Ein Jurist mit Rückgrat
Datum: | Montag, 03. August 2020 |
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Richard Schmid zum 85. Geburtstag
aus: Vorgänge Nr. 69 (Heft 3/ 1984), S.5-10
Joachim Perels
Richard Schmid zum 85. Geburtstag
Die Justiz hat ein doppeltes Gesicht. Sie kann als bloßes Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Macht wirken, sie kann aber auch Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Garantien gegen die jeweiligen Oberen und ihre Interessen schützen. In unserem Land, in dem sich, wie es bei Brecht heißt, »ein einzig dastehender Gehorsam« ausbildete, waren die Träger der Justiz überwiegend autoritär geprägt: im wilhelminischen Staat, in der Weimarer Republik, erst recht unterm Nationalsozialismus, aber zum nicht geringen Teil auch in der Bundesrepublik. Den meisten Justizjuristen war die frische Luft demokratischer ldeen fremd, gefährlich, zuzeiten verhaßt.
Eine der großen Gegenfiguren zur staatsfrommen Tradition deutscher Justiz ist Richard Schmid, geboren 1899. Anders als die meisten seiner Kollegen, die über den karrierefördernden Königsweg staatlicher Ämter in ihre Stellungen gelangten, erfuhr Richard Schmid die Justiz zunächst aus der umgekehrten Perspektive. Er war Anwalt, als Angeklagter, Verurteilterund Strafgefangener schließlich Opfer der Justiz.
Aber auch seine politische Einstellung machte ihn zu einem Außenseiter in seiner Juristengeneration. In der Weimarer Republik sympathisierte er mit der Sozialdemokratie, trat für die Demokratie ein. im Gegensatz zum Justizcorps, das fast ausnahmslos dem Obrigkeitsstaat verhaftet blieb.
Mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur ging Schmid sogleich in Opposition zum System staatlicher Willkür: wiederum im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der
Justizelite, die sich teils überzeugt, teils gefügig in den Dienst des neuen Regimes stellte. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verteidigte Schmid 1934 führende Köpfe der in die Illegalität gedrängten Sozialistischen Arbeiterpartei, einer von der SPD abgespaltenen Linksgruppierung, zu der beispielsweise der junge Willy Brandt gehörte.
Politisch beeinflußt wurde Schmid während der nationalsozialistischen Herrschaft durch jene kleinen Organisationen der Arbeiterbewegung, die in kritischer und intellektuell meist überlegener Auseinandersetzung mit der SPD oder der KPD – besonders im Blick auf deren Versagen angesichts der siegreichen faschistischen Gegenrevolution – entstanden waren. Auf Auslandsreisen nahm Schmid Mitte der 30er Jahre Kontakt zur Exilführung der Sozialistischen Arbeiterpartei auf, aber auch zur Leitung der an Rosa Luxemburg orientierten Kommunistischen Partei-Opposition. 1935 gründete. Schmid im Auftrag der Sozialistischen Arbeiterpartei eine illegale Gruppe in Stuttgart.
Während Schmid die nationalsozialistische Diktatur praktisch bekämpfte, stiegen viele seiner Kollegen in der Justizhierarchie des NS-Staates auf. So avancierte auch der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, zum Reichgerichtsrat – eine Differenz zur politischen Biographie Schmids, die in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb. 1938 wurde Schmid verhaftet und 1940 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafhaft arbeitete er in der Landwirtschaft; nur durch Zufall entging er der Einweisung ins Konzentrationslager, weil die Gestapo-Leitung in Stuttgart neu besetzt worden war.
Dank der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus konnte Schmid wieder eine juristische Tätigkeit ausüben. Er wurde 1945 Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, von 1953 bis 1964 war er Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart.
Die Blickrichtung der Sozialistischen Arbeiterpartei blieb bei Schmid, der 1945 in die SPD eintrat, in gewisser Beziehung erhalten. Weder genügte seinen Zielen einfach die alte Sozialdemokratie noch gar die stalinisierte KPD. Seine Hoffnungen drückte er in einem am 30. Dezember 1946 geschriebenen Brief an einen jüdischen Kampfgefährten der Sozialistischen Arbeiterpartei aus, der ins amerikanische Exil hatte entkommen können:
»Zwischen den Leuten, die sich tagtäglich mehrmals gen Osten verneigen, und denjenigen, die die SPD als eine Posten- und Stellenvermittlung betrachten und reine Ministerialisten geworden sind, bildet sich allmählich eine qualitativ und quantitativ nicht unbeträchtliche Schicht heraus.«
Die Idee des Sozialismus, von der Schmid sich leiten läßt, steht nicht im Gegensatz zum Gedanken individueller Freiheit, wie er einst in der bürgerlichen Revolutionsbewegung gegen den Absolutismus durchgesetzt worden war. In dem schon zitierten Brief grenzt Schmid, gleichsam programmatisch, einen authentischen Sozialismus von dessen autorität verzerrter Gestalt ab:
»Die Gespräche zwischen Genossen und Nicht-Genossen (laufen) alle auf die Polarität zwischen der politischen Natur der Sowjet-Union und dem Begriff der persönlichen Freiheit hin-aus, welch letzteren wir Deutsche nach den Erfahrungen des Dritten Reiches ganz besonders gut zu definieren verstehen. Ihre Lösung kann jene Polarität meiner Meinung nach nur im Sozialismus finden…«
Schmids Hoffnungen gehen, da die alten gesellschaftlichen Mächte im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarken, freilich nicht in Erfüllung. Die politische Bewegung, die die NS-Diktatur durch eine sozialistische Demokratie von Grund auf überwinden wollte, wird besiegt. Angesichts der Restauration überkommener Strukturen, besonders im Staatsapparat, bezieht Schmid die Position eines entschieden demokratischen Justizkritikers. Wohl der bedeutendste seines Faches bleibt er jener nicht-konforme Jurist, der sich dem meist konservativen Milieu der juristischen Zunft wider-setzt.
In seinen Arbeiten verfolgt Schmid hauptsächlich drei Stränge: Er setzt sich mit der.vielfach tabuierten oder apologetisch verzerrten Rolle der Justiz im Dritten Reich auseinander. Er verteidigt die Unverbrüchlichkeit rechtsstaatlicher Garantien, die der Allgewalt des Staates, zum Schutz der Menschen, Fesseln anlegen; ausgeführt hat er dies besonders in seinen vielfältigen Beiträgen zum Thema Meinungsfreiheit. Schließlich tritt er – seiner sozialistischen Idee entsprechend – für den Abbau der sozialen Abhängigkeit der unteren Schichten ein. Anders als viele seiner juristischen Kollegen, für die die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat im Mittelpunkt stehen, macht Schmid die Demokratie zum Ausgangs-und Endpunkt seines Denkens.
Schmid unterwirft die diskussionsscheue Justiz dem Forum demokratischer Öffentlichkeit. Nur so kann die Justiz ihre autoritäre Abkapselung von der lebendigen liberalen Verfassung verlieren und dem heilsamen Zwang ausgesetzt werden, sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen.
Die Texte Schmids leben von der Auseinandersetzung, greifen ein, nehmen Partei. Er adressiert sie weniger an das juristische Fachpublikum, gegen dessen Einsichtfähigkeit und wissenschaftliche Hermetik; welche die politischen Absichten oft unsichtbar macht, er ein tiefes Mißtrauen hegt. Schmid publiziert seine Arbeiten hauptsächlich in der »Zeit«, in der »Frankfurter Rundschau«, in der »Neuen Rundschau«, in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«, im »Merkur«, in den »Vorgängen« und der »Kritischen Justiz« – offenkundig in der Absicht, grundsätzlich jedermann zu erreichen.
Dem entspricht die Diktion von Schmids Arbeiten. Ihre Sprache ist urban, dem Leser zugewandt, oftmals von aphoristischer Schärfe. Er ist ein Aufklärer, der zum Mitdenken, zum Gebrauch der Vernunft anleitet, ohne daß er Gefühle, abstrakt rationalistisch, ausschließt. Er unterscheidet zwischen humanen Gefühlen von Empörung und Mitleid und destruktiven von Haß und Aggression, die fürs Denken blind machen. Für Phrasen, sozusagen die wohlklingende Form der Lüge, ist er empfindlich. Er nimmt sie beim Wort – und ihre Leere, dienstbar der puren Macht, wird deutlich.
Beispielhaft führt Schmid dies in einer Polemik mit dem einstigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Professor Hans Carl Nipperdey, vor. Nipperdey hatte davon gesprochen, daß die »in der Presse sich äußernde öffentliche Meinung« dann »nicht mehr im Rahmen der Verfassung« bliebe, »wenn sie über eine sachliche und willkommene Kritik hinausgehen und versuchen würde (…), die Rechtsprechung zu beeinflussen …« In einem Kabinett-stück präziser Kritik nimmt Schmid diese Bemerkung auseinander:
»Eine Kritik hat also ‚willkommen‘ zu sein, und sie ist es nur, wenn sie nicht versucht, die Rechtsprechung zu beeinflussen; während doch der schlichte Verstand meint, daß der Zweck der Kritik gerade darin liegt, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Der Standpunkt des Herrn Professor Nipperdey läuft darauf hinaus, die Rechtsprechung aus dem demokratischen Meinungskampf, dem zuliebe uns der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit gegeben ist, auszuschließen und für diesen Ausschluß… die Verfassung in Anspruch zu nehmen.«
Wiewohl gebildet, in der politischen Geschichte, in der Rechtsgeschichte bewandert, sattelfest auf zivilrechtlichem, strafrechtlichen, arbeits- und verfassungsrechtlichen Gebiet, breitet Schmid seine Kenntnisse nicht im Faltenwurf der Selbstdarstellung aus. Er benutzt sie als Argument. Nicht eigentlich theoretisch geht er vor, sondern nimmt erfahrbare Rechtsprobleme ins Visier. Glosse, Kommentar, Essay, sind die Formen seiner Darstellung, wenn er sich mit illegalem Telefonabhören, unkontrollierbaren Zeugen vom Hörensagen, der Einschränkung der Kunstfreiheit, der Beschneidung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder der Tödesstrafe auseinandersetzt. Schmid überläßt sich nicht einer Selbstbewegung des Begriffs, weil in ihr das leidende Individuum leicht aus dem Blick verschwindet. Um die Not und die Unmündigkeit der Einzelnen, der Gruppen und Schichten wahrzunehmen – im doppelten Sinne des Wortes -, geht Schmid den umgekehrten, induktiven Weg.
In der Entfesselung der schrankenlosen Staatsgewalt durch die Justiz – besonders im NS-Staat – erblickt Schmid das Gegenbild zur Aufgabe der Justiz in der Demokratie. Daher mißt er der Aufarbeitung der antidemokratischen Rolle der Weimarer Justiz und der des Dritten Reiches besondere Bedeutung zu.
An der Diskriminierung und Verfolgung der Juden und der Kommunisten, um einen Bereich herauszugreifen, an dem Schmid die Mißachtung des Rechts demokratischer Gleichheit demonstriert, nahm die Justiz einst aktiven Anteil. Sie gab schließlich die Schutzfunktion objektiver Tatbestände zugunsten eines prinzipiell unbegrenzten staatlichen Verfolgungsinteresses preis. Schmid zeigt dies eindrücklich an konkreten Fällen.
Das Reichsgericht sprach 1924 mehrere Angeklagte, die ein Lied mit dem Vers »Pfui Judenrepublik« gesungen hatten, mit der Begründung frei, der Vers richte sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Republik, womit, wie Schmid bemerkt, »Antisemitismus als Alibi« diente. Seine antisemitische Linie setzte das Reichsgericht im Dritten Reich fort, indem es – überbietend gehorsam – die Rassegesetze gegen die Juden noch weiter auslegte, als dies der nationalsozialistische Gesetzgeber verlangte.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte 1932 den Beschluß der Preußischen Staatsregierung, Beamten die politische Betätigung in der NSDAP und in der KPD zu verbieten, für die NSDAP aufgehoben, aber für die KPD bestätigt. Dieser rechtsgerichteten politischen Haltung konnte die Justiz nach 1933 um so konsequenter folgen. Am Beispiel des führenden, u.a. von Reichsgerichtsräten verfaßten Strafrechtskommentars veranschaulicht Schmid, wie die rechtsstaatlichen Schranken gegenüber Kommunisten vollständig niedergerissen werden. In einem Exzeß des staatlichen Zugriffs auf das Innere der Menschen konnte nach diesem Kommentar sogar derjenige wegen Vorbereitung zum Hochverrat bestraft werden, der, wie es wörtlich hieß, »seine kommunistische Gesinnung und damit seine Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in Aufzeichnungen niederlegt und sich auf diese Weise in seiner kommunistischen Einstellung bestärkt«.
Die verbreitete Behauptung, die Justiz sei durchgehend ein unschuldiges Opfer der NS-Clique geworden, widerlegt Schmid an Hand vieler Beispiele aktiver Willfährigkeit, die besonders das Reichsgericht kennzeichnete. Anders sieht es Hermann Weinkauff, jener schon erwähnte frühere Reichsgerichtsrat und spätere Präsident des Bundesgerichtshofs. In der Beurteilung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium- Schlegelberger, bringt Weinkauff seine grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Juristen im Dritten Reich zum Ausdruck. Schlegelberger, der die berüchtigte Polen-Strafrechtsverordnung von 1941 zu verantworten hat, habe Hitlers Wünsche nicht erfüllt, »um sich persönlich in seiner Stellung zu halten«; es habe bei ihm »der Gedanke eine Rolle gespielt, noch viel furchtbarere Zustände für das Recht und die Justiz« abzuwenden. Schmid kommentiert: »Der Zustand für das Recht hätte nicht furchtbarer sein können… Daß Schlegelberger, wie Weinkauff sagt, ‚in einer furchtbaren Zwangslage war‘, stimmt nicht. Was hätte ihn gehindert, um seine Entlassung zu bitten? Allerdings wäre ihm dann vielleicht die schließlich von Hitler zugewendete Sonderdotation entgangen.«
Eingehend untersucht Schmid die Ursachen für die vielfache Hörigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime. Er sieht sie pointiert darin, »daß das Personal der deutschen Justiz, seiner Geschichte, seiner Konstitution und Moral, seinem herkömmlichen Verhältnis zur Macht nach, zum Widerstand gegen eine Staatsmacht . des Unrechts und der Gewalttat unfähig war.«
Mit dem Ende der NS-Diktatur verschwand freilich nicht die auf dem rechten Auge blinde Grundhaltung der Justiz ein für alle Mal. Daß der Justizapparat des Dritten Reiches weitgehend ins politische System der Bundesrepublik übernommen wurde, hinterließ in der Rechtsprechung tiefe Spuren. Im Fall Kantorowicz macht Schmid dies deutlich. Alfred Kantorowicz, Jude, Schriftsteller, seit 1931 Mitglied der KPD, Generalsekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil, nach 1945 Leiter der schließlich von der SED verbotenen Zeitschrift »Ost und West«, Herausgeber der Werke von Heinrich Mann, Professor für Literaturwissenschaft in Ost-Berlin, floh 1957 in die Bundesrepublik. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber verweigerte Kantorowicz die Anerkennung als Flüchtling. Bei Kantorowicz, »Altkommunist, Spanienkämpfer und SED-Mitglied«, wie das Gericht sich aus-drückt, liege kein schwerer Gewissenskonflikt im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vor; er müsse die Folgen seines früheren Verhaltens auf sich nehmen. Bitter bemerkt Schmid dazu: »Kantorowicz hat sich in dem Berlin von 1931 – Hitler war vor den Toren – nicht so entschieden; wie es ein bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1964 für richtig hielt. Er hätte offen-bar noch eine Weile zuwarten sollen, ehe er in eine Partei eintrat, am besten bis zum 1. Mai 1933, an dem das Gros der beamteten deutschen Juristen in die NSDAP eintrat.«
Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Diktatur des. Dritten Reiches, in der die Vergötzung des Staates ihre letzte, grauenvolle Konsequenz zeitigte, suchte Schmid Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Einzelnen mit Hilfe politischer Freiheitsrechte und rechtsstaatlicher Garantien strikte Grenzen zu setzen. Der Bereich privater und gesellschaftlicher Kommunikation muß prinzipiell entstaatlicht sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein demokratisches Gemeinwesen entfalten und selbst regieren.
