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Über eine emanzi­pa­to­ri­sche Dimension des Rechts

01. Dezember 1982
Datum: Montag, 03. August 2020

Joachim Perels

Aus: vorgänge Heft 5/6 1982 S. 56-64

Für die herrschenden Gruppen der Bundesrepublik spielt der Begriff des Rechts eine zwiespältige Rolle. Da sie Recht in bestimmtem Maße als Instrument zur Sicherung gegebener Machtverteilungen ansehen, sind sie genötigt, die emanzipatorische Seite des Rechts, die in den Menschen- und Bürgerrechten einzigartig ausgeformt ist, in ihrem Geltungsanspruch zu beschneiden oder gar auszublenden.

Es ist kein Zufall, daß hellsichtige Konservative gegenüber den Menschen- und Bürgerrechten grundsätzliche Vorbehalte äußern. Gerhard Ritter spricht in einer gewichtigen Abhandlung über „Ursprung und Wesen der Menschenrechte” von der „Gefahr der Anarchie der radikalen Freiheitspredigt“[1]. Und Peter Graf Kielmannsegg stellt die These auf, daß es in den westlichen Demokratien immer schwieriger werde, die Politik der Regierenden auf Zustimmung, also auf die Geltung der Staatsbürgerrechte, zu gründen [2]. In der Tat: Weil die Grundrechte ein Bollwerk gegen eine autoritäre Bestimmungsmacht des Staatsapparats errichten und so den Individuen die freie Gestaltung ihrer Angelegenheiten ermöglichen, wohnt ihnen eine subversive Kraft gegenüber dem Bestehenden inne. Daher haben die Oberschichten ein Interesse daran, Widersprüche zwischen realer juristischer Staatspraxis und der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte nicht ins öffentliche Bewußtsein treten zu lassen. Um so wichtiger ist es, sich diese Widersprüche nicht durch herrschaftskonforme Umdeutungen von einzelnen Trägern der Exekutive, der Judikative und entsprechender Richtungen der Rechtswissenschaft aus dem Kopf schlagen zu lassen.

1. Subjektive Freiheitsrechte contra legitimistische Ordnung

Um den mit der Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte vollzogenen Bruch in seinem emanzipatorischen Stellenwert zu erkennen, ist eine historische Erinnerung fällig, durch die der Gegensatz zu den wachsenden gegenaufklärerischen Formen der gegenwärtigen Rechtspraxis umso heller ans Licht tritt. Die klassischen Urkunden für die schrittweise Erkämpfung der subjektiven Freiheitsrechte kann man nur verstehen, wenn man sich den Kern der Machtbeziehungen vergegenwärtigt, gegen die sie sich richten.

Diese Machtbeziehungen wurden in die Formel gefaßt: „Der König ist in dieser Welt ohne Gesetz, er kann nach seinem Gutdünken Recht oder Unrecht tun und soll Rechenschaft nur Gott ablegen“[3]. Eine auf derartige Prinzipien gegründete Rechtsordnung konstituiert sich, in den Worten von Kant, durch „despotische gegebene … Zwangsgesetze“[4]. „Eine Regierung”, sagt Kant, „die auf das Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre …, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind …: ist der größte denkbare Despotismus“[5].

Wenn man die Magna Charta von 1215, die Petition of Rights von 1627, die Habeas Corpus Akte von 1679, die Bill of Rights von 1689, die Verginia Bill of Rights von 1776 und die Verfassung der Französischen Revolution von 1791 studiert, fällt auf, daß sie sich bei aller Verschiedenheit durch einen gemeinsamen Grundzug auszeichnen, der den qualitativen historischen Fortschritt gegenüber den vorgegebenen Herrschaftsverhältnissen markiert: Die unbeschränkte Machtsphäre der öffentlichen Gewalt wird durch die Proklamierung des Prinzips der grundsätzlichen Schranken des Staates begrenzt, ja am Ende aufgehoben. Die Individuen werden aus Objekten zu Subjekten der Rechtsordnung, während die Staatsgewalt in den Status des Objekts versetzt wird, die die subjektiven Rechtspositionen, auch und gerade wenn sie ihren politischen Interessen widersprechen, zu respektieren hat. Für die alte legitimistische Ordnung sind diese Rechtspositionen dysfunktional.

