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Licht auf blinde Flecken des Marxismus

30. März 1986
Datum: Montag, 03. August 2020

Ernst blochs politische Philosophie

aus: Vorgänge Nr. 80 (Heft 2/1986), S.35-44

Joachim Perels

Entfernung des Stachels kritischer Utopie

Die gängigen Formen des Umgangs mit der Philosophie Blochs haben eine fatale Kehrseite. Die Anerkennung, die Bloch bei uns zuteil wird, ist oftmals nichts anderes als ein subtiles Mittel, um sich gegen den kritischen Geist seiner Philosophie, ihren Rammstoß gegen die Oberen jeglicher Gestalt, zu immunisieren. Bloch droht entpolitisiert, bildungsbürgerlich kaltgestellt zu werden. Seine Philosophie verwandelt sich in einen interessanten, aber zu nichts verpflichtenden Ansatz innerhalb der unendlichen Fülle geistiger Produktionen. Sein plebejischer Blick, dazu bestimmt, die Lage der Ohnmächtigen, Geschlagenen und Unterdrückten zu verändern, verschwindet in einer adressatenlosen, höchstens noch ästhetisch stimulierenden Präsentation seines Werks. Dann aber kann die »Herr-und-Knechtzeit«, wie Bloch sie mit scharfem und überschreitendem Blick nennt, bleiben wie sie ist.

Blochs Denken hat, im Gegensatz zur herrschenden, kontemplativen Stillegung seiner Philosophie, keinen bloßen Selbstzweck: »Jedes Denken und Herausbringen geschieht um des Bringens, folglich des Tuns willen. Auf das Tun und sein Gelingen verweist letztlich jedes richtig Gedachte, eigentlich Wahre.«[1]

Da – Blochs Kerngedanken entsprechend — die Welt als Heimat der nicht mehr durch Herrschaftsverhältnisse entfremdeten Menschen erst noch geschaffen werden muß, ist seine Philosophie notwendig auf geschichtsbildende Praxis angelegt. Blochs Begriff des Verhältnisses von Theorie und Praxis, systematisch entwickelt in der Interpretation der Feuerbachthesen von Marx im 19. Kapitel des »Prinzip Hoffnung«, steht in einer doppelten Frontstellung. Sie richtet sich ebenso gegen ein erkenntnisloses, die objektiven Gegebenheiten überschlagendes Handeln, wie gegen eine bloß selbstgenügsam betrachtende Beziehung zur Wirklichkeit: »Gediegende Veränderung, gar die zum Reich der Freiheit, kommt einzig durch gediegene Erkenntnis zustande… Praktizisten aus der hohlen Hand, Schematiker mit Zitatenschatz haben sie nicht verändert.« So gilt: »Bei Marx ist nicht deshalb ein Gedanke wahr, weil er nützlich ist, sondern weil er wahr ist, ist er auch nützlich.« Theorie als Schlüssel, Praxis als Hebel, so lautet Blochs Formel – und das heißt: »Die dialektisch historische Tendenzwissenschaft Marxismus ist… vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeiten in ihr; all das zum Zweck der Handlung.«[2].

Nicht nur durch eine leere, dekorative Vereinnahmung wird Blochs Denken die politische Spitze abgebrochen. Sein wie immer undogmatischer Marxismus hat zur Zeit wenig Konjunktur auf dem wissenschaftlichen Markt gerade auch kritischer Theorien. Da spricht nicht allein Gorz über den Abschied vom Proletariat als einem Subjekt gesellschaftlicher Veränderung, da konstatiert auch Habermas das Veralten des sogenannten Produktionsparadigmas und der arbeitsgesellschaftlichen Utopien: der Vorstellung also, daß sich die Befreiung der Menschen wesentlich als Emanzipation von den fremdbestimmten Zwängen des Arbeitsprozesses darzustellen hätte. So wenig auf derartige Revisionen der sozialistischen Theorie hier im einzelnen eingegangen werden kann, mag festgehalten werden, daß Habermas sich hauptsächlich deshalb von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie lossagt, weil er der Marxschen Tradition einen technischen Begriff des Arbeitsprozesses zuordnet. Zumal von Bloch aber wäre zu lernen, daß die Form des durch Arbeit vermittelten Stoffwechsels mit der Natur von den Beziehungen der Menschen nicht abzulösen ist.