Folgerichtig bildet die Meinungsfreiheit einen Schwerpunkt von Schmids Arbeiten. Sie ist das wichtigste Grundrecht der Demokratie, das die Differenz zu einem autoritären Regime deutlich markiert. In der Bundesrepublik ist die Meinungsfreiheit bis heute besonders gefährdet. »Wir neigen dazu«, schreibt Schmid, »auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu trauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben und herbeizurufen.« Dagegen setzt Schmid leitmotivisch wiederkehrend bürgerlich aufklärerisches Rechtsdenken, das im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten beispielgebend entwickelt wurde. Schmidt zitiert die amerikanischen Richter Holmes und Brandeis: »Das Gute wird eher erreicht durch den freien Austausch der ldeen… Wir sollten ständig wachsam sein gegen Versuche, die Äußerungen solcher Meinungen zu verhindern, die wir selber verabscheuen…« »Die freie Rede bietet in der Regel genügend Schutz gegen die Ausbreitung schädlicher Lehren.«
Schmids Eintreten für die Meinungsfreiheit hat in der Bundesrepublik Rechtsgeschichte gemacht. Durch eine Verfassungsbeschwerde erreicht Schmid Anfang der 60er Jahre, daß die Geltung der Meinungsfreiheit gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Gerichte, die das Recht zur Gegenpolemik durch den Beleidigungs- paragraphen des Strafgesetzbuchs von vornherein beschnitten, ausgeweitet wird.
Nachdem Schmid vom »Spiegel« im Jahre 1954 kommunistischer Sympathien geziehen, und da er für den politischen Streik eintrat, als Verteidiger des Rechtsbruchs abgestempelt wurde, wehrte er sich in einer harten Gegenattacke: Der »Spiegel« repräsentiere eine »Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral… Es ist die sogenannte Reizliteratur… Dabei ist die Höhe des Absatzes der maßgebende Gesichtspunkt.« Wegen dieser Sätze wird Schmid in zweiter Instanz vom Landgericht Göttingen zu 150 Mark Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft wegen Beleidigung verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht aber – es ist für Schmid, hauptsächlich in der Ära Adenauer, ein liberaler Leuchtturm inmitten der oftmals restaurativen Justiz – hebt diese Entscheidung wegen Verletzung der Meinungsfreiheit auf. Die scharfe Äußerung von Schmid sei ein legitimer »Gegenschlag gegen eine unzutreffende Information der Öffentlichkeit«. Angestoßen durch Schmid interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit als Garantie des Meinungskampfes, bei der keine Seite bevorzugt werden darf. Erst »Rede und Gegenrede« schaffen – so das Bundesverfassungsgericht – die Grundlage für die Bildung der öffentlichen Meinung.
Mit seinem Engagement für die Meinungsfreiheit tritt Schmid für das Recht von Minderheiten ein: Der Sinn der Meinungsfreiheit, schreibt Schmid, liegt »zum großen Teil im Schutz des Einzelgängers, der Minderheit, des Schwächeren gegen die Mehrheit, gegen die Macht und die orthodoxe Meinung.«
Schmid begnügt sich aber nicht damit – das übersehen gerade seine liberalen Freunde – allein eine radikal-liberale Position zu vertreten. Er erweitert sie durch den egalitären Gedanken. Solange nämlich gesellschaftliche Ungleichheit existiert, ist die rechtliche Freiheit für viele eine leere Versprechung, weil sie von ihr auf Grund ihrer sozialen Lage nicht Gebrauch machen können; so ist – beispielsweise – die Pressefreiheit real zumeist nicht die Freiheit von jedermann, sondern, nach einem bekannten, zugespitzten Wort von Paul Sethe, die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Um den Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit und den gesellschaftlichen Schranken ihrer Verwirklichung zu überwinden, sucht , Schmid die Ideen der Freiheit und der Gleichheit miteinander zu verbinden.
Zu diesem Zweck setzt er sich mit der Gegenthese, Freiheit und Gleichheit ließen sich keinesfalls auf einen Nenner bringen, eingehend auseinander. Der Ansicht, die gerade gegenwärtig wieder Konjunktur hat, mehr Gleichheit bedrohe die Freiheit, hält Schmid entgegen, daß dies gerade für die politischen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen, die allen in gleicher Weise zustehen, nicht zutreffe:
»… Die eigentliche politische demokratische Freiheit der Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens, … die allgemeine persönliche Entfaltungsfreiheit, … die einzelnen liberalen Freiheiten wie etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, … die Abwehrrechte gegen Staatseingriffe, beispielsweise gegen die Person oder gegen die Wohnung oder das Postgeheimnis« – diese Rechte werden nicht etwa dadurch »beeinträchtigt«, daß sie für jedermann, für alle gleich gelten. Im Gegenteil.
Zwischen Freiheit und Gleichheit tut sich erst ein Gegensatz auf, wenn Freiheit mit dem Recht auf unbeschränktes Sondereigentum gleichgesetzt wird. Dann ist jeder Versuch, dieses Recht zugunsten sozial Abhängiger zu begrenzen, ein Eingriff in die »Freiheit« privile gierter Verfügungsmacht, vornehmlich der Vertragsfreiheit. Schmid argumentiert:
»Noch für Bismarck und seine Zeit (stand) dem Verbot der Kinderarbeit die Vertragsfreiheit entgegen und lange Zeit später gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit, der Frauenarbeit…«
Weil diese Regelungen die Freiheit der ökonomisch Mächtigen beeinträchtigten, wurden sie nicht zugelassen. Derartige Eingriffe in die private Bestimmungsmacht der Wirtschaft sind aber für Schmid die Voraussetzung dafür, daß sich ein Stück realer Freiheit aller, besonders der abhängig Arbeitenden, herzustellen beginnt. Insoweit hat das Recht, dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes entsprechend, eine kompensatorische Rolle zugunsten der gesellschaftlich Schwachen zu spielen.
In diesen Rahmen fügen sich Schmids von der herrschenden Meinung der juristischen Zunft abweichende Ansichten zur Aussperrung und zum Streikrecht. Die Aussperrung hält Schmid für eine unzulässige Privilegierung der Unternehmer, weil damit das Streikrecht als Abwehrrecht gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen leerlaufen kann. Den politischen Streik betrachtet Schmid als ein legales, letztes Mittel, um demokratisch nicht legitimierte Einflußnahmen der Wirtschaft auf die Entscheidungen staatlicher Organe durch ein gewerkschaftliches Gegengewicht auszugleichen. Auch hier vertritt Schmid die Idee gesellschaftlicher Gleichheit. Er stellt in seinem Leben wie in seinem Denken unter Beweis, daß die Freiheit von staatlicher Vormundschaft und die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Individuen zusammengehören. In Teilen der jüngeren Richtergeneration wird seine Position der Verknüpfung von liberaler und egalitärer Gedankenwelt zunehmend wirksam – ein hoffnungsvolles Zeichen.
Wichtige Arbeiten Richard Schmids sind in den Sammelbänden »Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten« (Stuttgart 1965, Goverts Verlag) und »Das Unbehagen an der Justiz« (München 1975, Beck Verlag) enthalten; empfehlenswert sind auch seine Bücher »Justiz in der Bundesrepublik« (Pfullingen 1967, Neske Verlag) und »Unser aller Grundgesetz« (Frankfurt 1971, S. Fischer Verlag).
Joachim Perels
Ein Jurist mit Rückgrat
Richard Schmid zum 85. Geburtstag
Die Justiz hat ein doppeltes Gesicht. Sie kann als bloßes Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Macht wirken, sie kann aber auch Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Garantien gegen die jeweiligen Oberen und ihre Interessen schützen. In unserem Land, in dem sich, wie es bei Brecht heißt, »ein einzig dastehender Gehorsam« ausbildete, waren die Träger der Justiz überwiegend autoritär geprägt: im wilhelminischen Staat, in der Weimarer Republik, erst recht unterm Nationalsozialismus, aber zum nicht geringen Teil auch in der Bundesrepublik. Den meisten Justizjuristen war die frische Luft demokratischer ldeen fremd, gefährlich, zuzeiten verhaßt.
Eine der großen Gegenfiguren zur staatsfrommen Tradition deutscher Justiz ist Richard Schmid, geboren 1899. Anders als die meisten seiner Kollegen, die über den karrierefördernden Königsweg staatlicher Ämter in ihre Stellungen gelangten, erfuhr Richard Schmid die Justiz zunächst aus der umgekehrten Perspektive. Er war Anwalt, als Angeklagter, Verurteilterund Strafgefangener schließlich Opfer der Justiz.
Aber auch seine politische Einstellung machte ihn zu einem Außenseiter in seiner Juristengeneration. In der Weimarer Republik sympathisierte er mit der Sozialdemokratie, trat für die Demokratie ein. im Gegensatz zum Justizcorps, das fast ausnahmslos dem Obrigkeitsstaat verhaftet blieb.
Mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur ging Schmid sogleich in Opposition zum System staatlicher Willkür: wiederum im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der
Justizelite, die sich teils überzeugt, teils gefügig in den Dienst des neuen Regimes stellte. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verteidigte Schmid 1934 führende Köpfe der in die Illegalität gedrängten Sozialistischen Arbeiterpartei, einer von der SPD abgespaltenen Linksgruppierung, zu der beispielsweise der junge Willy Brandt gehörte.
Politisch beeinflußt wurde Schmid während der nationalsozialistischen Herrschaft durch jene kleinen Organisationen der Arbeiterbewegung, die in kritischer und intellektuell meist überlegener Auseinandersetzung mit der SPD oder der KPD – besonders im Blick auf deren Versagen angesichts der siegreichen faschistischen Gegenrevolution – entstanden waren. Auf Auslandsreisen nahm Schmid Mitte der 30er Jahre Kontakt zur Exilführung der Sozialistischen Arbeiterpartei auf, aber auch zur Leitung der an Rosa Luxemburg orientierten Kommunistischen Partei-Opposition. 1935 gründete. Schmid im Auftrag der Sozialistischen Arbeiterpartei eine illegale Gruppe in Stuttgart.
Während Schmid die nationalsozialistische Diktatur praktisch bekämpfte, stiegen viele seiner Kollegen in der Justizhierarchie des NS-Staates auf. So avancierte auch der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, zum Reichgerichtsrat – eine Differenz zur politischen Biographie Schmids, die in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb. 1938 wurde Schmid verhaftet und 1940 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafhaft arbeitete er in der Landwirtschaft; nur durch Zufall entging er der Einweisung ins Konzentrationslager, weil die Gestapo-Leitung in Stuttgart neu besetzt worden war.
Dank der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus konnte Schmid wieder eine juristische Tätigkeit ausüben. Er wurde 1945 Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, von 1953 bis 1964 war er Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart.
Die Blickrichtung der Sozialistischen Arbeiterpartei blieb bei Schmid, der 1945 in die SPD eintrat, in gewisser Beziehung erhalten. Weder genügte seinen Zielen einfach die alte Sozialdemokratie noch gar die stalinisierte KPD. Seine Hoffnungen drückte er in einem am 30. Dezember 1946 geschriebenen Brief an einen jüdischen Kampfgefährten der Sozialistischen Arbeiterpartei aus, der ins amerikanische Exil hatte entkommen können:
»Zwischen den Leuten, die sich tagtäglich mehrmals gen Osten verneigen, und denjenigen, die die SPD als eine Posten- und Stellenvermittlung betrachten und reine Ministerialisten geworden sind, bildet sich allmählich eine qualitativ und quantitativ nicht unbeträchtliche Schicht heraus.«
Die Idee des Sozialismus, von der Schmid sich leiten läßt, steht nicht im Gegensatz zum Gedanken individueller Freiheit, wie er einst in der bürgerlichen Revolutionsbewegung gegen den Absolutismus durchgesetzt worden war. In dem schon zitierten Brief grenzt Schmid, gleichsam programmatisch, einen authentischen Sozialismus von dessen autorität verzerrter Gestalt ab:
»Die Gespräche zwischen Genossen und Nicht-Genossen (laufen) alle auf die Polarität zwischen der politischen Natur der Sowjet-Union und dem Begriff der persönlichen Freiheit hin-aus, welch letzteren wir Deutsche nach den Erfahrungen des Dritten Reiches ganz besonders gut zu definieren verstehen. Ihre Lösung kann jene Polarität meiner Meinung nach nur im Sozialismus finden…«
Schmids Hoffnungen gehen, da die alten gesellschaftlichen Mächte im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarken, freilich nicht in Erfüllung. Die politische Bewegung, die die NS-Diktatur durch eine sozialistische Demokratie von Grund auf überwinden wollte, wird besiegt. Angesichts der Restauration überkommener Strukturen, besonders im Staatsapparat, bezieht Schmid die Position eines entschieden demokratischen Justizkritikers. Wohl der bedeutendste seines Faches bleibt er jener nicht-konforme Jurist, der sich dem meist konservativen Milieu der juristischen Zunft wider-setzt.
