freiheitsrechte für sich in Anspruch nahmen.

Eine weitere Ursache für die Auszehrungsprozesse, denen die demokratische Republik unterworfen wird, liegt in den fortwirkenden Traditionen der deutschen Misere. In Deutschland ist, im Unterschied zu den meisten kapitalistischen Ländern des Westens, die demokratische Tradition in der Mehrheit des Bürgertums weitgehend verschüttet. Um es an einem knappen historischen Rückblick deutlich zu machen: 1871 kapituliert das Bürgertum vor dem kaiserlichen Obrigkeitsstaat, 1918 erduldet es die Revolution, 1933 läuft es zur faschistischen Konterrevolution über. Nach 1945 nimmt es demokratische Neuansätze mehr als unvermeidliches Ergebnis der Niederlage des Dritten Reiches hin, um in den 50er Jahren, in der Hochzeit der Restauration, an altbekannte vordemokratische Verhaltensmuster wieder anzuknüpfen: die Organisationsweise von Gesellschaft und Staat wird als eine harmonische Angelegenheit vorgestellt, für die scharfe Interessengegensätze zwischen Klassen, Schichten und Gruppen eigentlich nicht existieren. Das Bürgertum wird irritiert durch die Protestbewegung, die zunächst nichts anderes unternimmt, als die republikanischen Freiheitsrechte und Tugenden einzuklagen. Die Irritation führt schließlich dazu, daß die Entwicklung politischer Öffentlichkeit und Konfliktfähigkeit, die durch die Protestbewegung herbeigeführt worden war, sich einem auf allen Ebenen inganggesetzten Rollback ausgesetzt sieht. Franz Josef Strauß hat in diesem Zusammenhang die Formel geprägt, daß es darauf ankäme, der „konflikttheoretischen Verseuchung“ entgegenzutreten.

Um das Bild nicht zu einer schlichten Totale werden zu lassen, sei nicht vergessen, daß es in Deutschland seit Generationen Minderheitsgruppen innerhalb des Bürgertums gibt, die an die demokratische Tradition etwa der 48er Revolution anknüpfen, und die das, was im Ernst bürgerliche Demokratie heißt, durchaus selber praktizieren. In der Bundesrepublik stand für diese Richtung des Bürgertums ein Mann wie Gustav Heinemann, der in seiner Zeit als Bundespräsident versucht hat, die freiheitlichen Gegentendenzen der deutschen Geschichte systematisch ins Bewußtsein zurückzurufen. Auch der jetzige Bundespräsident hat – wenn auch sonst keineswegs so gradlinig wie Heinemann – in seiner Rede zur Beerdigung von Hanns-Martin Schleyer doch an diese von Heinemann formulierte Position angeknüpft. Walter Scheel hat in Stuttgart nicht nur den Begriff des Sympathisanten des Terrorismus einer unterscheidenden Kritik unterzogen, sondern er hat hinzu-gefügt, es sei ein schicksalhafter Irrtum, Kritik, das Lebenselexier der Demokratie, mit dem Leichengift des Terrorismus zu verwechseln.

 

3.

Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit des Bürgertums repräsentiert in Deutschland die Arbeiterbewegung fast uneingeschränkt die demokratische Tradition. Seit ihrer Entstehung ist für die Arbeiterbewegung der Kampf um politische Freiheitsrechte, um Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Meinungsfreiheit konstitutiv. Sind die politischen Freiheitsrechte aufgehoben, so ist die Aktionsfähigkeit der Arbeiterbewegung im Kern getroffen, während die bestimmenden Gruppen des deutschen Bürgertums gezeigt haben, daß sie auch ohne diese Freiheitsrechte auskommen können. War die ökonomische Klassenherrschaft auf andere Weise nicht zu sichern, so wurden die liberalen Grundrechtspositionen preisgegeben: Unter Mithilfe der bürgerlichen Nationalliberalen wird 1878 die Sozialdemokratische Partei verboten, weil sie die „Eintracht der Gesellschaftsklassen“ störte; 1933 schieben das Bürgertum und seine Parteien den Faschismus mit an die Macht, er siegt unter der bezeichnenden, die Demokratiefeindschaft zusammenfassenden Kampfparole: „Gegen Liberalismus und Marxismus!“. Allein diese Beispiele zeigen, daß die demokratische Ordnung in gesellschaftlichen Krisensituationen nur so stark ist, wie die Arbeiterbewegung und mit ihr verbündete liberaldemokratische Gruppen dazu in der Lage sind, für sie zu kämpfen.

Aber auch die Arbeiterbewegung verkörpert nicht in unbefleckter Reinheit den Kampf für die Demokratie. In ihr gibt es zwei typische Fehlhaltungen im Blick auf die Verteidigung der demokratischen Republik: einen passivischen Legalismus, der sich der Zerstörung der demokratischen Legalität kampflos beugt, und einen ultralinken Anti-Legalismus, der die demokratische Republik nicht von autoritären oder faschistischen Systemen unterscheiden kann.

Nimmt man die strukturellen und historischen Bedingungen für die Erosionsprozesse unseres Verfassungssystems in den Blick, so gilt: Der gegenwärtige politische Kampf der demokratischen Linken kann nur dann sinnvoll geführt werden, wenn er von einer breiten Bündnisfront, von der kritischen Öffentlichkeit, Teilen der Gewerkschaftsbewegung, oppositionellen Gruppen in der SPD und der FDP getragen ist. In der Bestimmung der Aktionsschritte haben aktuelle Tagesziele Vor-rang. Wer sie unmittelbar mit dem Fernziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft verkoppelt, propagiert nur einen frommen Wunsch, dem gegenwärtig keine relevanten gesellschaftlichen Kräfte Realität einhauchen können. Eine derartige falsche Ineinssetzung von Nahziel und Fernziel blockiert beide. Sie treibt die Linke in die Selbstisolierung und schiebt gleichzeitig das Fern-ziel in die Richtung des Sankt-Nimmerleinstags. Das aktuelle Tagesziel ist die Erhaltung und Wiederherstellung der demokratischen Republik.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: der Kampf um die demokratische Republik, auch und gerade im Bündnis mit bürgerlichen Demokraten, ist keine taktische, sondern eine prinzipielle Aufgabe, weil der Sozialismus als ein Gemeinwesen unverkürzter sozialer und politischer Selbstbestimmung die Existenz der demokratischen Republik voraussetzt. Ohne die Erhaltung und Erweiterung der politischen Freiheitsrechte besitzt der Sozialismus keine emanzipatorische Substanz; am Geltungsgrad der politischen Freiheitsrechte, daran, ob die unmittelbaren Produzenten sich tatsächlich selbst regieren, entscheidet sich am Ende, ob der Sozialismus einer ist.

Welche Bedeutung der Kampf um die demokratische Republik hat, kann von einem der scharfsinnigsten juristischen Kontrahenten des Sozialismus gelernt werden: von Carl Schmitt. Als dieser die faschistische Diktatur verfassungstheoretisch auf den Begriff brachte, schrieb er den Satz: „Die ,Links`parteien“ haben – Schmitt bezog sich hierbei schon auf das Bismarck-Reich – die „Lögik des bürgerlichen Verfassungsstaates auf ihrer Seite“. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn in dem Kampf um die demokratische Verfassung zugleich der Kampf um die Propagierung und, in weiterer Perspektive, der Durchsetzung gesellschaftlicher Strukturänderungen geführt wird.

Kategorie: vorgänge: Artikel

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