Blochs Denken verweigert sich einer Absage an die Marxsche Theorie. Bloch ist vielmehr, wie Negt treffend formuliert, der produktivste Ketzer im Marxismus, der dessen offene Probleme zum Thema macht, gerade weil er an dem ursprünglichen Ziel von Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«[3], ohne Einschränkung, ja leitmotivisch festhält.

Zentrale Fragestellungen der politischen Philosophie Blochs lassen sich als der Versuch begreifen, zu erklären, warum der Sozialismus, die Aufhebung der ökonomischen und politischen Herr-Knecht-Beziehungen, bisher – sieht man von kurzen geschichtlichen Augenblicken ab – nicht Wirklichkeit wurde. Bloch nimmt die Umschlagspunkte, die den Sozialismus blockieren, theoretisch ganz ernst. Er zieht sich nicht ins Wetterhäuschen der Klassiker zurück, sondern stellt etwa die für einen Sozialisten schockierende Frage, ob sich der Marxismus im Stalinismus auch zur Kenntlichkeit gewandelt habe. Aber er läuft damit nicht, wie manche enttäuschten Sozialisten, zum Kapitalismus über, im Gegenteil: Bloch nimmt kaum erkannte Probleme des Marxismus allein deshalb ins Visier, weil von ihrer Lösung nicht zuletzt die Möglichkeit abhängt, daß der Sozialismus als gesellschaftliche Demokratie geschichtliche Realität werden kann.

So sehr sich Blochs philosophisch-politische Existenz seit dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1977 im vielfältigen schriftstellerischen Kampf gegen die Oberen, ihre Herrschaftsverhältnisse, Kriege und Konterrevolutionen niederschlug – vor allem das Buch »Erbschaft dieser Zeit« von 1935, aber auch der Band »Politische Messungen« von 1970 legen davon Zeugnis ab -. so liegt der Akzent unserer Erörterungen nicht auf einer – gewiß lehrreichen – Chronologie und geschichtlichen Einordnung der politischen Artikel, Aufsätze und Bücher Blochs, zumal wir hierzu mit der Biographie Peter Zudeiks eine ausgezeichnete, die stalinistische Periode des Blochschen Denkens nicht ausklammernde Darstellung besitzen[4]. Für uns stehen vielmehr Kernpunkte der Blochschen Theorie sozialer Befreiung im Zentrum; denn Bloch ist, wie er halbironisch in einem Brief an Klaus Mann schreibt, »eine Art Kirchenvater kommender Probleme und noch verdeckter Lösungsinhalte« [5].

Zu diesen von Bloch systematisch durchdachten Fragen zählen wesentlich drei: das Problem der Verankerung politischer Freiheit im Sozialismus, das Problem der Aufhebung des bisherigen Ausbeutungsverhältnisses zur Natur und das Problem der Entwicklung einer handlungsanleitenden politischen Pädagogik, die den Menschen nicht einfach von oben ein sogenanntes richtiges Bewußtsein überstülpt.

Keine Installierung der Menschenrechte
ohne Ende der Ausbeutung

Die Bedeutung des bürgerlich revolutionären Naturrechts für die Konstruktion einer freien Gesellschaft, in der nicht nur die soziale Not, sondern auch die politische Fremdbestimmung der Erniedrigten und Beleidigten aufgehoben ist, faßt Bloch so: »Naturrechtler wurden selten zu Vorläufern des Sozialismus gezählt. Trotz bedeutsamer Marx- und Engelsstellen über individuelles Kolorit, über sozialistische Freisetzung aller Individuen, das Ende der Regierung über Personen, das Absterben des Staates insgesamt. Ein Nachlassen, zuweilen auch Ausfallen der Belichtung liegt trotzdem vor, hat auch zweifellos im Stalinismus den zentralistischen Effekt verstärkt, der aus dem russischen Manko an bürgerlich errungenen Freiheiten kam. Die behauptete Herkunft der Unterdrückung und Selbstentfremdung einzig aus dem Privatbesitz der Produktionsmittel, diese rein ökonomische Beschränkung gibt für die Unterdrückung nur den halben Grund an. Wie neu entfremdet macht gerade der Funktionärsstaat und kraft des Ausfalls naturrechtlicher Praxis sozusagen, soll heißen, der sowenig strapazierten Postulate des aufrechten Gangs «[6].