In seinen Arbeiten verfolgt Schmid hauptsächlich drei Stränge: Er setzt sich mit der.vielfach tabuierten oder apologetisch verzerrten Rolle der Justiz im Dritten Reich auseinander. Er verteidigt die Unverbrüchlichkeit rechtsstaatlicher Garantien, die der Allgewalt des Staates, zum Schutz der Menschen, Fesseln anlegen; ausgeführt hat er dies besonders in seinen vielfältigen Beiträgen zum Thema Meinungsfreiheit. Schließlich tritt er – seiner sozialistischen Idee entsprechend – für den Abbau der sozialen Abhängigkeit der unteren Schichten ein. Anders als viele seiner juristischen Kollegen, für die die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat im Mittelpunkt stehen, macht Schmid die Demokratie zum Ausgangs-und Endpunkt seines Denkens.
Schmid unterwirft die diskussionsscheue Justiz dem Forum demokratischer Öffentlichkeit. Nur so kann die Justiz ihre autoritäre Abkapselung von der lebendigen liberalen Verfassung verlieren und dem heilsamen Zwang ausgesetzt werden, sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen.
Die Texte Schmids leben von der Auseinandersetzung, greifen ein, nehmen Partei. Er adressiert sie weniger an das juristische Fachpublikum, gegen dessen Einsichtfähigkeit und wissenschaftliche Hermetik; welche die politischen Absichten oft unsichtbar macht, er ein tiefes Mißtrauen hegt. Schmid publiziert seine Arbeiten hauptsächlich in der »Zeit«, in der »Frankfurter Rundschau«, in der »Neuen Rundschau«, in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«, im »Merkur«, in den »Vorgängen« und der »Kritischen Justiz« – offenkundig in der Absicht, grundsätzlich jedermann zu erreichen.
Dem entspricht die Diktion von Schmids Arbeiten. Ihre Sprache ist urban, dem Leser zugewandt, oftmals von aphoristischer Schärfe. Er ist ein Aufklärer, der zum Mitdenken, zum Gebrauch der Vernunft anleitet, ohne daß er Gefühle, abstrakt rationalistisch, ausschließt. Er unterscheidet zwischen humanen Gefühlen von Empörung und Mitleid und destruktiven von Haß und Aggression, die fürs Denken blind machen. Für Phrasen, sozusagen die wohlklingende Form der Lüge, ist er empfindlich. Er nimmt sie beim Wort – und ihre Leere, dienstbar der puren Macht, wird deutlich.
Beispielhaft führt Schmid dies in einer Polemik mit dem einstigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Professor Hans Carl Nipperdey, vor. Nipperdey hatte davon gesprochen, daß die »in der Presse sich äußernde öffentliche Meinung« dann »nicht mehr im Rahmen der Verfassung« bliebe, »wenn sie über eine sachliche und willkommene Kritik hinausgehen und versuchen würde (…), die Rechtsprechung zu beeinflussen …« In einem Kabinett-stück präziser Kritik nimmt Schmid diese Bemerkung auseinander:
»Eine Kritik hat also ‚willkommen‘ zu sein, und sie ist es nur, wenn sie nicht versucht, die Rechtsprechung zu beeinflussen; während doch der schlichte Verstand meint, daß der Zweck der Kritik gerade darin liegt, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Der Standpunkt des Herrn Professor Nipperdey läuft darauf hinaus, die Rechtsprechung aus dem demokratischen Meinungskampf, dem zuliebe uns der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit gegeben ist, auszuschließen und für diesen Ausschluß… die Verfassung in Anspruch zu nehmen.«
Wiewohl gebildet, in der politischen Geschichte, in der Rechtsgeschichte bewandert, sattelfest auf zivilrechtlichem, strafrechtlichen, arbeits- und verfassungsrechtlichen Gebiet, breitet Schmid seine Kenntnisse nicht im Faltenwurf der Selbstdarstellung aus. Er benutzt sie als Argument. Nicht eigentlich theoretisch geht er vor, sondern nimmt erfahrbare Rechtsprobleme ins Visier. Glosse, Kommentar, Essay, sind die Formen seiner Darstellung, wenn er sich mit illegalem Telefonabhören, unkontrollierbaren Zeugen vom Hörensagen, der Einschränkung der Kunstfreiheit, der Beschneidung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder der Tödesstrafe auseinandersetzt. Schmid überläßt sich nicht einer Selbstbewegung des Begriffs, weil in ihr das leidende Individuum leicht aus dem Blick verschwindet. Um die Not und die Unmündigkeit der Einzelnen, der Gruppen und Schichten wahrzunehmen – im doppelten Sinne des Wortes -, geht Schmid den umgekehrten, induktiven Weg.
In der Entfesselung der schrankenlosen Staatsgewalt durch die Justiz – besonders im NS-Staat – erblickt Schmid das Gegenbild zur Aufgabe der Justiz in der Demokratie. Daher mißt er der Aufarbeitung der antidemokratischen Rolle der Weimarer Justiz und der des Dritten Reiches besondere Bedeutung zu.
An der Diskriminierung und Verfolgung der Juden und der Kommunisten, um einen Bereich herauszugreifen, an dem Schmid die Mißachtung des Rechts demokratischer Gleichheit demonstriert, nahm die Justiz einst aktiven Anteil. Sie gab schließlich die Schutzfunktion objektiver Tatbestände zugunsten eines prinzipiell unbegrenzten staatlichen Verfolgungsinteresses preis. Schmid zeigt dies eindrücklich an konkreten Fällen.
Das Reichsgericht sprach 1924 mehrere Angeklagte, die ein Lied mit dem Vers »Pfui Judenrepublik« gesungen hatten, mit der Begründung frei, der Vers richte sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Republik, womit, wie Schmid bemerkt, »Antisemitismus als Alibi« diente. Seine antisemitische Linie setzte das Reichsgericht im Dritten Reich fort, indem es – überbietend gehorsam – die Rassegesetze gegen die Juden noch weiter auslegte, als dies der nationalsozialistische Gesetzgeber verlangte.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte 1932 den Beschluß der Preußischen Staatsregierung, Beamten die politische Betätigung in der NSDAP und in der KPD zu verbieten, für die NSDAP aufgehoben, aber für die KPD bestätigt. Dieser rechtsgerichteten politischen Haltung konnte die Justiz nach 1933 um so konsequenter folgen. Am Beispiel des führenden, u.a. von Reichsgerichtsräten verfaßten Strafrechtskommentars veranschaulicht Schmid, wie die rechtsstaatlichen Schranken gegenüber Kommunisten vollständig niedergerissen werden. In einem Exzeß des staatlichen Zugriffs auf das Innere der Menschen konnte nach diesem Kommentar sogar derjenige wegen Vorbereitung zum Hochverrat bestraft werden, der, wie es wörtlich hieß, »seine kommunistische Gesinnung und damit seine Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in Aufzeichnungen niederlegt und sich auf diese Weise in seiner kommunistischen Einstellung bestärkt«.
Die verbreitete Behauptung, die Justiz sei durchgehend ein unschuldiges Opfer der NS-Clique geworden, widerlegt Schmid an Hand vieler Beispiele aktiver Willfährigkeit, die besonders das Reichsgericht kennzeichnete. Anders sieht es Hermann Weinkauff, jener schon erwähnte frühere Reichsgerichtsrat und spätere Präsident des Bundesgerichtshofs. In der Beurteilung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium- Schlegelberger, bringt Weinkauff seine grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Juristen im Dritten Reich zum Ausdruck. Schlegelberger, der die berüchtigte Polen-Strafrechtsverordnung von 1941 zu verantworten hat, habe Hitlers Wünsche nicht erfüllt, »um sich persönlich in seiner Stellung zu halten«; es habe bei ihm »der Gedanke eine Rolle gespielt, noch viel furchtbarere Zustände für das Recht und die Justiz« abzuwenden. Schmid kommentiert: »Der Zustand für das Recht hätte nicht furchtbarer sein können… Daß Schlegelberger, wie Weinkauff sagt, ‚in einer furchtbaren Zwangslage war‘, stimmt nicht. Was hätte ihn gehindert, um seine Entlassung zu bitten? Allerdings wäre ihm dann vielleicht die schließlich von Hitler zugewendete Sonderdotation entgangen.«
Eingehend untersucht Schmid die Ursachen für die vielfache Hörigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime. Er sieht sie pointiert darin, »daß das Personal der deutschen Justiz, seiner Geschichte, seiner Konstitution und Moral, seinem herkömmlichen Verhältnis zur Macht nach, zum Widerstand gegen eine Staatsmacht . des Unrechts und der Gewalttat unfähig war.«
Mit dem Ende der NS-Diktatur verschwand freilich nicht die auf dem rechten Auge blinde Grundhaltung der Justiz ein für alle Mal. Daß der Justizapparat des Dritten Reiches weitgehend ins politische System der Bundesrepublik übernommen wurde, hinterließ in der Rechtsprechung tiefe Spuren. Im Fall Kantorowicz macht Schmid dies deutlich. Alfred Kantorowicz, Jude, Schriftsteller, seit 1931 Mitglied der KPD, Generalsekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil, nach 1945 Leiter der schließlich von der SED verbotenen Zeitschrift »Ost und West«, Herausgeber der Werke von Heinrich Mann, Professor für Literaturwissenschaft in Ost-Berlin, floh 1957 in die Bundesrepublik. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber verweigerte Kantorowicz die Anerkennung als Flüchtling. Bei Kantorowicz, »Altkommunist, Spanienkämpfer und SED-Mitglied«, wie das Gericht sich aus-drückt, liege kein schwerer Gewissenskonflikt im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vor; er müsse die Folgen seines früheren Verhaltens auf sich nehmen. Bitter bemerkt Schmid dazu: »Kantorowicz hat sich in dem Berlin von 1931 – Hitler war vor den Toren – nicht so entschieden; wie es ein bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1964 für richtig hielt. Er hätte offen-bar noch eine Weile zuwarten sollen, ehe er in eine Partei eintrat, am besten bis zum 1. Mai 1933, an dem das Gros der beamteten deutschen Juristen in die NSDAP eintrat.«
Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Diktatur des. Dritten Reiches, in der die Vergötzung des Staates ihre letzte, grauenvolle Konsequenz zeitigte, suchte Schmid Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Einzelnen mit Hilfe politischer Freiheitsrechte und rechtsstaatlicher Garantien strikte Grenzen zu setzen. Der Bereich privater und gesellschaftlicher Kommunikation muß prinzipiell entstaatlicht sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein demokratisches Gemeinwesen entfalten und selbst regieren.
Folgerichtig bildet die Meinungsfreiheit einen Schwerpunkt von Schmids Arbeiten. Sie ist das wichtigste Grundrecht der Demokratie, das die Differenz zu einem autoritären Regime deutlich markiert. In der Bundesrepublik ist die Meinungsfreiheit bis heute besonders gefährdet. »Wir neigen dazu«, schreibt Schmid, »auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu trauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben und herbeizurufen.« Dagegen setzt Schmid leitmotivisch wiederkehrend bürgerlich aufklärerisches Rechtsdenken, das im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten beispielgebend entwickelt wurde. Schmidt zitiert die amerikanischen Richter Holmes und Brandeis: »Das Gute wird eher erreicht durch den freien Austausch der ldeen… Wir sollten ständig wachsam sein gegen Versuche, die Äußerungen solcher Meinungen zu verhindern, die wir selber verabscheuen…« »Die freie Rede bietet in der Regel genügend Schutz gegen die Ausbreitung schädlicher Lehren.«
Schmids Eintreten für die Meinungsfreiheit hat in der Bundesrepublik Rechtsgeschichte gemacht. Durch eine Verfassungsbeschwerde erreicht Schmid Anfang der 60er Jahre, daß die Geltung der Meinungsfreiheit gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Gerichte, die das Recht zur Gegenpolemik durch den Beleidigungs- paragraphen des Strafgesetzbuchs von vornherein beschnitten, ausgeweitet wird.
Nachdem Schmid vom »Spiegel« im Jahre 1954 kommunistischer Sympathien geziehen, und da er für den politischen Streik eintrat, als Verteidiger des Rechtsbruchs abgestempelt wurde, wehrte er sich in einer harten Gegenattacke: Der »Spiegel« repräsentiere eine »Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral… Es ist die sogenannte Reizliteratur… Dabei ist die Höhe des Absatzes der maßgebende Gesichtspunkt.« Wegen dieser Sätze wird Schmid in zweiter Instanz vom Landgericht Göttingen zu 150 Mark Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft wegen Beleidigung verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht aber – es ist für Schmid, hauptsächlich in der Ära Adenauer, ein liberaler Leuchtturm inmitten der oftmals restaurativen Justiz – hebt diese Entscheidung wegen Verletzung der Meinungsfreiheit auf. Die scharfe Äußerung von Schmid sei ein legitimer »Gegenschlag gegen eine unzutreffende Information der Öffentlichkeit«. Angestoßen durch Schmid interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit als Garantie des Meinungskampfes, bei der keine Seite bevorzugt werden darf. Erst »Rede und Gegenrede« schaffen – so das Bundesverfassungsgericht – die Grundlage für die Bildung der öffentlichen Meinung.
Mit seinem Engagement für die Meinungsfreiheit tritt Schmid für das Recht von Minderheiten ein: Der Sinn der Meinungsfreiheit, schreibt Schmid, liegt »zum großen Teil im Schutz des Einzelgängers, der Minderheit, des Schwächeren gegen die Mehrheit, gegen die Macht und die orthodoxe Meinung.«
Schmid begnügt sich aber nicht damit – das übersehen gerade seine liberalen Freunde – allein eine radikal-liberale Position zu vertreten. Er erweitert sie durch den egalitären Gedanken. Solange nämlich gesellschaftliche Ungleichheit existiert, ist die rechtliche Freiheit für viele eine leere Versprechung, weil sie von ihr auf Grund ihrer sozialen Lage nicht Gebrauch machen können; so ist – beispielsweise – die Pressefreiheit real zumeist nicht die Freiheit von jedermann, sondern, nach einem bekannten, zugespitzten Wort von Paul Sethe, die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Um den Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit und den gesellschaftlichen Schranken ihrer Verwirklichung zu überwinden, sucht , Schmid die Ideen der Freiheit und der Gleichheit miteinander zu verbinden.
Zu diesem Zweck setzt er sich mit der Gegenthese, Freiheit und Gleichheit ließen sich keinesfalls auf einen Nenner bringen, eingehend auseinander. Der Ansicht, die gerade gegenwärtig wieder Konjunktur hat, mehr Gleichheit bedrohe die Freiheit, hält Schmid entgegen, daß dies gerade für die politischen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen, die allen in gleicher Weise zustehen, nicht zutreffe:
»… Die eigentliche politische demokratische Freiheit der Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens, … die allgemeine persönliche Entfaltungsfreiheit, … die einzelnen liberalen Freiheiten wie etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, … die Abwehrrechte gegen Staatseingriffe, beispielsweise gegen die Person oder gegen die Wohnung oder das Postgeheimnis« – diese Rechte werden nicht etwa dadurch »beeinträchtigt«, daß sie für jedermann, für alle gleich gelten. Im Gegenteil.