Ob in der Magna Charta bestimmt wird: „Kein freier Mann soll ergriffen, gefangengelegt, geächtet oder auf andere Weise zugrundegerichtet werden … außer durch rechtmäßiges Urteil”, ob es in der Petition of Rights heißt, daß die Untertanen „nicht gezwungen werden können zu irgendeiner Auflage … beizutragen, die nicht durch allgemeine Zustimmung festgesetzt worden ist”, ob sich die Habeas Corpus Akte dagegen richtet, daß „Untertanen in Fällen, die durch Gesetz bürgschaftsfähig sind, zu ihrer großen Last und Bedrückung im Gefängnis gehalten… werden”, ob die Bill of Rights festlegt, daß die „angemaßte Macht, durch königliche Autorität Gesetze oder die Ausführung von Gesetzen aufzuheben… ungesetzlich ist”, ob die Verginia Bill of Rights statuiert, daß „die Beamten nur seine (des Volkes) Bevollmächtigte und Diener und ihm jederzeit verantwortlich sind” oder ob in der französischen Revolutionsverfassung garantiert wird, daß, „was nicht durch Gesetz verboten ist, nicht verhindert werden kann” – diese rechtlichen Verbürgungen durchbrechen die durch die Staatsgewalt monopolisierte Bestimmung über gesellschaftliche Lebensbereiche und sichern Formen privater und kollektiver Selbsttätigkeit. Sie fungieren als Interventionsverbote für die öffentliche Gewalt und binden in einem zweiten, in der bürgerlichen Revolution vollzogenen Schritt die Eingriffe in die gesellschaftliche Sphäre an die Zustimmung der Betroffenen. Ihrem Prinzip nach richten sich die Menschen-und Bürgerrechte gegen die kleine durch erbliche Privilegien definierte Herrenschicht, um die allgemeinen Angelegenheiten den Gliedern der Gesellschaft zu übertragen.

Diese Funktion der Grundrechte wird an zwei für das revolutionäre bürgerliche Verfassungsrecht konstitutiven Begriffen sichtbar. Die Formstruktur der Menschen- und Bürgerrechte ist, vor aller ins einzelne gehenden inhaltlichen Ausgestaltung als persönliche Freiheitsrechte, als politische Freiheitsrechte und als positive Staatsbürgerrechte, durch das Prinzip der Gleichheit und der Herrschaft des Gesetzes bestimmt. Diese Formstruktur zeichnet sich dadurch aus, daß sie den überkommenen hierarchisch-autoritären Typus des Rechts aufhebt.

Hatte die absolutistische Rechtsordnung eine Privilegienstruktur, indem sie die Rechte je nach Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand abstufte und damit bereits in der Rechtsform die Unverbrüchlichkeit der hierarchischen Ordnungszusammenhänge festschrieb, so wurde in dem Satz von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen – „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten” (Art.1 der Französischen Verfassung von 1791) – die normative Trennung von Unten und Oben negiert. Rechtlich kann sich keiner über den anderen erheben. So prekär dieses Prinzip rechtlicher Gleichheit auch gewesen ist, weil es in der bürgerlichen Revolution weder vollständig ausgeführt wurde = Frauen, Kindern, Gesinde, überhaupt Abhängigen wurde nicht einmal die positive rechtliche Gleichheit gewährt -, noch etwas an den ungleichen sozialen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der rechtlichen Gleichheit änderte, so hat es eine unverrückbar emanzipatorische Dimension, weil es die juristische Fixierung hierarchischer Herrschaftsbeziehungen an der Wurzel trifft.