Bloch knüpft am Vernunftrecht der Aufklärung, das als Brechstange gegen tyrannische Herrschermacht fungierte, deshalb an, weil dessen Fragestellung auch für eine sozialistische Gesellschaft nicht überholt ist. Rousseau formuliert sie – und Bloch bezieht sich ausdrücklich darauf: »Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschaftsglieds verteidigt und schützt, und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?«[7] Diese Fragestellung findet ihre versuchte Antwort in dem Gedanken, daß nur die Beteiligung aller an der Hervorbringung des allgemeinen Willens – die demokratische Konstitution des Gemeinwesens also -, die Unterwerfung der Individuen unter einen fremden Zwang ausschließen kann. In der Konsequenz dieser Antwort liegt es, daß der Staat, soweit er eine von den Individuen abgehobene und sie dirigierende Einrichtung ist, dazu bestimmt ist abzusterben, wie dies Fichte, aber auch der frühe Hegel ins Auge faßten – lange vor Marx und Engels.

Die sozialistische Vergegenwärtigung des bürgerlich-revolutionären Vernunftrechts, das durch die Volkssouveränität, durch die Menschen- und Bürgerrechte die politischen Angelegenheiten in die Hände der Individuen legt, bringt Bloch in einen Gegensatz zum kapitalistischen wie zum staatssozialistischen System. Hierfür prägt er die Formel: »Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.«[8] Das heißt: Die Menschenrechte, Inbegriff der (von der Sanktionierung des Bourgeois abtrennbaren) Normen politischer und gesellschaftlicher Selbstbestimmung, weisen über die kapitalistische Gesellschaft, die deren Realisierung in den materiellen Lebensverhältnissen durch private ökonomische Herrschaft blockiert, ebenso hinaus wie über die staatssozialistische Ordnung politischer Unfreiheit, die eine tatsächliche gesellschaftliche Aneignung des Produktionsprozesses unmöglich macht.

Es ist kein Zufall, daß im Kapitalismus von der Theorie des revolutionären bürgerlichen Naturrechts vielfach nur noch, wie Bloch formuliert, »Tod und Scheinleben«[9] übrig bleibt. Dazu, kursorisch, einige Beispiele: bei Hans Kelsen – obgleich einer der größten demokratischen Juristen – ist die demokratische Konstituierung des Gemeinwesens rechtstheoretisch nicht mehr zu begründen; bei Carl Schmitt, dem autoritären Antipoden Kelsens, wird das kodifizierte Vernunftrecht einer demokratischen Verfassung anti-rechtlichen Dezisionen des Staatsapparats ausgeliefert;[10] bei Peter Graf Kielmannsegg, einem profilierten zeitgenössischen Politikwissenschaftler, gilt das utopische, in den Freiheitsrechten enthaltene Potential demokratischer Verfassungen als unvereinbar mit den gesellschaftlichen Stabilitätserfordernissen.[11] Und Niklas Luhmann setzt den Schlußpunkt, indem er die vernunftrechtliche Idee der Selbstbestimmung für erledigt erklärt und an ihre Stelle das Prinzip funktionaler Systemstabilierung treten läßt.[12]