Zwischen Freiheit und Gleichheit tut sich erst ein Gegensatz auf, wenn Freiheit mit dem Recht auf unbeschränktes Sondereigentum gleichgesetzt wird. Dann ist jeder Versuch, dieses Recht zugunsten sozial Abhängiger zu begrenzen, ein Eingriff in die »Freiheit« privile gierter Verfügungsmacht, vornehmlich der Vertragsfreiheit. Schmid argumentiert:
»Noch für Bismarck und seine Zeit (stand) dem Verbot der Kinderarbeit die Vertragsfreiheit entgegen und lange Zeit später gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit, der Frauenarbeit…«
Weil diese Regelungen die Freiheit der ökonomisch Mächtigen beeinträchtigten, wurden sie nicht zugelassen. Derartige Eingriffe in die private Bestimmungsmacht der Wirtschaft sind aber für Schmid die Voraussetzung dafür, daß sich ein Stück realer Freiheit aller, besonders der abhängig Arbeitenden, herzustellen beginnt. Insoweit hat das Recht, dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes entsprechend, eine kompensatorische Rolle zugunsten der gesellschaftlich Schwachen zu spielen.
In diesen Rahmen fügen sich Schmids von der herrschenden Meinung der juristischen Zunft abweichende Ansichten zur Aussperrung und zum Streikrecht. Die Aussperrung hält Schmid für eine unzulässige Privilegierung der Unternehmer, weil damit das Streikrecht als Abwehrrecht gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen leerlaufen kann. Den politischen Streik betrachtet Schmid als ein legales, letztes Mittel, um demokratisch nicht legitimierte Einflußnahmen der Wirtschaft auf die Entscheidungen staatlicher Organe durch ein gewerkschaftliches Gegengewicht auszugleichen. Auch hier vertritt Schmid die Idee gesellschaftlicher Gleichheit. Er stellt in seinem Leben wie in seinem Denken unter Beweis, daß die Freiheit von staatlicher Vormundschaft und die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Individuen zusammengehören. In Teilen der jüngeren Richtergeneration wird seine Position der Verknüpfung von liberaler und egalitärer Gedankenwelt zunehmend wirksam – ein hoffnungsvolles Zeichen.
Wichtige Arbeiten Richard Schmids sind in den Sammelbänden »Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten« (Stuttgart 1965, Goverts Verlag) und »Das Unbehagen an der Justiz« (München 1975, Beck Verlag) enthalten; empfehlenswert sind auch seine Bücher »Justiz in der Bundesrepublik« (Pfullingen 1967, Neske Verlag) und »Unser aller Grundgesetz« (Frankfurt 1971, S. Fischer Verlag).
Joachim Perels
Ein Jurist mit Rückgrat
Richard Schmid zum 85. Geburtstag
Die Justiz hat ein doppeltes Gesicht. Sie kann als bloßes Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Macht wirken, sie kann aber auch Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Garantien gegen die jeweiligen Oberen und ihre Interessen schützen. In unserem Land, in dem sich, wie es bei Brecht heißt, »ein einzig dastehender Gehorsam« ausbildete, waren die Träger der Justiz überwiegend autoritär geprägt: im wilhelminischen Staat, in der Weimarer Republik, erst recht unterm Nationalsozialismus, aber zum nicht geringen Teil auch in der Bundesrepublik. Den meisten Justizjuristen war die frische Luft demokratischer ldeen fremd, gefährlich, zuzeiten verhaßt.
Eine der großen Gegenfiguren zur staatsfrommen Tradition deutscher Justiz ist Richard Schmid, geboren 1899. Anders als die meisten seiner Kollegen, die über den karrierefördernden Königsweg staatlicher Ämter in ihre Stellungen gelangten, erfuhr Richard Schmid die Justiz zunächst aus der umgekehrten Perspektive. Er war Anwalt, als Angeklagter, Verurteilterund Strafgefangener schließlich Opfer der Justiz.
Aber auch seine politische Einstellung machte ihn zu einem Außenseiter in seiner Juristengeneration. In der Weimarer Republik sympathisierte er mit der Sozialdemokratie, trat für die Demokratie ein. im Gegensatz zum Justizcorps, das fast ausnahmslos dem Obrigkeitsstaat verhaftet blieb.
Mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur ging Schmid sogleich in Opposition zum System staatlicher Willkür: wiederum im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der
Justizelite, die sich teils überzeugt, teils gefügig in den Dienst des neuen Regimes stellte. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verteidigte Schmid 1934 führende Köpfe der in die Illegalität gedrängten Sozialistischen Arbeiterpartei, einer von der SPD abgespaltenen Linksgruppierung, zu der beispielsweise der junge Willy Brandt gehörte.
Politisch beeinflußt wurde Schmid während der nationalsozialistischen Herrschaft durch jene kleinen Organisationen der Arbeiterbewegung, die in kritischer und intellektuell meist überlegener Auseinandersetzung mit der SPD oder der KPD – besonders im Blick auf deren Versagen angesichts der siegreichen faschistischen Gegenrevolution – entstanden waren. Auf Auslandsreisen nahm Schmid Mitte der 30er Jahre Kontakt zur Exilführung der Sozialistischen Arbeiterpartei auf, aber auch zur Leitung der an Rosa Luxemburg orientierten Kommunistischen Partei-Opposition. 1935 gründete. Schmid im Auftrag der Sozialistischen Arbeiterpartei eine illegale Gruppe in Stuttgart.
Während Schmid die nationalsozialistische Diktatur praktisch bekämpfte, stiegen viele seiner Kollegen in der Justizhierarchie des NS-Staates auf. So avancierte auch der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, zum Reichgerichtsrat – eine Differenz zur politischen Biographie Schmids, die in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb. 1938 wurde Schmid verhaftet und 1940 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafhaft arbeitete er in der Landwirtschaft; nur durch Zufall entging er der Einweisung ins Konzentrationslager, weil die Gestapo-Leitung in Stuttgart neu besetzt worden war.
Dank der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus konnte Schmid wieder eine juristische Tätigkeit ausüben. Er wurde 1945 Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, von 1953 bis 1964 war er Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart.
Die Blickrichtung der Sozialistischen Arbeiterpartei blieb bei Schmid, der 1945 in die SPD eintrat, in gewisser Beziehung erhalten. Weder genügte seinen Zielen einfach die alte Sozialdemokratie noch gar die stalinisierte KPD. Seine Hoffnungen drückte er in einem am 30. Dezember 1946 geschriebenen Brief an einen jüdischen Kampfgefährten der Sozialistischen Arbeiterpartei aus, der ins amerikanische Exil hatte entkommen können:
»Zwischen den Leuten, die sich tagtäglich mehrmals gen Osten verneigen, und denjenigen, die die SPD als eine Posten- und Stellenvermittlung betrachten und reine Ministerialisten geworden sind, bildet sich allmählich eine qualitativ und quantitativ nicht unbeträchtliche Schicht heraus.«
Die Idee des Sozialismus, von der Schmid sich leiten läßt, steht nicht im Gegensatz zum Gedanken individueller Freiheit, wie er einst in der bürgerlichen Revolutionsbewegung gegen den Absolutismus durchgesetzt worden war. In dem schon zitierten Brief grenzt Schmid, gleichsam programmatisch, einen authentischen Sozialismus von dessen autorität verzerrter Gestalt ab:
»Die Gespräche zwischen Genossen und Nicht-Genossen (laufen) alle auf die Polarität zwischen der politischen Natur der Sowjet-Union und dem Begriff der persönlichen Freiheit hin-aus, welch letzteren wir Deutsche nach den Erfahrungen des Dritten Reiches ganz besonders gut zu definieren verstehen. Ihre Lösung kann jene Polarität meiner Meinung nach nur im Sozialismus finden…«
Schmids Hoffnungen gehen, da die alten gesellschaftlichen Mächte im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarken, freilich nicht in Erfüllung. Die politische Bewegung, die die NS-Diktatur durch eine sozialistische Demokratie von Grund auf überwinden wollte, wird besiegt. Angesichts der Restauration überkommener Strukturen, besonders im Staatsapparat, bezieht Schmid die Position eines entschieden demokratischen Justizkritikers. Wohl der bedeutendste seines Faches bleibt er jener nicht-konforme Jurist, der sich dem meist konservativen Milieu der juristischen Zunft wider-setzt.
In seinen Arbeiten verfolgt Schmid hauptsächlich drei Stränge: Er setzt sich mit der.vielfach tabuierten oder apologetisch verzerrten Rolle der Justiz im Dritten Reich auseinander. Er verteidigt die Unverbrüchlichkeit rechtsstaatlicher Garantien, die der Allgewalt des Staates, zum Schutz der Menschen, Fesseln anlegen; ausgeführt hat er dies besonders in seinen vielfältigen Beiträgen zum Thema Meinungsfreiheit. Schließlich tritt er – seiner sozialistischen Idee entsprechend – für den Abbau der sozialen Abhängigkeit der unteren Schichten ein. Anders als viele seiner juristischen Kollegen, für die die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat im Mittelpunkt stehen, macht Schmid die Demokratie zum Ausgangs-und Endpunkt seines Denkens.
Schmid unterwirft die diskussionsscheue Justiz dem Forum demokratischer Öffentlichkeit. Nur so kann die Justiz ihre autoritäre Abkapselung von der lebendigen liberalen Verfassung verlieren und dem heilsamen Zwang ausgesetzt werden, sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen.
Die Texte Schmids leben von der Auseinandersetzung, greifen ein, nehmen Partei. Er adressiert sie weniger an das juristische Fachpublikum, gegen dessen Einsichtfähigkeit und wissenschaftliche Hermetik; welche die politischen Absichten oft unsichtbar macht, er ein tiefes Mißtrauen hegt. Schmid publiziert seine Arbeiten hauptsächlich in der »Zeit«, in der »Frankfurter Rundschau«, in der »Neuen Rundschau«, in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«, im »Merkur«, in den »Vorgängen« und der »Kritischen Justiz« – offenkundig in der Absicht, grundsätzlich jedermann zu erreichen.
Dem entspricht die Diktion von Schmids Arbeiten. Ihre Sprache ist urban, dem Leser zugewandt, oftmals von aphoristischer Schärfe. Er ist ein Aufklärer, der zum Mitdenken, zum Gebrauch der Vernunft anleitet, ohne daß er Gefühle, abstrakt rationalistisch, ausschließt. Er unterscheidet zwischen humanen Gefühlen von Empörung und Mitleid und destruktiven von Haß und Aggression, die fürs Denken blind machen. Für Phrasen, sozusagen die wohlklingende Form der Lüge, ist er empfindlich. Er nimmt sie beim Wort – und ihre Leere, dienstbar der puren Macht, wird deutlich.
Beispielhaft führt Schmid dies in einer Polemik mit dem einstigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Professor Hans Carl Nipperdey, vor. Nipperdey hatte davon gesprochen, daß die »in der Presse sich äußernde öffentliche Meinung« dann »nicht mehr im Rahmen der Verfassung« bliebe, »wenn sie über eine sachliche und willkommene Kritik hinausgehen und versuchen würde (…), die Rechtsprechung zu beeinflussen …« In einem Kabinett-stück präziser Kritik nimmt Schmid diese Bemerkung auseinander:
»Eine Kritik hat also ‚willkommen‘ zu sein, und sie ist es nur, wenn sie nicht versucht, die Rechtsprechung zu beeinflussen; während doch der schlichte Verstand meint, daß der Zweck der Kritik gerade darin liegt, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Der Standpunkt des Herrn Professor Nipperdey läuft darauf hinaus, die Rechtsprechung aus dem demokratischen Meinungskampf, dem zuliebe uns der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit gegeben ist, auszuschließen und für diesen Ausschluß… die Verfassung in Anspruch zu nehmen.«
Wiewohl gebildet, in der politischen Geschichte, in der Rechtsgeschichte bewandert, sattelfest auf zivilrechtlichem, strafrechtlichen, arbeits- und verfassungsrechtlichen Gebiet, breitet Schmid seine Kenntnisse nicht im Faltenwurf der Selbstdarstellung aus. Er benutzt sie als Argument. Nicht eigentlich theoretisch geht er vor, sondern nimmt erfahrbare Rechtsprobleme ins Visier. Glosse, Kommentar, Essay, sind die Formen seiner Darstellung, wenn er sich mit illegalem Telefonabhören, unkontrollierbaren Zeugen vom Hörensagen, der Einschränkung der Kunstfreiheit, der Beschneidung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder der Tödesstrafe auseinandersetzt. Schmid überläßt sich nicht einer Selbstbewegung des Begriffs, weil in ihr das leidende Individuum leicht aus dem Blick verschwindet. Um die Not und die Unmündigkeit der Einzelnen, der Gruppen und Schichten wahrzunehmen – im doppelten Sinne des Wortes -, geht Schmid den umgekehrten, induktiven Weg.
In der Entfesselung der schrankenlosen Staatsgewalt durch die Justiz – besonders im NS-Staat – erblickt Schmid das Gegenbild zur Aufgabe der Justiz in der Demokratie. Daher mißt er der Aufarbeitung der antidemokratischen Rolle der Weimarer Justiz und der des Dritten Reiches besondere Bedeutung zu.
An der Diskriminierung und Verfolgung der Juden und der Kommunisten, um einen Bereich herauszugreifen, an dem Schmid die Mißachtung des Rechts demokratischer Gleichheit demonstriert, nahm die Justiz einst aktiven Anteil. Sie gab schließlich die Schutzfunktion objektiver Tatbestände zugunsten eines prinzipiell unbegrenzten staatlichen Verfolgungsinteresses preis. Schmid zeigt dies eindrücklich an konkreten Fällen.
Das Reichsgericht sprach 1924 mehrere Angeklagte, die ein Lied mit dem Vers »Pfui Judenrepublik« gesungen hatten, mit der Begründung frei, der Vers richte sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Republik, womit, wie Schmid bemerkt, »Antisemitismus als Alibi« diente. Seine antisemitische Linie setzte das Reichsgericht im Dritten Reich fort, indem es – überbietend gehorsam – die Rassegesetze gegen die Juden noch weiter auslegte, als dies der nationalsozialistische Gesetzgeber verlangte.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte 1932 den Beschluß der Preußischen Staatsregierung, Beamten die politische Betätigung in der NSDAP und in der KPD zu verbieten, für die NSDAP aufgehoben, aber für die KPD bestätigt. Dieser rechtsgerichteten politischen Haltung konnte die Justiz nach 1933 um so konsequenter folgen. Am Beispiel des führenden, u.a. von Reichsgerichtsräten verfaßten Strafrechtskommentars veranschaulicht Schmid, wie die rechtsstaatlichen Schranken gegenüber Kommunisten vollständig niedergerissen werden. In einem Exzeß des staatlichen Zugriffs auf das Innere der Menschen konnte nach diesem Kommentar sogar derjenige wegen Vorbereitung zum Hochverrat bestraft werden, der, wie es wörtlich hieß, »seine kommunistische Gesinnung und damit seine Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in Aufzeichnungen niederlegt und sich auf diese Weise in seiner kommunistischen Einstellung bestärkt«.