Notwendiges Korrelat rechtlicher Gleichheit ist das allgemeine Gesetz, das für jedermann, unabhängig von seiner staatlichen und gesellschaftlichen Stellung, gilt. Das Gesetz hat nach seiner positiven die Menschen- und Bürgerrechte sichernden Seite die Funktion, einen Bereich der Nicht-Intervention für die öffentliche Gewalt unübersehbar zu markieren. Staatliche Interventionen in die Gesellschaft werden umgrenz- und berechenbar. Was nicht durch Gesetz verboten ist, bleibt erlaubt. Die Herrschaft des Gesetzes fällt so mit der Garantie gesellschaftlicher Freiheit zusammen[6], weil die öffentliche Gewalt außerhalb des Gesetzes keinerlei Macht besitzen soll, auf die Glieder der Gesellschaft einzuwirken. Damit ist aber – der ldee nach – für alle Individuen ein Bereich freier politischer, sozialer und kultureller Betätigung eröffnet. Die notwendige innere Verbindung von rechtlicher Gleichheit und der Herrschaft des Gesetzes hat Abbe Sieyes in einer kurz vor der Französischen Revolution veröffentlichten Schrift „Versuch über die Privilegien” präzise bestimmt: „Was das Gesetz nicht verbietet …, zählt zur bürgerlichen Freiheit und gehört jedermann … Es hieße allen um eines Einzelnen Willen Unrecht zu tun, würde man jemanden ein Sonderrecht … zubilligen …“[7].

II. Funktionalistische Umformung des Rechts – die neue Form legitimistischer Ordnung

Im Kontrast zu den ursprünglichen Postulaten des revolutionären bürgerlichen Naturrechts treten anti-emanzipatorische Formveränderungen in der Rechtspraxis der Bundesrepublik scharf hervor. Was die gegenwärtige Entwicklung in zentralen Konfliktbereichen charakterisiert, ist die – gewiß noch nicht vollendete – Tendenz, die Basisstrukturen des emanzipatorischen Rechtsbegriffs in ihr Gegenteil zu verwandeln. Diese Tendenz, die Ulrich K. Preuß bisher am eingehendsten analysiert hat[8], setzt sich mittels eines funktionalistischen Begriffsinstrumentariums durch, das nach dem Zergehen legitimistischer Ordnungskonzepte deren Rolle in modernem Gewand übernimmt. Was in den absolutistischen Systemen die gewissermaßen naturhaft gegebene Herrschaft des Apparats der öffentlichen Gewalt über die Gesellschaft war, das wird gegenwärtig in der juristischen Sanktionierung der Funktionsformen staatlicher und gesellschaftlicher Hierarchien vollzogen: Die Rechte der Menschen als Glieder des demokratischen Gemeinwesens werden unter den Vorbehalt dieser Funktionsformen gestellt.

Die funktionalistische Geltungsbegrenzung der grundrechtlichen Freiheiten geschieht in zweifacher Weise. Auf der einen Seite werden die Schranken gegenüber der grundrechtlich gesicherten persönlichen und politischen Freiheitssphäre gelockert und damit die Eingriffskompetenzen der öffentlichen Gewalt erweitert, während auf der anderen Seite gesellschaftliche Herrschaftspositionen juristisch befestigt und derart gegen Veränderungen abgeschottet werden, die durch die Ausübung demokratischer Staatsbürgerrechte bzw. durch den Gleichheitssatz legitimiert sind.

Die Logik dieser Interpretation führt zu einer qualitativen Umformung des Rechts, die dem entspricht, was Otto Kirchheimer in der Endphase der Weimarer Republik die „Wendung vom Verfassungsrecht zur technischen Herrschaftslehre“[9] nannte. Die scharfkantigen Garantien rechtlicher Gleichheit und die damit zusammenhängende präzise Trennung von Legalität und Illegalität geraten ins Schwimmen.