Auch in der Rechtstheorie des sogenannten realen Sozialismus, die im Stalinismus ausgeformt wurde und modifiziert bis heute fortwirkt, bleibt von der vernunftrechtlichen Gedankenwelt, die allgemeinen Angelegenheiten durch den freien und gleichen Willen aller zu regeln, nichts übrig als dessen Gegenteil: nämlich verselbständigtes staatliches Zwangsrecht. Bloch exemplifiziert dies an der Position Wyschinskijs, des führenden Rechtstheoretikers der Stalinära, der zugleich Ankläger in den Moskauer Prozessen war: Bei Wyschinskij, »Formulator der unter Stalin seit 1936 mehr und mehr personifizierten Allmacht… bleibt nur Staatsrecht übrig, so formidabel wie je und formidabler… Sichtbar steht hier Lenins, vorher von Engels formulierte Prognose eines allmählichen Absterbens des Staates überhaupt nicht zur aktuellen Diskussion.«[13] Das ist kein Zufall, denn: »Absterben des Staates, darin ist gewiß nicht das gute Gewissen für Staatsomnipotenz, also für alte…, herrschaftliche norma agendi allein.«[14]

Nur dann also, wenn das bürgerliche revolutionäre Ideal des Citoyen, der Selbstbestimmung der Individuen, in einer nicht mehr durch das Privateigentum definierten Gesellschaft praktisch aufgenommen wird, kann Sozialismus als ein Prozeß der Befreiung aus gesellschaftlicher Unmündigkeit zu entstehen beginnen. Die politischen Staatsbürgerrechte, die Vereinigungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit bilden so die Voraussetzung dafür, daß die gesellschaftliche Aneignung des Produktionsprozesses sich in demokratischen, also kontroversen Formen der Diskussion und Entscheidungsbildung vollzieht. Die Freiheitsrechte, »das Inventar des bisherigen Naturrechts«, bilden, formuliert Bloch zusammenfassend, »nützliche Instrumente… gegen alle Verdinglichung von Machtmitteln, Kontrollosigkeit der Macht«[15]. Und positiv bedeutet dies: »Subjektive-öffentliche Rechte in wirklicher Konsequenz und Fülle enthalten derart die Aufhebung der gesamten Aus-

beutung.[16]

Diese theoretische Kernthese Blochs wurde geschichtlich beglaubigt von den großen Reformbewegungen im Staatssozialismus: durch den Prager Frühling von 1968 und durch die Konstituierung der Gewerkschaft Solidarität in Polen 1980/81. In beiden Reformbewegungen ging es darum, die verselbständigte Staatsmaschine – nicht unähnlich der absolutistischen, gegen die das Vernunftrecht angetreten war – zunächst der Bestimmungsgewalt der Gesellschaft zu öffnen, um sie schließlich grundlegend zu verändern. Im Prager Frühling, dem Bloch sich mit »brüderlichen Kampfesgrüßen«[17] ausdrücklich verbunden erklärte, geschah dies hauptsächlich durch die Aufhebung der Zensur und der Garantie der Meinungsfreiheit, durch welche die Formulierung des allgemeinen Willens nicht mehr unverrückbar in den Händen des abgehobenen Partei- und Staatsapparats lag.[18] Grundstürzender noch wirkte in Polen die Garantie der Koalitionsfreiheit, die einen Keil in das Fundament der staatszentrierten ökonomischen Herrschaftsstrukturen schlug. Denn aus der Koalitionsfreiheit folgte ein Mitwirkungsrecht an der Lenkung des ökonomischen Prozesses; die Bestimmung des Verhältnisses von Akkumulations- und Konsumtionsrate, insgesamt also die Verwendungsformen des gesellschaftlichen Mehrprodukts wurden demokratischer Einwirkung zugänglich.[19] Daß die polnischen und die tschechoslowakischen Reformbewegungen allein aus machtpolitischen Gründen scheiterten, keineswegs aber deshalb, weil die historisch kaum erprobte Verbindung von Sozialismus und Demokratie nicht funktionsfähig gewesen wäre, zeigt, daß in ihnen, bis heute, ein Stück Zukunft in der Vergangenheit steckt. Die wie immer kurze Existenz eines Sozialismus politischer Freiheit zeugt dafür, daß die folgenden, zielgebenden Sätze Blochs keine abstrakte Utopie, sondern eine reale Möglichkeit bezeichnen: »Freiheit ist Freiheit vom Beherrschtwerden durch andere Menschen, letzthin durch Verhältnisse, welche dieses Beherrschtwerden objektiv ermöglichen. Der Sozialismus aber intendiert bereits auf seinem Weg, indem er ein gelingender Weg ist, Aufhebung genau dieser Verhältnisse. Denn er intendiert die öffentliche Ordnung… nur als die unverdinglichte Ordnung einer öffentlich möglich gewordenen Freiheit… aller.«[20]