Die verbreitete Behauptung, die Justiz sei durchgehend ein unschuldiges Opfer der NS-Clique geworden, widerlegt Schmid an Hand vieler Beispiele aktiver Willfährigkeit, die besonders das Reichsgericht kennzeichnete. Anders sieht es Hermann Weinkauff, jener schon erwähnte frühere Reichsgerichtsrat und spätere Präsident des Bundesgerichtshofs. In der Beurteilung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium- Schlegelberger, bringt Weinkauff seine grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Juristen im Dritten Reich zum Ausdruck. Schlegelberger, der die berüchtigte Polen-Strafrechtsverordnung von 1941 zu verantworten hat, habe Hitlers Wünsche nicht erfüllt, »um sich persönlich in seiner Stellung zu halten«; es habe bei ihm »der Gedanke eine Rolle gespielt, noch viel furchtbarere Zustände für das Recht und die Justiz« abzuwenden. Schmid kommentiert: »Der Zustand für das Recht hätte nicht furchtbarer sein können… Daß Schlegelberger, wie Weinkauff sagt, ‚in einer furchtbaren Zwangslage war‘, stimmt nicht. Was hätte ihn gehindert, um seine Entlassung zu bitten? Allerdings wäre ihm dann vielleicht die schließlich von Hitler zugewendete Sonderdotation entgangen.«
Eingehend untersucht Schmid die Ursachen für die vielfache Hörigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime. Er sieht sie pointiert darin, »daß das Personal der deutschen Justiz, seiner Geschichte, seiner Konstitution und Moral, seinem herkömmlichen Verhältnis zur Macht nach, zum Widerstand gegen eine Staatsmacht . des Unrechts und der Gewalttat unfähig war.«
Mit dem Ende der NS-Diktatur verschwand freilich nicht die auf dem rechten Auge blinde Grundhaltung der Justiz ein für alle Mal. Daß der Justizapparat des Dritten Reiches weitgehend ins politische System der Bundesrepublik übernommen wurde, hinterließ in der Rechtsprechung tiefe Spuren. Im Fall Kantorowicz macht Schmid dies deutlich. Alfred Kantorowicz, Jude, Schriftsteller, seit 1931 Mitglied der KPD, Generalsekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil, nach 1945 Leiter der schließlich von der SED verbotenen Zeitschrift »Ost und West«, Herausgeber der Werke von Heinrich Mann, Professor für Literaturwissenschaft in Ost-Berlin, floh 1957 in die Bundesrepublik. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber verweigerte Kantorowicz die Anerkennung als Flüchtling. Bei Kantorowicz, »Altkommunist, Spanienkämpfer und SED-Mitglied«, wie das Gericht sich aus-drückt, liege kein schwerer Gewissenskonflikt im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vor; er müsse die Folgen seines früheren Verhaltens auf sich nehmen. Bitter bemerkt Schmid dazu: »Kantorowicz hat sich in dem Berlin von 1931 – Hitler war vor den Toren – nicht so entschieden; wie es ein bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1964 für richtig hielt. Er hätte offen-bar noch eine Weile zuwarten sollen, ehe er in eine Partei eintrat, am besten bis zum 1. Mai 1933, an dem das Gros der beamteten deutschen Juristen in die NSDAP eintrat.«
Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Diktatur des. Dritten Reiches, in der die Vergötzung des Staates ihre letzte, grauenvolle Konsequenz zeitigte, suchte Schmid Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Einzelnen mit Hilfe politischer Freiheitsrechte und rechtsstaatlicher Garantien strikte Grenzen zu setzen. Der Bereich privater und gesellschaftlicher Kommunikation muß prinzipiell entstaatlicht sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein demokratisches Gemeinwesen entfalten und selbst regieren.
Folgerichtig bildet die Meinungsfreiheit einen Schwerpunkt von Schmids Arbeiten. Sie ist das wichtigste Grundrecht der Demokratie, das die Differenz zu einem autoritären Regime deutlich markiert. In der Bundesrepublik ist die Meinungsfreiheit bis heute besonders gefährdet. »Wir neigen dazu«, schreibt Schmid, »auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu trauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben und herbeizurufen.« Dagegen setzt Schmid leitmotivisch wiederkehrend bürgerlich aufklärerisches Rechtsdenken, das im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten beispielgebend entwickelt wurde. Schmidt zitiert die amerikanischen Richter Holmes und Brandeis: »Das Gute wird eher erreicht durch den freien Austausch der ldeen… Wir sollten ständig wachsam sein gegen Versuche, die Äußerungen solcher Meinungen zu verhindern, die wir selber verabscheuen…« »Die freie Rede bietet in der Regel genügend Schutz gegen die Ausbreitung schädlicher Lehren.«
Schmids Eintreten für die Meinungsfreiheit hat in der Bundesrepublik Rechtsgeschichte gemacht. Durch eine Verfassungsbeschwerde erreicht Schmid Anfang der 60er Jahre, daß die Geltung der Meinungsfreiheit gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Gerichte, die das Recht zur Gegenpolemik durch den Beleidigungs- paragraphen des Strafgesetzbuchs von vornherein beschnitten, ausgeweitet wird.
Nachdem Schmid vom »Spiegel« im Jahre 1954 kommunistischer Sympathien geziehen, und da er für den politischen Streik eintrat, als Verteidiger des Rechtsbruchs abgestempelt wurde, wehrte er sich in einer harten Gegenattacke: Der »Spiegel« repräsentiere eine »Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral… Es ist die sogenannte Reizliteratur… Dabei ist die Höhe des Absatzes der maßgebende Gesichtspunkt.« Wegen dieser Sätze wird Schmid in zweiter Instanz vom Landgericht Göttingen zu 150 Mark Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft wegen Beleidigung verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht aber – es ist für Schmid, hauptsächlich in der Ära Adenauer, ein liberaler Leuchtturm inmitten der oftmals restaurativen Justiz – hebt diese Entscheidung wegen Verletzung der Meinungsfreiheit auf. Die scharfe Äußerung von Schmid sei ein legitimer »Gegenschlag gegen eine unzutreffende Information der Öffentlichkeit«. Angestoßen durch Schmid interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit als Garantie des Meinungskampfes, bei der keine Seite bevorzugt werden darf. Erst »Rede und Gegenrede« schaffen – so das Bundesverfassungsgericht – die Grundlage für die Bildung der öffentlichen Meinung.
Mit seinem Engagement für die Meinungsfreiheit tritt Schmid für das Recht von Minderheiten ein: Der Sinn der Meinungsfreiheit, schreibt Schmid, liegt »zum großen Teil im Schutz des Einzelgängers, der Minderheit, des Schwächeren gegen die Mehrheit, gegen die Macht und die orthodoxe Meinung.«
Schmid begnügt sich aber nicht damit – das übersehen gerade seine liberalen Freunde – allein eine radikal-liberale Position zu vertreten. Er erweitert sie durch den egalitären Gedanken. Solange nämlich gesellschaftliche Ungleichheit existiert, ist die rechtliche Freiheit für viele eine leere Versprechung, weil sie von ihr auf Grund ihrer sozialen Lage nicht Gebrauch machen können; so ist – beispielsweise – die Pressefreiheit real zumeist nicht die Freiheit von jedermann, sondern, nach einem bekannten, zugespitzten Wort von Paul Sethe, die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Um den Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit und den gesellschaftlichen Schranken ihrer Verwirklichung zu überwinden, sucht , Schmid die Ideen der Freiheit und der Gleichheit miteinander zu verbinden.
Zu diesem Zweck setzt er sich mit der Gegenthese, Freiheit und Gleichheit ließen sich keinesfalls auf einen Nenner bringen, eingehend auseinander. Der Ansicht, die gerade gegenwärtig wieder Konjunktur hat, mehr Gleichheit bedrohe die Freiheit, hält Schmid entgegen, daß dies gerade für die politischen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen, die allen in gleicher Weise zustehen, nicht zutreffe:
»… Die eigentliche politische demokratische Freiheit der Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens, … die allgemeine persönliche Entfaltungsfreiheit, … die einzelnen liberalen Freiheiten wie etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, … die Abwehrrechte gegen Staatseingriffe, beispielsweise gegen die Person oder gegen die Wohnung oder das Postgeheimnis« – diese Rechte werden nicht etwa dadurch »beeinträchtigt«, daß sie für jedermann, für alle gleich gelten. Im Gegenteil.
Zwischen Freiheit und Gleichheit tut sich erst ein Gegensatz auf, wenn Freiheit mit dem Recht auf unbeschränktes Sondereigentum gleichgesetzt wird. Dann ist jeder Versuch, dieses Recht zugunsten sozial Abhängiger zu begrenzen, ein Eingriff in die »Freiheit« privile gierter Verfügungsmacht, vornehmlich der Vertragsfreiheit. Schmid argumentiert:
»Noch für Bismarck und seine Zeit (stand) dem Verbot der Kinderarbeit die Vertragsfreiheit entgegen und lange Zeit später gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit, der Frauenarbeit…«
Weil diese Regelungen die Freiheit der ökonomisch Mächtigen beeinträchtigten, wurden sie nicht zugelassen. Derartige Eingriffe in die private Bestimmungsmacht der Wirtschaft sind aber für Schmid die Voraussetzung dafür, daß sich ein Stück realer Freiheit aller, besonders der abhängig Arbeitenden, herzustellen beginnt. Insoweit hat das Recht, dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes entsprechend, eine kompensatorische Rolle zugunsten der gesellschaftlich Schwachen zu spielen.
In diesen Rahmen fügen sich Schmids von der herrschenden Meinung der juristischen Zunft abweichende Ansichten zur Aussperrung und zum Streikrecht. Die Aussperrung hält Schmid für eine unzulässige Privilegierung der Unternehmer, weil damit das Streikrecht als Abwehrrecht gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen leerlaufen kann. Den politischen Streik betrachtet Schmid als ein legales, letztes Mittel, um demokratisch nicht legitimierte Einflußnahmen der Wirtschaft auf die Entscheidungen staatlicher Organe durch ein gewerkschaftliches Gegengewicht auszugleichen. Auch hier vertritt Schmid die Idee gesellschaftlicher Gleichheit. Er stellt in seinem Leben wie in seinem Denken unter Beweis, daß die Freiheit von staatlicher Vormundschaft und die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Individuen zusammengehören. In Teilen der jüngeren Richtergeneration wird seine Position der Verknüpfung von liberaler und egalitärer Gedankenwelt zunehmend wirksam – ein hoffnungsvolles Zeichen.
Wichtige Arbeiten Richard Schmids sind in den Sammelbänden »Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten« (Stuttgart 1965, Goverts Verlag) und »Das Unbehagen an der Justiz« (München 1975, Beck Verlag) enthalten; empfehlenswert sind auch seine Bücher »Justiz in der Bundesrepublik« (Pfullingen 1967, Neske Verlag) und »Unser aller Grundgesetz« (Frankfurt 1971, S. Fischer Verlag).
Joachim Perels
Ein Jurist mit Rückgrat
Richard Schmid zum 85. Geburtstag
Die Justiz hat ein doppeltes Gesicht. Sie kann als bloßes Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Macht wirken, sie kann aber auch Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Garantien gegen die jeweiligen Oberen und ihre Interessen schützen. In unserem Land, in dem sich, wie es bei Brecht heißt, »ein einzig dastehender Gehorsam« ausbildete, waren die Träger der Justiz überwiegend autoritär geprägt: im wilhelminischen Staat, in der Weimarer Republik, erst recht unterm Nationalsozialismus, aber zum nicht geringen Teil auch in der Bundesrepublik. Den meisten Justizjuristen war die frische Luft demokratischer ldeen fremd, gefährlich, zuzeiten verhaßt.
Eine der großen Gegenfiguren zur staatsfrommen Tradition deutscher Justiz ist Richard Schmid, geboren 1899. Anders als die meisten seiner Kollegen, die über den karrierefördernden Königsweg staatlicher Ämter in ihre Stellungen gelangten, erfuhr Richard Schmid die Justiz zunächst aus der umgekehrten Perspektive. Er war Anwalt, als Angeklagter, Verurteilterund Strafgefangener schließlich Opfer der Justiz.
Aber auch seine politische Einstellung machte ihn zu einem Außenseiter in seiner Juristengeneration. In der Weimarer Republik sympathisierte er mit der Sozialdemokratie, trat für die Demokratie ein. im Gegensatz zum Justizcorps, das fast ausnahmslos dem Obrigkeitsstaat verhaftet blieb.
Mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur ging Schmid sogleich in Opposition zum System staatlicher Willkür: wiederum im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der
Justizelite, die sich teils überzeugt, teils gefügig in den Dienst des neuen Regimes stellte. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verteidigte Schmid 1934 führende Köpfe der in die Illegalität gedrängten Sozialistischen Arbeiterpartei, einer von der SPD abgespaltenen Linksgruppierung, zu der beispielsweise der junge Willy Brandt gehörte.
Politisch beeinflußt wurde Schmid während der nationalsozialistischen Herrschaft durch jene kleinen Organisationen der Arbeiterbewegung, die in kritischer und intellektuell meist überlegener Auseinandersetzung mit der SPD oder der KPD – besonders im Blick auf deren Versagen angesichts der siegreichen faschistischen Gegenrevolution – entstanden waren. Auf Auslandsreisen nahm Schmid Mitte der 30er Jahre Kontakt zur Exilführung der Sozialistischen Arbeiterpartei auf, aber auch zur Leitung der an Rosa Luxemburg orientierten Kommunistischen Partei-Opposition. 1935 gründete. Schmid im Auftrag der Sozialistischen Arbeiterpartei eine illegale Gruppe in Stuttgart.
Während Schmid die nationalsozialistische Diktatur praktisch bekämpfte, stiegen viele seiner Kollegen in der Justizhierarchie des NS-Staates auf. So avancierte auch der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, zum Reichgerichtsrat – eine Differenz zur politischen Biographie Schmids, die in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb. 1938 wurde Schmid verhaftet und 1940 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafhaft arbeitete er in der Landwirtschaft; nur durch Zufall entging er der Einweisung ins Konzentrationslager, weil die Gestapo-Leitung in Stuttgart neu besetzt worden war.