An sechs zentralen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen, die allesamt zum Gegenstand verfassungsrichterlicher Entscheidungen gemacht wurden, zeigt sich die Formveränderung der bestimmenden Rechtsbegriffe. Für die Reproduktion der verschiedenen Zweige des Staatsapparats, für den Beamtenapparat, für die Armee und die Strafverfolgungsinstitutionen hat das Bundesverfassungsgericht eine Argumentation entwickelt, die in bestimmten Konfliktfällen das am Status quo orientierte Funktionieren dieser Institutionen über die prinzipielle Geltung der demokratischen Gleichheitsnormen stellt.

Wer Zutritt in den öffentlichen Dienst begehrt, muß mit den vorgegebenen Funktionsformen des Beamtenapparats harmonieren, gegenüber denen das politische Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG und die Garantie der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG rechtlich nicht zu Buche schlagen[10]. Bestimmte Menschen können, außerhalb der verfassungsrechtlich allein möglichen Verfahren nach Art. 18 GG (Verwirkung von Grundrechten) und Art. 21 Abs. 2 GG (Parteiverbot), wegen ihrer politischen Anschauungen benachteiligt werden, also der rechtlichen Gleichheit verlustig gehen.

Wer sich als Kriegsdienstverweigerer auf sein Gewissen beruft, wird mit der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr konfrontiert, die, transformiert ins Prinzip der Wehrgerechtigkeit, dazu führt, daß der Kriegsdienstverweigerer gezwungen wird, im Gegensatz zum konformierenden Gewissen des Wehrdienstleistenden sein abweichendes Gewissen staatlicher Überprüfung auszusetzen[11]. Auch in diesem Falle werden diejenigen, die das Recht der Gewissensfreiheit in Anspruch nehmen, genau hierfür diskriminiert. Wiederum bleibt die rechtliche Gleichheit auf der Strecke.

Wer die strafprozessualen Verfahrensgarantien, welche die staatliche Sanktionsgewalt zugunsten der Rechtspositionen des Beschuldigten begrenzen, in Anspruch nimmt, wird mit der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege konfrontiert, welche diese Garantien unter einen generellen Vorbehalt stellt[12]. Das Ergebnis ist, daß die Berufung auf die rechtlich gleichen Verfahrensrechte denjenigen verwehrt werden kann, denen eine gegenüber den Strafverfolgungszwecken illoyale Gesinnung unterstellt wird, die rechtlich irrelevant sein müßte.

Wie die öffentliche Gewalt in bestimmten Bereichen Benachteiligungen juristisch sanktioniert und damit auf den hierarchischen Rechtstypus des Absolutismus zurückgreift, so werden auf der anderen Seite gesellschaftliche Rangverhältnisse in Familie, Betrieb und Universität ebenfalls gegen die Geltungsansprüche rechtlicher Gleichheit abgeschottet.

Trotz der ausdrücklich in Art. 3 Abs. 2 GG festgelegten Bestimmung -„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – wird in bestimmten Fällen eine rechtliche Ungleichbehandlung von Mann und Frau aufgrund sogenannter funktionaler Unterschiede, die sich aus der Arbeitsteilung von Mann und Frau ergäben, sanktioniert[13].

Die durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 geregelte erweiterte Mitbestimmung der Arbeiter in den Unternehmen wird zwar grundsätzlich für verfassungsmäßig erklärt, jedoch ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, daß ein nicht funktionsgerechter Gebrauch der Mitbestimmungsrechte, der die gegebene Unternehmenslogik beeinträchtige, trotz seiner rechtlichen Zulässigkeit gegen die Verfassung verstoße[14]. Die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte der Studenten, Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter, wie sie im Niedersächsischen Vorschaltgesetz von 1971 vorgesehen war, findet ihre Schranke an der Professorenhierachie, die mit der Funktionsfähigkeit der Universität gleichgesetzt wird [15]. Die Durchsetzung größerer rechtlicher Gleichheit in der Universität ist so durch den absoluten Vorrang ständischer Gruppenprivilegien blockiert.