Ende des Tierbändigerstandpunkts
gegenüber der Natur

Wenn politische Entfremdung und ökonomische Unterdrückung aufgehoben sind, kann sich in einem weiteren, für Bloch unabdingbaren, Emanzipationsschritt auch das Verhältnis zur Natur ändern. Solange der Umgang mit der Natur kapitalistisch unter die Zwänge des Profitprinzips gestellt ist oder staatssozialistisch den durch totale Bürokratisierung erzwungenen Gesetzen »organisierter Verantwortungslosigkeit« (Hegedüs) folgt, läßt sich das Verhältnis zur Natur schwerlich ins reine bringen. Bloch ist, lange bevor das allgemeine Bewußtsein von der ökologischen Krise entstand, in der marxistischen Tradition einer der ganz wenigen, die das für die Fortexistenz der menschlichen Gattung folgenreiche Problem der Beziehung zur Natur nicht unter dem eindimensionalen Aspekt der Naturbeherrschung faßt – Bloch entfaltet vielmehr systematisch die frühe, bald in Vergessenheit geratene oder als schlecht metaphysisch verworfene Marxsche Formel von der »Resurrektion der Na-

tur«. In einem Brief an Adolf Lowe von 1944 bezeichnet Bloch die besondere Fragerichtung seiner Philosophie der Natur: »Gibt es; wie eine mögliche Vermittlung mit dem Subjekt der Geschichte, so auch eine mit dem – wie immer hypothetischen – Subjekt der Natur?… Liegt in dieser Linie Marxismus der Technik? Engels hat dergleichen noch nicht, denn er parallelisiert die sozialistische Gesellschaft mit der ‚gebändigten Elektrizität des Telegraphen und des Lichtbogens‘. Was ältere Sozialdemokraten, wie Dietzgen etwa, über ‚Naturbeherrschung‘ schreiben, klingt, als wäre das Credo des Freiherrn von Stümm auf die Natur abgebildet. Es ist von einem konkreten Verhältnis zur Natur und ihren – wie immer hypothetischen – Kräften … weit entfernt… Ist es nicht ein Grenzideal für den (unvorhandenen) Marxismus konkreter Technik, in Natur, sage man, wie in den Busen eines Genossen zu schauen?«[21]

Der bisherige durch die moderne Naturwissenschaft und die ihr entsprechende Technik bestimmte Umgang mit der Natur geschieht – im Westen wie im Osten – in einer instrumentellen Form, die die qualitativen Eigenheiten der Natur, ihren Geschmack, ihre Farbe, ihre Sinne, ihr inneres, lebendiges Gleichgewicht in der Quantifizierung ihrer Gesetzmäßigkeiten verschwinden läßt. War im vornaturwissenschaftlichen Weltbild jener qualitative Blick noch vorhanden, so verschwindet er mit dem Siegeszug der Naturwissenschaft. Nur untergründig bleibt etwa bei Goethe (in seiner Farbenlehre) oder beim frühen Marx (im Postulat von der »Humanisierung der Natur«) ein Stück des alten Naturverständnisses erhalten. Der technische Umgang mit der Natur aber hat fatale Konsequenzen: »Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland, und vom Landesinneren weiß sie nichts, die Materie der Sache ist ihr transzendent.«[22]