Dank der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus konnte Schmid wieder eine juristische Tätigkeit ausüben. Er wurde 1945 Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, von 1953 bis 1964 war er Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart.
Die Blickrichtung der Sozialistischen Arbeiterpartei blieb bei Schmid, der 1945 in die SPD eintrat, in gewisser Beziehung erhalten. Weder genügte seinen Zielen einfach die alte Sozialdemokratie noch gar die stalinisierte KPD. Seine Hoffnungen drückte er in einem am 30. Dezember 1946 geschriebenen Brief an einen jüdischen Kampfgefährten der Sozialistischen Arbeiterpartei aus, der ins amerikanische Exil hatte entkommen können:
»Zwischen den Leuten, die sich tagtäglich mehrmals gen Osten verneigen, und denjenigen, die die SPD als eine Posten- und Stellenvermittlung betrachten und reine Ministerialisten geworden sind, bildet sich allmählich eine qualitativ und quantitativ nicht unbeträchtliche Schicht heraus.«
Die Idee des Sozialismus, von der Schmid sich leiten läßt, steht nicht im Gegensatz zum Gedanken individueller Freiheit, wie er einst in der bürgerlichen Revolutionsbewegung gegen den Absolutismus durchgesetzt worden war. In dem schon zitierten Brief grenzt Schmid, gleichsam programmatisch, einen authentischen Sozialismus von dessen autorität verzerrter Gestalt ab:
»Die Gespräche zwischen Genossen und Nicht-Genossen (laufen) alle auf die Polarität zwischen der politischen Natur der Sowjet-Union und dem Begriff der persönlichen Freiheit hin-aus, welch letzteren wir Deutsche nach den Erfahrungen des Dritten Reiches ganz besonders gut zu definieren verstehen. Ihre Lösung kann jene Polarität meiner Meinung nach nur im Sozialismus finden…«
Schmids Hoffnungen gehen, da die alten gesellschaftlichen Mächte im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarken, freilich nicht in Erfüllung. Die politische Bewegung, die die NS-Diktatur durch eine sozialistische Demokratie von Grund auf überwinden wollte, wird besiegt. Angesichts der Restauration überkommener Strukturen, besonders im Staatsapparat, bezieht Schmid die Position eines entschieden demokratischen Justizkritikers. Wohl der bedeutendste seines Faches bleibt er jener nicht-konforme Jurist, der sich dem meist konservativen Milieu der juristischen Zunft wider-setzt.
In seinen Arbeiten verfolgt Schmid hauptsächlich drei Stränge: Er setzt sich mit der.vielfach tabuierten oder apologetisch verzerrten Rolle der Justiz im Dritten Reich auseinander. Er verteidigt die Unverbrüchlichkeit rechtsstaatlicher Garantien, die der Allgewalt des Staates, zum Schutz der Menschen, Fesseln anlegen; ausgeführt hat er dies besonders in seinen vielfältigen Beiträgen zum Thema Meinungsfreiheit. Schließlich tritt er – seiner sozialistischen Idee entsprechend – für den Abbau der sozialen Abhängigkeit der unteren Schichten ein. Anders als viele seiner juristischen Kollegen, für die die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat im Mittelpunkt stehen, macht Schmid die Demokratie zum Ausgangs-und Endpunkt seines Denkens.
Schmid unterwirft die diskussionsscheue Justiz dem Forum demokratischer Öffentlichkeit. Nur so kann die Justiz ihre autoritäre Abkapselung von der lebendigen liberalen Verfassung verlieren und dem heilsamen Zwang ausgesetzt werden, sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen.
Die Texte Schmids leben von der Auseinandersetzung, greifen ein, nehmen Partei. Er adressiert sie weniger an das juristische Fachpublikum, gegen dessen Einsichtfähigkeit und wissenschaftliche Hermetik; welche die politischen Absichten oft unsichtbar macht, er ein tiefes Mißtrauen hegt. Schmid publiziert seine Arbeiten hauptsächlich in der »Zeit«, in der »Frankfurter Rundschau«, in der »Neuen Rundschau«, in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«, im »Merkur«, in den »Vorgängen« und der »Kritischen Justiz« – offenkundig in der Absicht, grundsätzlich jedermann zu erreichen.
Dem entspricht die Diktion von Schmids Arbeiten. Ihre Sprache ist urban, dem Leser zugewandt, oftmals von aphoristischer Schärfe. Er ist ein Aufklärer, der zum Mitdenken, zum Gebrauch der Vernunft anleitet, ohne daß er Gefühle, abstrakt rationalistisch, ausschließt. Er unterscheidet zwischen humanen Gefühlen von Empörung und Mitleid und destruktiven von Haß und Aggression, die fürs Denken blind machen. Für Phrasen, sozusagen die wohlklingende Form der Lüge, ist er empfindlich. Er nimmt sie beim Wort – und ihre Leere, dienstbar der puren Macht, wird deutlich.
Beispielhaft führt Schmid dies in einer Polemik mit dem einstigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Professor Hans Carl Nipperdey, vor. Nipperdey hatte davon gesprochen, daß die »in der Presse sich äußernde öffentliche Meinung« dann »nicht mehr im Rahmen der Verfassung« bliebe, »wenn sie über eine sachliche und willkommene Kritik hinausgehen und versuchen würde (…), die Rechtsprechung zu beeinflussen …« In einem Kabinett-stück präziser Kritik nimmt Schmid diese Bemerkung auseinander:
»Eine Kritik hat also ‚willkommen‘ zu sein, und sie ist es nur, wenn sie nicht versucht, die Rechtsprechung zu beeinflussen; während doch der schlichte Verstand meint, daß der Zweck der Kritik gerade darin liegt, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Der Standpunkt des Herrn Professor Nipperdey läuft darauf hinaus, die Rechtsprechung aus dem demokratischen Meinungskampf, dem zuliebe uns der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit gegeben ist, auszuschließen und für diesen Ausschluß… die Verfassung in Anspruch zu nehmen.«
Wiewohl gebildet, in der politischen Geschichte, in der Rechtsgeschichte bewandert, sattelfest auf zivilrechtlichem, strafrechtlichen, arbeits- und verfassungsrechtlichen Gebiet, breitet Schmid seine Kenntnisse nicht im Faltenwurf der Selbstdarstellung aus. Er benutzt sie als Argument. Nicht eigentlich theoretisch geht er vor, sondern nimmt erfahrbare Rechtsprobleme ins Visier. Glosse, Kommentar, Essay, sind die Formen seiner Darstellung, wenn er sich mit illegalem Telefonabhören, unkontrollierbaren Zeugen vom Hörensagen, der Einschränkung der Kunstfreiheit, der Beschneidung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder der Tödesstrafe auseinandersetzt. Schmid überläßt sich nicht einer Selbstbewegung des Begriffs, weil in ihr das leidende Individuum leicht aus dem Blick verschwindet. Um die Not und die Unmündigkeit der Einzelnen, der Gruppen und Schichten wahrzunehmen – im doppelten Sinne des Wortes -, geht Schmid den umgekehrten, induktiven Weg.
In der Entfesselung der schrankenlosen Staatsgewalt durch die Justiz – besonders im NS-Staat – erblickt Schmid das Gegenbild zur Aufgabe der Justiz in der Demokratie. Daher mißt er der Aufarbeitung der antidemokratischen Rolle der Weimarer Justiz und der des Dritten Reiches besondere Bedeutung zu.
An der Diskriminierung und Verfolgung der Juden und der Kommunisten, um einen Bereich herauszugreifen, an dem Schmid die Mißachtung des Rechts demokratischer Gleichheit demonstriert, nahm die Justiz einst aktiven Anteil. Sie gab schließlich die Schutzfunktion objektiver Tatbestände zugunsten eines prinzipiell unbegrenzten staatlichen Verfolgungsinteresses preis. Schmid zeigt dies eindrücklich an konkreten Fällen.
Das Reichsgericht sprach 1924 mehrere Angeklagte, die ein Lied mit dem Vers »Pfui Judenrepublik« gesungen hatten, mit der Begründung frei, der Vers richte sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Republik, womit, wie Schmid bemerkt, »Antisemitismus als Alibi« diente. Seine antisemitische Linie setzte das Reichsgericht im Dritten Reich fort, indem es – überbietend gehorsam – die Rassegesetze gegen die Juden noch weiter auslegte, als dies der nationalsozialistische Gesetzgeber verlangte.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte 1932 den Beschluß der Preußischen Staatsregierung, Beamten die politische Betätigung in der NSDAP und in der KPD zu verbieten, für die NSDAP aufgehoben, aber für die KPD bestätigt. Dieser rechtsgerichteten politischen Haltung konnte die Justiz nach 1933 um so konsequenter folgen. Am Beispiel des führenden, u.a. von Reichsgerichtsräten verfaßten Strafrechtskommentars veranschaulicht Schmid, wie die rechtsstaatlichen Schranken gegenüber Kommunisten vollständig niedergerissen werden. In einem Exzeß des staatlichen Zugriffs auf das Innere der Menschen konnte nach diesem Kommentar sogar derjenige wegen Vorbereitung zum Hochverrat bestraft werden, der, wie es wörtlich hieß, »seine kommunistische Gesinnung und damit seine Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in Aufzeichnungen niederlegt und sich auf diese Weise in seiner kommunistischen Einstellung bestärkt«.
Die verbreitete Behauptung, die Justiz sei durchgehend ein unschuldiges Opfer der NS-Clique geworden, widerlegt Schmid an Hand vieler Beispiele aktiver Willfährigkeit, die besonders das Reichsgericht kennzeichnete. Anders sieht es Hermann Weinkauff, jener schon erwähnte frühere Reichsgerichtsrat und spätere Präsident des Bundesgerichtshofs. In der Beurteilung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium- Schlegelberger, bringt Weinkauff seine grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Juristen im Dritten Reich zum Ausdruck. Schlegelberger, der die berüchtigte Polen-Strafrechtsverordnung von 1941 zu verantworten hat, habe Hitlers Wünsche nicht erfüllt, »um sich persönlich in seiner Stellung zu halten«; es habe bei ihm »der Gedanke eine Rolle gespielt, noch viel furchtbarere Zustände für das Recht und die Justiz« abzuwenden. Schmid kommentiert: »Der Zustand für das Recht hätte nicht furchtbarer sein können… Daß Schlegelberger, wie Weinkauff sagt, ‚in einer furchtbaren Zwangslage war‘, stimmt nicht. Was hätte ihn gehindert, um seine Entlassung zu bitten? Allerdings wäre ihm dann vielleicht die schließlich von Hitler zugewendete Sonderdotation entgangen.«
Eingehend untersucht Schmid die Ursachen für die vielfache Hörigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime. Er sieht sie pointiert darin, »daß das Personal der deutschen Justiz, seiner Geschichte, seiner Konstitution und Moral, seinem herkömmlichen Verhältnis zur Macht nach, zum Widerstand gegen eine Staatsmacht . des Unrechts und der Gewalttat unfähig war.«
Mit dem Ende der NS-Diktatur verschwand freilich nicht die auf dem rechten Auge blinde Grundhaltung der Justiz ein für alle Mal. Daß der Justizapparat des Dritten Reiches weitgehend ins politische System der Bundesrepublik übernommen wurde, hinterließ in der Rechtsprechung tiefe Spuren. Im Fall Kantorowicz macht Schmid dies deutlich. Alfred Kantorowicz, Jude, Schriftsteller, seit 1931 Mitglied der KPD, Generalsekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil, nach 1945 Leiter der schließlich von der SED verbotenen Zeitschrift »Ost und West«, Herausgeber der Werke von Heinrich Mann, Professor für Literaturwissenschaft in Ost-Berlin, floh 1957 in die Bundesrepublik. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber verweigerte Kantorowicz die Anerkennung als Flüchtling. Bei Kantorowicz, »Altkommunist, Spanienkämpfer und SED-Mitglied«, wie das Gericht sich aus-drückt, liege kein schwerer Gewissenskonflikt im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vor; er müsse die Folgen seines früheren Verhaltens auf sich nehmen. Bitter bemerkt Schmid dazu: »Kantorowicz hat sich in dem Berlin von 1931 – Hitler war vor den Toren – nicht so entschieden; wie es ein bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1964 für richtig hielt. Er hätte offen-bar noch eine Weile zuwarten sollen, ehe er in eine Partei eintrat, am besten bis zum 1. Mai 1933, an dem das Gros der beamteten deutschen Juristen in die NSDAP eintrat.«
Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Diktatur des. Dritten Reiches, in der die Vergötzung des Staates ihre letzte, grauenvolle Konsequenz zeitigte, suchte Schmid Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Einzelnen mit Hilfe politischer Freiheitsrechte und rechtsstaatlicher Garantien strikte Grenzen zu setzen. Der Bereich privater und gesellschaftlicher Kommunikation muß prinzipiell entstaatlicht sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein demokratisches Gemeinwesen entfalten und selbst regieren.
Folgerichtig bildet die Meinungsfreiheit einen Schwerpunkt von Schmids Arbeiten. Sie ist das wichtigste Grundrecht der Demokratie, das die Differenz zu einem autoritären Regime deutlich markiert. In der Bundesrepublik ist die Meinungsfreiheit bis heute besonders gefährdet. »Wir neigen dazu«, schreibt Schmid, »auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu trauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben und herbeizurufen.« Dagegen setzt Schmid leitmotivisch wiederkehrend bürgerlich aufklärerisches Rechtsdenken, das im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten beispielgebend entwickelt wurde. Schmidt zitiert die amerikanischen Richter Holmes und Brandeis: »Das Gute wird eher erreicht durch den freien Austausch der ldeen… Wir sollten ständig wachsam sein gegen Versuche, die Äußerungen solcher Meinungen zu verhindern, die wir selber verabscheuen…« »Die freie Rede bietet in der Regel genügend Schutz gegen die Ausbreitung schädlicher Lehren.«
Schmids Eintreten für die Meinungsfreiheit hat in der Bundesrepublik Rechtsgeschichte gemacht. Durch eine Verfassungsbeschwerde erreicht Schmid Anfang der 60er Jahre, daß die Geltung der Meinungsfreiheit gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Gerichte, die das Recht zur Gegenpolemik durch den Beleidigungs- paragraphen des Strafgesetzbuchs von vornherein beschnitten, ausgeweitet wird.