Sobald die Geltung rechtlicher Gleichheit beschnitten wird, gerät die freiheitssichernde Funktion der Legalität in Gefahr. Wenn nicht alle in gleicher Weise an die verfassungsrechtlichen Verbürgungen und die allgemeinen Gesetze gebunden sind, sondern danach differenziert wird, ob die Individuen, die sich im Rahmen des Normensystems bewegen, sich positiv oder negativ zu den gerade gegebenen gesellschaftlichen und politischen Funktionsformen verhalten, dann verschwimmt die Trennschärfe von Legalität und Illegalität. Die Legalität ist nicht mehr an dem äußeren normativen Tatbestand, sondern an dem funktionsgerechten Gebrauch gesetzlicher Freiheit orientiert. Damit aber erweitert sich das gerade durch die Herrschaft des Gesetzes seiner Intention nach zurückgedrängte staatliche Sanktions- und Interventionspotential ins prinzipiell Unbegrenzte. Mit Hilfe der Supernorm der Funktionsfähigkeit, welche dem Status quo eine außerlegale Prämie auf den Machtbesitz zuschlägt, kann das gesamte Geflecht der Grundrechte ohne Ausnahmezustand unter Vorbehalt gestellt werden[16].

Wenn die Rechtskategorie in der Weise funktionalistisch verändert wird, daß sie nicht mehr durch festumrissene Tatbestände konstituiert wird, sondern der gesellschaftlichen und politischen Opportunität von Lagen folgt, können Gefährdungen individueller und kollektiver Rechtspositionen schwerlich in den Blick treten. Denn zwischen den Erfordernissen der gegebenen Ordnung und den Eingriffen in subjektive Freiheitsrechte kann es in der funktionalistischen Logik keinen grundsätzlichen Widerspruch geben.

Es liegt in der Konsequenz der funktionalistischen Umkehrung der Rechtskategorie, daß gerade abweichendes Verhalten, das sich im Rahmen der demokratischen Legalität bewegt, aber unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung bestehender Machtverhältnisse relevant wird, als bedrohlich angesehen und systematisch überwacht wird. Von staatlichen Sicherheitsbehörden wurden, um einige Beispiele zu nennen, folgende Verhaltensweisen registriert: Der Besitz bestimmter Zeitschriften („Chile-Nachrichten“, „Demokratie und Recht”, „konkret”, „Kursbuch”, „links”, „Probleme des Klassenkampfes” usw), die Teilnahme an Demonstrationen, eingestellte Strafverfahren, die Mitarbeit an der „Tageszeitung”, in einem Frauenzentrum, in der pazifistischen gewaltfreien Aktion, das Verteilen von Informationsblättern des DGB-Bundesvorstands über die gesetzlich vorgeschriebenen Jugendvertreterwahlen usw[17].

Die Informationsmacht staatlicher Behörden nimmt gesetzlich nicht legitimierte juristische Sanktionswirkungen an, wenn Erkenntnisse, bei denen die Unterscheidung von legalem und illegalem Verhalten zugunsten des Prinzips möglicher Herrschaftsgefährdung aufgehoben ist, bei der Einstellung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst verwendet werden. Der Kreis schließt sich, denn mittlerweile wird die Heranziehung derartiger Erkenntnisse durch die obergerichtliche Rechtsprechung zur Radikalenfrage dadurch abgesichert, daß den Einstellungsbehörden ein weiter Spielraum für die Beurteilung der Eignung der Bewerber zugemessen wird[18]. Der Beurteilungsspielraum kann als Einfallstor für die herrschaftstechnische Betrachtungsweise der Sicherheitsbehörden dienen, gegenüber der die für den Zugang zum öffentlichen Dienst einschlägigen Normen des Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 2 und 3 GG, welche die Legalität politisch und weltanschaulich divergierenden Verhaltens garantieren, zur Seite treten.