Die Folgen einer bloß ausbeutenden Beziehung zur Natur lassen das Zusammenleben der Menschen nicht unberührt: » Fortschritten der ‚Naturbeherrschung‘ können sehr große Rückschritte der Gesellschaft entsprechen.«[23] Wenn nämlich, wie es die Logik technischer Verfügung gerade möglich macht, aus der Natur gewaltige Destruktionskräfte entbunden werden, die von ökologischen Katastrophen – die Verseuchung von Grundwasser, von Flüssen, das Sterben von Wäldern sind nur das augenfälligste Indiz – bis zur atomaren Selbstvernichtung der Gattung reichen, schlagen sie unmittelbar auf die Menschen zurück. Entsprechend formuliert Brecht im »Leben des Galilei«, wohin eine Enthumanisierung der Natur, die Entfesselung ihrer Zerstörungspotentiale führt: »Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein.«

Blochs Perspektive für eine grundlegende Veränderung der Beziehungen zwischen Mensch und Natur kristallisiert sich in den spekulativen Begriffen eines »hypothetischen Natursubjekts« und einer ihr korrespondierenden »Allianztechnik«. Gemeint ist damit, die Eigenart der Natur, zumal ihre ökologischen Gesetzmäßigkeiten zu respektieren, eine Technik zu entwickeln, die diese Eigenarten erhält und fördert, nicht aber zerstört. Damit negiert Bloch nicht etwa, in einer einfachen Antithese, die bisherige naturwissenschaftliche Erkenntnisform, denn gewiß entspricht ihr – etwa in Gestalt des Gesetzes vom freien Fall – ein bestimmter Ausschnitt des Natur-

ganzen. Bloch geht es allein darum, die in der herrschenden Form der Naturbeziehung ausgeblendeten qualitativen Momente in die Begriffsbildung zurückzuholen: »Marxismus der Technik, wenn er einmal durchdacht sein wird, ist keine Philantropie für mißhandelte Metalle, wohl aber das Ende der naiven Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunkt auf die Natur.«[24]

Bloch begreift das Verhältnis zur Natur nicht als isoliertes, gleichsam bloß technisch zu lösendes Problem, sondern als ein Element der gesellschaftlichen Gesamtverfassung. Das heißt: Erst eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht mehr von herrschaftssichernden äußeren Zwangsgesetzen gelenkt werden, kann der Natur ein anderes Gesicht zuwenden. Wird das bürgerlich-revolutionäre Vernunftrecht, abgelöst von seiner Fixierung des Privateigentums, zum Konstruktionsgerüst der politischen Freiheit aller Individuen, verändert sich auch das Verhältnis zur Natur. Dann nämlich hängt die Gestalt der Natur wirklich vom bewußten Handeln der Menschen ab: »Und erst wenn das Subjekt der Geschichte: der arbeitende Mensch, sich als Hersteller der Geschichte erfaßt, folglich das Schicksal in der Geschichte aufgehoben hat, könnte er auch dem Produktionsherd in der Naturwelt nähertreten«. [25]

Ob dieses weitgesteckte Ziel Realität wird, ist, auch bei Bloch, nicht ausgemacht. Hoffnung kann, da sie keine Zuversicht ist, enttäuscht werden, ihr Scheitern ist möglich. Welche Tendenz sich geschichtlich durchsetzt, hängt von der Praxis der Menschen, ihrem politischen Kampf ab. Weder die Haltung des Fatalismus noch die des fortschrittssicheren Optimismus ist angebracht, weil damit eingreifendes, den historischen Prozeß bestimmendes Handeln ausfällt.

Traumenergien
als politisches Mobilisierungspotential

Wie aber emanzipatorisches Handeln entstehen kann, das ist nicht zuletzt ein Problem politischer Pädagogik. Bloch entwickelt hierfür eine produktive und politisch weitertreibende Fragerichtung, die über Positionen des überkommenen Marxismus hinausführt. In der von Karl Kautsky begründeten, von Lenin aufgegriffenen, bis heute weiterwirkenden Konzeption der Vermittlung von Theorie und praktisch folgenreicher politischer Einsicht besteht die Vorstellung, daß den in ökonomischer Abhängigkeit gefesselten Schichten von aufgeklärten Intellektuellen das Bewußtsein für ihre Lage vermittelt werden müsse: »Das moderne sozialistische Bewußtsein kann«, sagt Kautsky, »nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht… Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz; in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig entstandenes.«[26] Gewiß enthält dieser Gedanke Kautskys, trotz der fatalen und starren, um nicht zu sagen autoritären Entgegensetzung von Intelligenz und Proletariat, ein Wahrheitsmoment, wenn man sich vergegenwärtigt, welche geschichtliche Rolle aus dem Bürgertum kommende Intellektuelle, nämlich Karl Marx und Friedrich Engels, für den Selbsterkenntnisprozeß der Arbeiterschaft im vorigen Jahrhundert gespielt haben. Bloch negiert nicht dieses Wahrheitsmoment. Er relativiert nur entschieden dessen rationalistische Überspannung, kritisiert den »Kopfglauben« als »baren Idealismus«, daß »das Wahre nur gesagt zu werden braucht, um unweigerlich zu wirken.«[27]