Nachdem Schmid vom »Spiegel« im Jahre 1954 kommunistischer Sympathien geziehen, und da er für den politischen Streik eintrat, als Verteidiger des Rechtsbruchs abgestempelt wurde, wehrte er sich in einer harten Gegenattacke: Der »Spiegel« repräsentiere eine »Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral… Es ist die sogenannte Reizliteratur… Dabei ist die Höhe des Absatzes der maßgebende Gesichtspunkt.« Wegen dieser Sätze wird Schmid in zweiter Instanz vom Landgericht Göttingen zu 150 Mark Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft wegen Beleidigung verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht aber – es ist für Schmid, hauptsächlich in der Ära Adenauer, ein liberaler Leuchtturm inmitten der oftmals restaurativen Justiz – hebt diese Entscheidung wegen Verletzung der Meinungsfreiheit auf. Die scharfe Äußerung von Schmid sei ein legitimer »Gegenschlag gegen eine unzutreffende Information der Öffentlichkeit«. Angestoßen durch Schmid interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit als Garantie des Meinungskampfes, bei der keine Seite bevorzugt werden darf. Erst »Rede und Gegenrede« schaffen – so das Bundesverfassungsgericht – die Grundlage für die Bildung der öffentlichen Meinung.
Mit seinem Engagement für die Meinungsfreiheit tritt Schmid für das Recht von Minderheiten ein: Der Sinn der Meinungsfreiheit, schreibt Schmid, liegt »zum großen Teil im Schutz des Einzelgängers, der Minderheit, des Schwächeren gegen die Mehrheit, gegen die Macht und die orthodoxe Meinung.«
Schmid begnügt sich aber nicht damit – das übersehen gerade seine liberalen Freunde – allein eine radikal-liberale Position zu vertreten. Er erweitert sie durch den egalitären Gedanken. Solange nämlich gesellschaftliche Ungleichheit existiert, ist die rechtliche Freiheit für viele eine leere Versprechung, weil sie von ihr auf Grund ihrer sozialen Lage nicht Gebrauch machen können; so ist – beispielsweise – die Pressefreiheit real zumeist nicht die Freiheit von jedermann, sondern, nach einem bekannten, zugespitzten Wort von Paul Sethe, die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Um den Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit und den gesellschaftlichen Schranken ihrer Verwirklichung zu überwinden, sucht , Schmid die Ideen der Freiheit und der Gleichheit miteinander zu verbinden.
Zu diesem Zweck setzt er sich mit der Gegenthese, Freiheit und Gleichheit ließen sich keinesfalls auf einen Nenner bringen, eingehend auseinander. Der Ansicht, die gerade gegenwärtig wieder Konjunktur hat, mehr Gleichheit bedrohe die Freiheit, hält Schmid entgegen, daß dies gerade für die politischen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen, die allen in gleicher Weise zustehen, nicht zutreffe:
»… Die eigentliche politische demokratische Freiheit der Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens, … die allgemeine persönliche Entfaltungsfreiheit, … die einzelnen liberalen Freiheiten wie etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, … die Abwehrrechte gegen Staatseingriffe, beispielsweise gegen die Person oder gegen die Wohnung oder das Postgeheimnis« – diese Rechte werden nicht etwa dadurch »beeinträchtigt«, daß sie für jedermann, für alle gleich gelten. Im Gegenteil.
Zwischen Freiheit und Gleichheit tut sich erst ein Gegensatz auf, wenn Freiheit mit dem Recht auf unbeschränktes Sondereigentum gleichgesetzt wird. Dann ist jeder Versuch, dieses Recht zugunsten sozial Abhängiger zu begrenzen, ein Eingriff in die »Freiheit« privile gierter Verfügungsmacht, vornehmlich der Vertragsfreiheit. Schmid argumentiert:
»Noch für Bismarck und seine Zeit (stand) dem Verbot der Kinderarbeit die Vertragsfreiheit entgegen und lange Zeit später gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit, der Frauenarbeit…«
Weil diese Regelungen die Freiheit der ökonomisch Mächtigen beeinträchtigten, wurden sie nicht zugelassen. Derartige Eingriffe in die private Bestimmungsmacht der Wirtschaft sind aber für Schmid die Voraussetzung dafür, daß sich ein Stück realer Freiheit aller, besonders der abhängig Arbeitenden, herzustellen beginnt. Insoweit hat das Recht, dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes entsprechend, eine kompensatorische Rolle zugunsten der gesellschaftlich Schwachen zu spielen.
In diesen Rahmen fügen sich Schmids von der herrschenden Meinung der juristischen Zunft abweichende Ansichten zur Aussperrung und zum Streikrecht. Die Aussperrung hält Schmid für eine unzulässige Privilegierung der Unternehmer, weil damit das Streikrecht als Abwehrrecht gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen leerlaufen kann. Den politischen Streik betrachtet Schmid als ein legales, letztes Mittel, um demokratisch nicht legitimierte Einflußnahmen der Wirtschaft auf die Entscheidungen staatlicher Organe durch ein gewerkschaftliches Gegengewicht auszugleichen. Auch hier vertritt Schmid die Idee gesellschaftlicher Gleichheit. Er stellt in seinem Leben wie in seinem Denken unter Beweis, daß die Freiheit von staatlicher Vormundschaft und die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Individuen zusammengehören. In Teilen der jüngeren Richtergeneration wird seine Position der Verknüpfung von liberaler und egalitärer Gedankenwelt zunehmend wirksam – ein hoffnungsvolles Zeichen.
Wichtige Arbeiten Richard Schmids sind in den Sammelbänden »Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten« (Stuttgart 1965, Goverts Verlag) und »Das Unbehagen an der Justiz« (München 1975, Beck Verlag) enthalten; empfehlenswert sind auch seine Bücher »Justiz in der Bundesrepublik« (Pfullingen 1967, Neske Verlag) und »Unser aller Grundgesetz« (Frankfurt 1971, S. Fischer Verlag).
Joachim Perels
Ein Jurist mit Rückgrat
Richard Schmid zum 85. Geburtstag
Die Justiz hat ein doppeltes Gesicht. Sie kann als bloßes Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Macht wirken, sie kann aber auch Freiheitsrechte und rechtsstaatliche Garantien gegen die jeweiligen Oberen und ihre Interessen schützen. In unserem Land, in dem sich, wie es bei Brecht heißt, »ein einzig dastehender Gehorsam« ausbildete, waren die Träger der Justiz überwiegend autoritär geprägt: im wilhelminischen Staat, in der Weimarer Republik, erst recht unterm Nationalsozialismus, aber zum nicht geringen Teil auch in der Bundesrepublik. Den meisten Justizjuristen war die frische Luft demokratischer ldeen fremd, gefährlich, zuzeiten verhaßt.
Eine der großen Gegenfiguren zur staatsfrommen Tradition deutscher Justiz ist Richard Schmid, geboren 1899. Anders als die meisten seiner Kollegen, die über den karrierefördernden Königsweg staatlicher Ämter in ihre Stellungen gelangten, erfuhr Richard Schmid die Justiz zunächst aus der umgekehrten Perspektive. Er war Anwalt, als Angeklagter, Verurteilterund Strafgefangener schließlich Opfer der Justiz.
Aber auch seine politische Einstellung machte ihn zu einem Außenseiter in seiner Juristengeneration. In der Weimarer Republik sympathisierte er mit der Sozialdemokratie, trat für die Demokratie ein. im Gegensatz zum Justizcorps, das fast ausnahmslos dem Obrigkeitsstaat verhaftet blieb.
Mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur ging Schmid sogleich in Opposition zum System staatlicher Willkür: wiederum im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der
Justizelite, die sich teils überzeugt, teils gefügig in den Dienst des neuen Regimes stellte. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart verteidigte Schmid 1934 führende Köpfe der in die Illegalität gedrängten Sozialistischen Arbeiterpartei, einer von der SPD abgespaltenen Linksgruppierung, zu der beispielsweise der junge Willy Brandt gehörte.
Politisch beeinflußt wurde Schmid während der nationalsozialistischen Herrschaft durch jene kleinen Organisationen der Arbeiterbewegung, die in kritischer und intellektuell meist überlegener Auseinandersetzung mit der SPD oder der KPD – besonders im Blick auf deren Versagen angesichts der siegreichen faschistischen Gegenrevolution – entstanden waren. Auf Auslandsreisen nahm Schmid Mitte der 30er Jahre Kontakt zur Exilführung der Sozialistischen Arbeiterpartei auf, aber auch zur Leitung der an Rosa Luxemburg orientierten Kommunistischen Partei-Opposition. 1935 gründete. Schmid im Auftrag der Sozialistischen Arbeiterpartei eine illegale Gruppe in Stuttgart.
Während Schmid die nationalsozialistische Diktatur praktisch bekämpfte, stiegen viele seiner Kollegen in der Justizhierarchie des NS-Staates auf. So avancierte auch der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, zum Reichgerichtsrat – eine Differenz zur politischen Biographie Schmids, die in der Bundesrepublik nicht ohne Folgen blieb. 1938 wurde Schmid verhaftet und 1940 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafhaft arbeitete er in der Landwirtschaft; nur durch Zufall entging er der Einweisung ins Konzentrationslager, weil die Gestapo-Leitung in Stuttgart neu besetzt worden war.
Dank der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus konnte Schmid wieder eine juristische Tätigkeit ausüben. Er wurde 1945 Generalstaatsanwalt in Baden-Württemberg, von 1953 bis 1964 war er Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart.
Die Blickrichtung der Sozialistischen Arbeiterpartei blieb bei Schmid, der 1945 in die SPD eintrat, in gewisser Beziehung erhalten. Weder genügte seinen Zielen einfach die alte Sozialdemokratie noch gar die stalinisierte KPD. Seine Hoffnungen drückte er in einem am 30. Dezember 1946 geschriebenen Brief an einen jüdischen Kampfgefährten der Sozialistischen Arbeiterpartei aus, der ins amerikanische Exil hatte entkommen können:
»Zwischen den Leuten, die sich tagtäglich mehrmals gen Osten verneigen, und denjenigen, die die SPD als eine Posten- und Stellenvermittlung betrachten und reine Ministerialisten geworden sind, bildet sich allmählich eine qualitativ und quantitativ nicht unbeträchtliche Schicht heraus.«
Die Idee des Sozialismus, von der Schmid sich leiten läßt, steht nicht im Gegensatz zum Gedanken individueller Freiheit, wie er einst in der bürgerlichen Revolutionsbewegung gegen den Absolutismus durchgesetzt worden war. In dem schon zitierten Brief grenzt Schmid, gleichsam programmatisch, einen authentischen Sozialismus von dessen autorität verzerrter Gestalt ab:
»Die Gespräche zwischen Genossen und Nicht-Genossen (laufen) alle auf die Polarität zwischen der politischen Natur der Sowjet-Union und dem Begriff der persönlichen Freiheit hin-aus, welch letzteren wir Deutsche nach den Erfahrungen des Dritten Reiches ganz besonders gut zu definieren verstehen. Ihre Lösung kann jene Polarität meiner Meinung nach nur im Sozialismus finden…«
Schmids Hoffnungen gehen, da die alten gesellschaftlichen Mächte im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarken, freilich nicht in Erfüllung. Die politische Bewegung, die die NS-Diktatur durch eine sozialistische Demokratie von Grund auf überwinden wollte, wird besiegt. Angesichts der Restauration überkommener Strukturen, besonders im Staatsapparat, bezieht Schmid die Position eines entschieden demokratischen Justizkritikers. Wohl der bedeutendste seines Faches bleibt er jener nicht-konforme Jurist, der sich dem meist konservativen Milieu der juristischen Zunft wider-setzt.
In seinen Arbeiten verfolgt Schmid hauptsächlich drei Stränge: Er setzt sich mit der.vielfach tabuierten oder apologetisch verzerrten Rolle der Justiz im Dritten Reich auseinander. Er verteidigt die Unverbrüchlichkeit rechtsstaatlicher Garantien, die der Allgewalt des Staates, zum Schutz der Menschen, Fesseln anlegen; ausgeführt hat er dies besonders in seinen vielfältigen Beiträgen zum Thema Meinungsfreiheit. Schließlich tritt er – seiner sozialistischen Idee entsprechend – für den Abbau der sozialen Abhängigkeit der unteren Schichten ein. Anders als viele seiner juristischen Kollegen, für die die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat im Mittelpunkt stehen, macht Schmid die Demokratie zum Ausgangs-und Endpunkt seines Denkens.
Schmid unterwirft die diskussionsscheue Justiz dem Forum demokratischer Öffentlichkeit. Nur so kann die Justiz ihre autoritäre Abkapselung von der lebendigen liberalen Verfassung verlieren und dem heilsamen Zwang ausgesetzt werden, sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen.
Die Texte Schmids leben von der Auseinandersetzung, greifen ein, nehmen Partei. Er adressiert sie weniger an das juristische Fachpublikum, gegen dessen Einsichtfähigkeit und wissenschaftliche Hermetik; welche die politischen Absichten oft unsichtbar macht, er ein tiefes Mißtrauen hegt. Schmid publiziert seine Arbeiten hauptsächlich in der »Zeit«, in der »Frankfurter Rundschau«, in der »Neuen Rundschau«, in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«, im »Merkur«, in den »Vorgängen« und der »Kritischen Justiz« – offenkundig in der Absicht, grundsätzlich jedermann zu erreichen.
Dem entspricht die Diktion von Schmids Arbeiten. Ihre Sprache ist urban, dem Leser zugewandt, oftmals von aphoristischer Schärfe. Er ist ein Aufklärer, der zum Mitdenken, zum Gebrauch der Vernunft anleitet, ohne daß er Gefühle, abstrakt rationalistisch, ausschließt. Er unterscheidet zwischen humanen Gefühlen von Empörung und Mitleid und destruktiven von Haß und Aggression, die fürs Denken blind machen. Für Phrasen, sozusagen die wohlklingende Form der Lüge, ist er empfindlich. Er nimmt sie beim Wort – und ihre Leere, dienstbar der puren Macht, wird deutlich.
Beispielhaft führt Schmid dies in einer Polemik mit dem einstigen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Professor Hans Carl Nipperdey, vor. Nipperdey hatte davon gesprochen, daß die »in der Presse sich äußernde öffentliche Meinung« dann »nicht mehr im Rahmen der Verfassung« bliebe, »wenn sie über eine sachliche und willkommene Kritik hinausgehen und versuchen würde (…), die Rechtsprechung zu beeinflussen …« In einem Kabinett-stück präziser Kritik nimmt Schmid diese Bemerkung auseinander:
»Eine Kritik hat also ‚willkommen‘ zu sein, und sie ist es nur, wenn sie nicht versucht, die Rechtsprechung zu beeinflussen; während doch der schlichte Verstand meint, daß der Zweck der Kritik gerade darin liegt, die Rechtsprechung zu beeinflussen. Der Standpunkt des Herrn Professor Nipperdey läuft darauf hinaus, die Rechtsprechung aus dem demokratischen Meinungskampf, dem zuliebe uns der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit gegeben ist, auszuschließen und für diesen Ausschluß… die Verfassung in Anspruch zu nehmen.«
Wiewohl gebildet, in der politischen Geschichte, in der Rechtsgeschichte bewandert, sattelfest auf zivilrechtlichem, strafrechtlichen, arbeits- und verfassungsrechtlichen Gebiet, breitet Schmid seine Kenntnisse nicht im Faltenwurf der Selbstdarstellung aus. Er benutzt sie als Argument. Nicht eigentlich theoretisch geht er vor, sondern nimmt erfahrbare Rechtsprobleme ins Visier. Glosse, Kommentar, Essay, sind die Formen seiner Darstellung, wenn er sich mit illegalem Telefonabhören, unkontrollierbaren Zeugen vom Hörensagen, der Einschränkung der Kunstfreiheit, der Beschneidung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder der Tödesstrafe auseinandersetzt. Schmid überläßt sich nicht einer Selbstbewegung des Begriffs, weil in ihr das leidende Individuum leicht aus dem Blick verschwindet. Um die Not und die Unmündigkeit der Einzelnen, der Gruppen und Schichten wahrzunehmen – im doppelten Sinne des Wortes -, geht Schmid den umgekehrten, induktiven Weg.