III. Perspektiven emanzipatorischen Rechts

Die Aushöhlung der Grundrechte durch staatliche und gesellschaftliche Funktionsimperative macht die Frage nach der Möglichkeit, Gegenpositionen zu formieren, dringend. Abgesehen davon, daß es kurzschlüssig wäre, für die Geltung emanzipatorischen Rechts nur dann einzutreten, wenn die Chance besteht, es auch aktuell durchzusetzen, ist der Versuch, ebenso systematisch wie fallbezogen für die unverbrüchliche Geltung subjektiver Rechtspositionen Partei zu ergreifen, nicht einfach vergeblich.

Herrschaftstechnisches Recht ist auf stummen Vollzug angewiesen. Weil es über subjektive Freiheitsrechte hinweggeht, muß es das Licht öffentlicher Kritik scheuen. Dieser strukturelle Legitimationsmangel kann produktiv gewendet werden, indem die Differenz von emanzipatorischem Recht und seiner funktionalistischen Verkehrung offengelegt und daraus ein Druckmittel für die Einwirkung auf die staatliche Rechtspraxis geschmiedet wird. Die hierfür mobilisierbare publizistische und wissenschaftliche Öffentlichkeit, die vor allem vom „Spiegel”, von der „Zeit” vom „Stern”, von „Demokratie und Recht” und von der „Kritischen Justiz” repräsentiert wird, schließt auch Gruppen von allmählich stärker werdenden, in der ÖTV organisierten Richtern und Staatsanwälten ein, die in der Justiz, vor allem in den Untergerichten, ein gewisses Gewicht besitzen[18a].

Das Eintreten für subjektive Rechtspositionen geschieht unter der allgemeinen Voraussetzung, daß die Prozesse herrschaftstechnischen Rechtsvollzugs bei allem gegenwärtig gegebenen objektiven Übergewicht keiner naturhaften Notwendigkeit entspringen, sondern geschichtlicher Formveränderung zugänglich sind. Dies bedarf näherer Erläuterung, um die Richtpunkte einer emanzipatorischen Dimension des Rechts zu bezeichnen, ohne die auch die aktuellen Auseinandersetzungen um die Grundrechte keinen wirklichen Halt haben.

Ernst Bloch hat in seinem Buch „Naturrecht und menschliche Würde” eine für die Perspektive des Kampfes um eine freie Gesellschaft zentrale Unterscheidung getroffen. Belehrt durch den Stalinismus differenziert Bloch zwischen den Sozialutopien und dem revolutionären bürgerlichen Naturrecht, das bisher kaum zu den Vorläufern des Sozialismus gerechnet wurde. Während die Sozialutopien die Aufhebung sozialer Not intendieren, zielt das Naturrecht der Aufklärung auf die Aufhebung politischer Fremdbestimmung: „Die Sozialutopie malt Verhältnisse aus, in denen die Mühseligen und Beladenen aufhören, das Naturrecht konstruiert Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören“[19]. Diese Unterscheidung Blochs hat den strategischen Sinn, den Blick dafür zu schärfen, daß auch in einer Gesellschaft, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln und damit eine Bedingung ökonomischer Not abgeschafft ist, die Gefahr eines politischen Despotismus auf der Basis des öffentlichen Eigentums an den Produktionsmitteln besteht. Dieser Gefahr kann nur begegnet werden, wenn das bürgerlich revolutionäre Naturrecht nicht einfach negiert, sondern unter sozialistischen Bedingungen bewahrt wird. Eine selbstverwaltete, freie Gesellschaft bedarf emanzipatorischer Rechtsgarantien – persönliche Freiheitsrechte und politische Kommunikationsrechte – als Bedingungen für die ungeschmälerte Teilnahme aller am Prozeß der Konstituierung des gemeinen Willens.