Den geschichtlichen Ausgangspunkt für Blochs nicht bloß einlinig rationalistische Idee politischer Pädagogik bildet die Erfahrung, daß im heraufziehenden Nationalsozialismus die proletarisierten Schichten der Kleinbürger, der Angestellten, der Bauern trotz und sogar wegen der in ihnen ausgeprägten emotionalen antikapitalistischen Sehnsucht, die etwa in der nazistischen Formel von der »Brechung der Zinsknechtschaft« zum Ausdruck kam, zur Massenbasis des Faschismus wurden, ohne die er nur schwerlich hätte siegen können. Daß diese Schichten nicht auf die Seite des Sozialismus hinübergezogen werden konnten, resultiert, nach Blochs nicht überholter Einsicht, vor allem daraus, daß die Besonderheiten der sozialen Lage der proletarisierten Mittelschichten und ihres Bewußtseins von der Arbeiterbewegung nur unzureichend erkannt wurden. Das widersprüchliche Bewußtsein derer, die entgegen ihren vernünftigen Interessen dem Nationalsozialismus folgten, wurde in der sozialistischen Agitation als zurückgeblieben denunziert – allein bestimmt durch die Betrugsabsichten der faschistischen Führer und ihrer gesellschaftlichen Hintermänner. Bloch setzt gegen diese abstrakt aufklärerische Position die Notwendigkeit, die gesamte Gefühlswelt der den Faschismus tragenden Mittelschichten nicht auszukreisen, sondern als Anknüpfungspunkt ernst zu nehmen: »Gefühle sind Besonderheiten, die der Rotstift heilt, das Alogische im Menschen hat keinen Rang als den, beschimpft oder mindestens wegkonstruiert zu werden. Die Gleichgültigkeit gegen das dumpfe Gefühl (worin so viele Opfer Hitlers stecken, geradezu hilfeschreiend stecken) ist bei Hegel genau so groß wie bei manchen Marxisten. ‚Wenn ein Mensch‘, sagt Hegel, ’sich über etwas nicht auf den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, die Partikularität, abschließt`«.[28] Umgekehrt aber gilt es – und die politische Notwendigkeit dieses Perspektivwechsels hat Bloch am klarsten gesehen – die affektiven Antriebskräfte der absinkenden Mittelschichten, ihre Träume, Wünsche und Erwartungen – freilich nicht unkritisch – aufzugreifen, um sie überhaupt für das Projekt des Sozialismus zu gewinnen. Diese affektiven Antriebskräfte drücken sich in utopisch gezielten Idealen – zum Beispiel denen des Reiches, des Retters, der Gemeinschaft – aus, die aber von den faschistischen Gegenrevolutionären besetzt wurden. »Es ist an der Zeit«, schreibt Bloch 1934 im Vorwort zu seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit«, »der Reaktion diese Waffen aus der Hand zu schlagen«, denn: »Nicht alles noch ‚Irrationale` ist einfach auflösbare Dummheit«.[29] Bestimmte von den Nazis manipulativ herausgestellte Ideale einer interessenharmonischen Gemeinschaft dürfen nicht nur als Instrument des Betrugs, das sie angesichts der im Faschismus noch äußerst zugespitzten Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse tatsächlich sind, verworfen werden, ihr utopischer, die Klassengesellschaft richtender Gehalt muß hiervon abgetrennt werden.