In der Entfesselung der schrankenlosen Staatsgewalt durch die Justiz – besonders im NS-Staat – erblickt Schmid das Gegenbild zur Aufgabe der Justiz in der Demokratie. Daher mißt er der Aufarbeitung der antidemokratischen Rolle der Weimarer Justiz und der des Dritten Reiches besondere Bedeutung zu.
An der Diskriminierung und Verfolgung der Juden und der Kommunisten, um einen Bereich herauszugreifen, an dem Schmid die Mißachtung des Rechts demokratischer Gleichheit demonstriert, nahm die Justiz einst aktiven Anteil. Sie gab schließlich die Schutzfunktion objektiver Tatbestände zugunsten eines prinzipiell unbegrenzten staatlichen Verfolgungsinteresses preis. Schmid zeigt dies eindrücklich an konkreten Fällen.
Das Reichsgericht sprach 1924 mehrere Angeklagte, die ein Lied mit dem Vers »Pfui Judenrepublik« gesungen hatten, mit der Begründung frei, der Vers richte sich nur gegen die Juden, nicht aber gegen die Republik, womit, wie Schmid bemerkt, »Antisemitismus als Alibi« diente. Seine antisemitische Linie setzte das Reichsgericht im Dritten Reich fort, indem es – überbietend gehorsam – die Rassegesetze gegen die Juden noch weiter auslegte, als dies der nationalsozialistische Gesetzgeber verlangte.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht hatte 1932 den Beschluß der Preußischen Staatsregierung, Beamten die politische Betätigung in der NSDAP und in der KPD zu verbieten, für die NSDAP aufgehoben, aber für die KPD bestätigt. Dieser rechtsgerichteten politischen Haltung konnte die Justiz nach 1933 um so konsequenter folgen. Am Beispiel des führenden, u.a. von Reichsgerichtsräten verfaßten Strafrechtskommentars veranschaulicht Schmid, wie die rechtsstaatlichen Schranken gegenüber Kommunisten vollständig niedergerissen werden. In einem Exzeß des staatlichen Zugriffs auf das Innere der Menschen konnte nach diesem Kommentar sogar derjenige wegen Vorbereitung zum Hochverrat bestraft werden, der, wie es wörtlich hieß, »seine kommunistische Gesinnung und damit seine Feindschaft gegen den Nationalsozialismus in Aufzeichnungen niederlegt und sich auf diese Weise in seiner kommunistischen Einstellung bestärkt«.
Die verbreitete Behauptung, die Justiz sei durchgehend ein unschuldiges Opfer der NS-Clique geworden, widerlegt Schmid an Hand vieler Beispiele aktiver Willfährigkeit, die besonders das Reichsgericht kennzeichnete. Anders sieht es Hermann Weinkauff, jener schon erwähnte frühere Reichsgerichtsrat und spätere Präsident des Bundesgerichtshofs. In der Beurteilung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium- Schlegelberger, bringt Weinkauff seine grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Juristen im Dritten Reich zum Ausdruck. Schlegelberger, der die berüchtigte Polen-Strafrechtsverordnung von 1941 zu verantworten hat, habe Hitlers Wünsche nicht erfüllt, »um sich persönlich in seiner Stellung zu halten«; es habe bei ihm »der Gedanke eine Rolle gespielt, noch viel furchtbarere Zustände für das Recht und die Justiz« abzuwenden. Schmid kommentiert: »Der Zustand für das Recht hätte nicht furchtbarer sein können… Daß Schlegelberger, wie Weinkauff sagt, ‚in einer furchtbaren Zwangslage war‘, stimmt nicht. Was hätte ihn gehindert, um seine Entlassung zu bitten? Allerdings wäre ihm dann vielleicht die schließlich von Hitler zugewendete Sonderdotation entgangen.«
Eingehend untersucht Schmid die Ursachen für die vielfache Hörigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime. Er sieht sie pointiert darin, »daß das Personal der deutschen Justiz, seiner Geschichte, seiner Konstitution und Moral, seinem herkömmlichen Verhältnis zur Macht nach, zum Widerstand gegen eine Staatsmacht . des Unrechts und der Gewalttat unfähig war.«
Mit dem Ende der NS-Diktatur verschwand freilich nicht die auf dem rechten Auge blinde Grundhaltung der Justiz ein für alle Mal. Daß der Justizapparat des Dritten Reiches weitgehend ins politische System der Bundesrepublik übernommen wurde, hinterließ in der Rechtsprechung tiefe Spuren. Im Fall Kantorowicz macht Schmid dies deutlich. Alfred Kantorowicz, Jude, Schriftsteller, seit 1931 Mitglied der KPD, Generalsekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil, nach 1945 Leiter der schließlich von der SED verbotenen Zeitschrift »Ost und West«, Herausgeber der Werke von Heinrich Mann, Professor für Literaturwissenschaft in Ost-Berlin, floh 1957 in die Bundesrepublik. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aber verweigerte Kantorowicz die Anerkennung als Flüchtling. Bei Kantorowicz, »Altkommunist, Spanienkämpfer und SED-Mitglied«, wie das Gericht sich aus-drückt, liege kein schwerer Gewissenskonflikt im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes vor; er müsse die Folgen seines früheren Verhaltens auf sich nehmen. Bitter bemerkt Schmid dazu: »Kantorowicz hat sich in dem Berlin von 1931 – Hitler war vor den Toren – nicht so entschieden; wie es ein bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1964 für richtig hielt. Er hätte offen-bar noch eine Weile zuwarten sollen, ehe er in eine Partei eintrat, am besten bis zum 1. Mai 1933, an dem das Gros der beamteten deutschen Juristen in die NSDAP eintrat.«
Nach den Erfahrungen mit der terroristischen Diktatur des. Dritten Reiches, in der die Vergötzung des Staates ihre letzte, grauenvolle Konsequenz zeitigte, suchte Schmid Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Einzelnen mit Hilfe politischer Freiheitsrechte und rechtsstaatlicher Garantien strikte Grenzen zu setzen. Der Bereich privater und gesellschaftlicher Kommunikation muß prinzipiell entstaatlicht sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein demokratisches Gemeinwesen entfalten und selbst regieren.
Folgerichtig bildet die Meinungsfreiheit einen Schwerpunkt von Schmids Arbeiten. Sie ist das wichtigste Grundrecht der Demokratie, das die Differenz zu einem autoritären Regime deutlich markiert. In der Bundesrepublik ist die Meinungsfreiheit bis heute besonders gefährdet. »Wir neigen dazu«, schreibt Schmid, »auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu trauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben und herbeizurufen.« Dagegen setzt Schmid leitmotivisch wiederkehrend bürgerlich aufklärerisches Rechtsdenken, das im Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten beispielgebend entwickelt wurde. Schmidt zitiert die amerikanischen Richter Holmes und Brandeis: »Das Gute wird eher erreicht durch den freien Austausch der ldeen… Wir sollten ständig wachsam sein gegen Versuche, die Äußerungen solcher Meinungen zu verhindern, die wir selber verabscheuen…« »Die freie Rede bietet in der Regel genügend Schutz gegen die Ausbreitung schädlicher Lehren.«
Schmids Eintreten für die Meinungsfreiheit hat in der Bundesrepublik Rechtsgeschichte gemacht. Durch eine Verfassungsbeschwerde erreicht Schmid Anfang der 60er Jahre, daß die Geltung der Meinungsfreiheit gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Gerichte, die das Recht zur Gegenpolemik durch den Beleidigungs- paragraphen des Strafgesetzbuchs von vornherein beschnitten, ausgeweitet wird.
Nachdem Schmid vom »Spiegel« im Jahre 1954 kommunistischer Sympathien geziehen, und da er für den politischen Streik eintrat, als Verteidiger des Rechtsbruchs abgestempelt wurde, wehrte er sich in einer harten Gegenattacke: Der »Spiegel« repräsentiere eine »Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral… Es ist die sogenannte Reizliteratur… Dabei ist die Höhe des Absatzes der maßgebende Gesichtspunkt.« Wegen dieser Sätze wird Schmid in zweiter Instanz vom Landgericht Göttingen zu 150 Mark Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft wegen Beleidigung verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht aber – es ist für Schmid, hauptsächlich in der Ära Adenauer, ein liberaler Leuchtturm inmitten der oftmals restaurativen Justiz – hebt diese Entscheidung wegen Verletzung der Meinungsfreiheit auf. Die scharfe Äußerung von Schmid sei ein legitimer »Gegenschlag gegen eine unzutreffende Information der Öffentlichkeit«. Angestoßen durch Schmid interpretiert das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit als Garantie des Meinungskampfes, bei der keine Seite bevorzugt werden darf. Erst »Rede und Gegenrede« schaffen – so das Bundesverfassungsgericht – die Grundlage für die Bildung der öffentlichen Meinung.
Mit seinem Engagement für die Meinungsfreiheit tritt Schmid für das Recht von Minderheiten ein: Der Sinn der Meinungsfreiheit, schreibt Schmid, liegt »zum großen Teil im Schutz des Einzelgängers, der Minderheit, des Schwächeren gegen die Mehrheit, gegen die Macht und die orthodoxe Meinung.«
Schmid begnügt sich aber nicht damit – das übersehen gerade seine liberalen Freunde – allein eine radikal-liberale Position zu vertreten. Er erweitert sie durch den egalitären Gedanken. Solange nämlich gesellschaftliche Ungleichheit existiert, ist die rechtliche Freiheit für viele eine leere Versprechung, weil sie von ihr auf Grund ihrer sozialen Lage nicht Gebrauch machen können; so ist – beispielsweise – die Pressefreiheit real zumeist nicht die Freiheit von jedermann, sondern, nach einem bekannten, zugespitzten Wort von Paul Sethe, die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu sagen. Um den Widerspruch zwischen der rechtlichen Freiheit und den gesellschaftlichen Schranken ihrer Verwirklichung zu überwinden, sucht , Schmid die Ideen der Freiheit und der Gleichheit miteinander zu verbinden.
Zu diesem Zweck setzt er sich mit der Gegenthese, Freiheit und Gleichheit ließen sich keinesfalls auf einen Nenner bringen, eingehend auseinander. Der Ansicht, die gerade gegenwärtig wieder Konjunktur hat, mehr Gleichheit bedrohe die Freiheit, hält Schmid entgegen, daß dies gerade für die politischen Freiheitsrechte und die rechtsstaatlichen Sicherungen, die allen in gleicher Weise zustehen, nicht zutreffe:
»… Die eigentliche politische demokratische Freiheit der Mitwirkung bei der Bildung des Staatswillens, … die allgemeine persönliche Entfaltungsfreiheit, … die einzelnen liberalen Freiheiten wie etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit, … die Abwehrrechte gegen Staatseingriffe, beispielsweise gegen die Person oder gegen die Wohnung oder das Postgeheimnis« – diese Rechte werden nicht etwa dadurch »beeinträchtigt«, daß sie für jedermann, für alle gleich gelten. Im Gegenteil.
Zwischen Freiheit und Gleichheit tut sich erst ein Gegensatz auf, wenn Freiheit mit dem Recht auf unbeschränktes Sondereigentum gleichgesetzt wird. Dann ist jeder Versuch, dieses Recht zugunsten sozial Abhängiger zu begrenzen, ein Eingriff in die »Freiheit« privile gierter Verfügungsmacht, vornehmlich der Vertragsfreiheit. Schmid argumentiert:
»Noch für Bismarck und seine Zeit (stand) dem Verbot der Kinderarbeit die Vertragsfreiheit entgegen und lange Zeit später gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit, der Frauenarbeit…«
Weil diese Regelungen die Freiheit der ökonomisch Mächtigen beeinträchtigten, wurden sie nicht zugelassen. Derartige Eingriffe in die private Bestimmungsmacht der Wirtschaft sind aber für Schmid die Voraussetzung dafür, daß sich ein Stück realer Freiheit aller, besonders der abhängig Arbeitenden, herzustellen beginnt. Insoweit hat das Recht, dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes entsprechend, eine kompensatorische Rolle zugunsten der gesellschaftlich Schwachen zu spielen.
In diesen Rahmen fügen sich Schmids von der herrschenden Meinung der juristischen Zunft abweichende Ansichten zur Aussperrung und zum Streikrecht. Die Aussperrung hält Schmid für eine unzulässige Privilegierung der Unternehmer, weil damit das Streikrecht als Abwehrrecht gegenüber den wirtschaftlich Mächtigen leerlaufen kann. Den politischen Streik betrachtet Schmid als ein legales, letztes Mittel, um demokratisch nicht legitimierte Einflußnahmen der Wirtschaft auf die Entscheidungen staatlicher Organe durch ein gewerkschaftliches Gegengewicht auszugleichen. Auch hier vertritt Schmid die Idee gesellschaftlicher Gleichheit. Er stellt in seinem Leben wie in seinem Denken unter Beweis, daß die Freiheit von staatlicher Vormundschaft und die gesellschaftliche Selbstbestimmung der Individuen zusammengehören. In Teilen der jüngeren Richtergeneration wird seine Position der Verknüpfung von liberaler und egalitärer Gedankenwelt zunehmend wirksam – ein hoffnungsvolles Zeichen.
Wichtige Arbeiten Richard Schmids sind in den Sammelbänden »Einwände. Kritik an Gesetzen und Gerichten« (Stuttgart 1965, Goverts Verlag) und »Das Unbehagen an der Justiz« (München 1975, Beck Verlag) enthalten; empfehlenswert sind auch seine Bücher »Justiz in der Bundesrepublik« (Pfullingen 1967, Neske Verlag) und »Unser aller Grundgesetz« (Frankfurt 1971, S. Fischer Verlag).
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