Bislang ist Sozialismus, angefangen bei Marx und Engels, zumeist als eine Gesellschaftsformation begriffen worden, welche die antagonistischen Beziehungen der Individuen, die durch die Klassentrennung bedingt sind, durch die Vergesellschaftung des produktiven Eigentums in ein tendenziell widerspruchfreies Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem verwandelt[20]. In einem derartigen Gemeinwesen haben selbst emanzipatorische Rechtsgarantien, die ja Formen gesellschaftlicher Konfliktkanalisierung und -regelung sind, keine Funktion, weil die Notwendigkeit gesellschaftlicher Konfliktregelung gar nicht existiert.

Mit dieser Vorstellung einer freien Gesellschaft wird jedoch die Verwirklichung des Sozialismus auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Auch in einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel nicht mehr von den Produzenten getrennt sind, wird von Konflikten um das Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion usw, von individuellem und gesellschaftlichem Konsum durchzogen sein. Die Änderung der gesellschaftlichen Basisbedingungen löst diese Konflikte keineswegs einfürallemal. Sie müssen vielmehr in einem kontroversen gesellschaftlichen Diskussions-, Erkenntnis- und Entscheidungsprozeß bewältigt werden. Hierfür bleiben zentrale Entscheidungsinstanzen erforderlich, die zwar von einer verselbständigten Staatsmaschine verschieden sind, die sich aber gleichwohl nicht auf die bloße quantitative Zusammenfassung einzelner Interessen und Bedürfnisse beschränken können.

Nimmt man diese beiden Punkte zusammen, so zeigt sich, daß emanzipatorische Rechtsgarantien – persönliche Freiheitsrechte und politische Kommunikationsrechte – wesentlich zwei Funktionen haben: Sie sollen verhindern, daß die zwingend notwendigen zentralen Leitungsinstanzen sich verselbständigen und sich originäre Entscheidungsbefugnisse anmaßen; sie sollen zum zweiten den Rahmen dafür schaffen, daß die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten auch tatsächlich artikuliert werden können. So gesehen sind emanzipatorische Rechtsgarantien gerade nicht in den engen bürgerlichen Rechtshorizont gebannt, den Marx als unvermeidliches Formprinzip der Rechtskategorie überhaupt angesehen hat, weil jedes Recht ein Recht der Ungleichheit sei, das von den konkreten Lebensbedingungen der Menschen abstrahiere[21]. Freilich bezieht sich Marx‘ Verdikt an der konkreten Stelle allein auf das Problem der Festsetzung rechtlich gleicher Entlohnungsbedingungen unter sozialistischen Verhältnissen. Die Rolle und das Problem persönlicher und politischer Freiheitsrechte in einer gesellschaftlichen Demokratie steht an dieser vielfach überinterpretierten Stelle überhaupt nicht zur Diskussion. Weit entfernt, gesellschaftliche Ungleichheit auszukreisen, ermöglichen persönliche und politische Freiheitsrechte, da sie auf der Basis genossenschaftlicher Verfügung über den Produktionsprozeß in Funktion treten, daß der Prozeß gesellschaftlicher Aneignung überhaupt beginnen kann. Kurz: Sozialismus ist ohne persönliche und politische Freiheitsrechte weder logisch noch historisch möglich.

[1] G. Ritter, Ursprung und Wesen der Menschenrechte (194 ), in: R. Schnur (Hg), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S 221.

[2] P. Graf Kielmansegg, Demokratieprinzip und Regierbarkeit, in: W. Hennis ua (Hg), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd 1, Stuttgart 1977, S 118ff.

[3] W. Tyndale, Obedience of a Christian Man, in: Doctrinal Treatises b. W. Tyndale, hg v H. Walter, Cambridge 1843, S 178, zit nach F. Neumann, Typen des Naturrechts (1940), in: F. Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, hg v A. Söllner, Frankfurt 1978, S 243.

[4] I. Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: Werke Bd XI, ed Weischedel, Frankfurt 1964, S 235.

[5] I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, ebd, S 145f.

[6] Vgl F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes (1936), Frankfurt 1980.

[7] A. Sieyes, Versuch über die Privilegien (1789), in: ders, Politische Schriften 1788-1790, Neuwied 1975, S 94.

[8] U.K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts, Frankfurt 1979, insb S 165ff.

[9] O. Kirchheimer, Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts (1932), in: ders, Funktionen des Staates und der Verfassung, Frankfurt 1972, S 45.

[10] BVerfGE 39, S 334ff (S 368, S 367).

[11] BVerfGE 48, S 127ff (S 166-169). zur Kritik. s das Sondervotum von Hirsch, ebd, S 186ff.

[12] BVerfGE 39, S 156ff (S 163), 41, S 246ff (S 250) s hierzu E. Riehle, Funktionstüchtige Strafrechtspflege contra strafprozessuale Garantien, Kritische Justiz H 3/1980, S 316ff.

[13] BVerfGE 3,S 225ff (S 242). Zwar geht die Intention dieser Entscheidung in eine andere, die normative Kraft des Gleichberechtigungsgrundsatzes schützende Richtung. Das ändert aber nichts an der problematischen Struktur des zitierten Arguments. Zur Kritik s auch U. Gerhard-Teuscher, Über gegenwärtige und historische Erfahrungen der Frauen mit Recht. Vorüberlegungen einer Rechtstheorie auch für Frauen, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 14, Frankfurt 1981, S 160.

[14] BVerfGE 50, S 290ff (S 334f, S 352), s hierzu U. Mückenberger, Mitbestimmung und „Funküonsfähigkeit” der Unternehmen, in: W. Däubler ua (Hg), Verfassungsgericht und Politik, Reinbek 1979, S 49ff sowie U.Berlit/H.Dreier/H.Uthmann, Mitbestimmung unter Vorbehalt? Kritische Justiz H 2/1979, S 173ff.

[15] BVerfGE 35, S 79ff (S 129f, S 1421) zur Kritik s das Sondervotum von Dr Simon und Rupp-v. Brünneck, ebd, S 148ff, insb S 150.

[16] Vgl hierzu U.K. Preuß, Die Aufrüstung der Normalität, Kursbuch 56 (Juni 1979), Berlin 1979, S 15ff.

[17] J. Bölsche, Der Weg in den Überwachungsstaat, Reinbek 1979, S 163ff, S 73, S 46, S 30. Bei Beachtung der grundrechtlich geschützten Freiheitssphären käme den Sicherheitsbehörden die Überwachung derartiger Tätigkeiten überhaupt nicht zu. „Wer… eine Änderung der Gesellschaft, eine Reform politischer Einrichtungen … mit legalen Mitteln auf gewaltlosem Wege … anstrebt”, konstatiert H.P. Schneider zurecht, „kann niemals die ,freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ in Gefahr bringen und hat daher von vornherein als Beobachtungsziel des Verfassungsschutzes auszuscheiden.” H.P. Schneider, Der Verfassungsschutz – Grundordnungshüter, Sicherheitsdienst oder Geheimpolizei? in: W.D. Narr (Hg), Wir Bürger als Sicherheitsrisiko, Reinbek 1977, S 115.

[18] Th. Blanke, Die Radikalisierung der Radikalenverfolgung, Kritische Justiz H 1/1982, S 95ff m.w. Nachw.

[18a] Vgl. H.-E. Böttcher, Zum Selbstverständnis gewerkschaftlich organisierter Richtet und Staatsanwälte, Kritische Justiz H 2/1981, S 172ff.

[19] E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1961, S 13.

[20] Vgl, auch zum folgenden, J. Perels, Meinungsfreiheit als Element des Sozialismus, Frankfurter Hefte 7/1979, S 13ff.

[21] K. Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), in: ders, Politische Schriften Bd 2, hg v H.-J. Lieber, Stuttgart 1960, 5 1024.

Kategorie: vorgänge: Artikel

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