An der Selbstbezeichnung des Nationalsozialismus in Deutschland – am Wort vom »Dritten Reich« – macht Bloch in einem großen 1937 in Moskau zuerst erschienen Aufsatz mit dem Titel »Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches« beispielhaft deutlich, daß der »Traumkeim«, der in diesem Wort einst enthalten war, »das ungeheure Falsifikat widerlegt, das die Nazis hergestellt haben«.[30] Denn mit dem Zielbegriff vom erst herzustellenden Dritten Reich verbanden sich in der christlichen Ketzergeschichte sozialrevolutionäre Antriebe, die eine Aufhebung von Herr-Knecht-Beziehungen, wie sie sich wesentlich in der Trennung der Menschen durch das Sondereigentum weniger manifestierten, intendierten: das vollkommene Gegenteil dessen, was die Nazis mit der terroristischen Sicherung der privatkapitalistischen Gesellschaft praktizierten.

Insgesamt also sucht Bloch eine handlungsaktivierende politische Pädagogik über ein intellektuelles Aufklärungsmodell, so wichtig ihr Stellenwert ist, hinauszuführen: Die affektiven Traumenergien der Menschen werden als ein Mobilisierungspotential begriffen, das nicht länger rechts liegen gelassen werden darf. Das führt zu einer Gewichtsverschiebung der Kernpole marxistischen Denkens: nämlich des Verhältnisses von Kritik und Antizipation. Zu diesem Zweck trifft Bloch die grundlegende Unterscheidung zwischen Marxismus als Kältestrom und als Wärmestrom. Kältestrom meint, die ökonomischen Zwänge, Gesetze und ideologischen Nebelbildungen durch das Licht der rationalen Ideolögie- und Interessenanalyse aufzuklären. Die Instrumentarien des Kältestroms dienen der bestimmten Negation des schlecht Bestehenden: So wenn Marx die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit als Verhüllungsformel der in der privaten Produktionssphäre herrschenden Fremdbestimmung der unmittelbaren Produzenten kennzeichnet. Der Wärmestrom des Marxismus existierte aber lange Zeit nur am Rande, weil für Marx und Engels – als fast zu getreuen Schülern Hegels – die Utopie in der Wissenschaft der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze aufzugehen schien: »So erschien zuweilen ein allzu großer Fort-schritt von der Utopie zur Wissenschaft, dergestalt, daß mit der Wolke auch die Feuersäule der Utopie liquidiert werden konnte, das Mächtig-Vorherziehende.«[31]

Der Wärmestrom des Marxismus, den Bloch stärker in den Vordergrund rückt, vereinigt die Erwartungsaffekte der unteren Klassen, zielt auf das positive, geschichtlich zu realisierende Bild einer nicht mehr in gegensätzliche Klassen getrennten Gesellschaft. Dieses antizipierende Bild »greift nicht nur in den Verstand, sondern ebenso in die Phantasie, die sozialistisch so lange unterernährt worden war.«[32]

[1] E. Bloch, Experimentum Mundi, Frankfurt am Main 1975, S.239

[2] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, S. 326, S. 321 f, S. 333, S. 331

[3] K. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), in: K. Marx, Frühe Schriften 1. Band, hg. von H.-J. Lieber und P. Furth, Stuttgart 1962, S.497

[4] P. Zudeik, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch – Leben und Werk, Moos/Baden-Baden 1985; vgl. auch J. Perels, Theorie als Schlüssel, Praxis als Hebel. Zum Gedenken an Ernst Bloch, Junge Kirche H. 11/1977, S.560 – 564

[5] E. Bloch, Briefe 1903 – 1975, 2. Band, Frankfurt am Main 1985, S.646

[6] E. Bloch, Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie (1968), in: ders., Politische Messungen. Pestzeit, Vormärz, Frankfurt am Main 1970, S. 454

[7] J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762), Stuttgart 1966, 5.43 (1. Buch, 6. Kapitel), vgl. auch Blochs Bezugnahme auf diese Stelle: E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S.626

[8] E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt am Main 1961, S. 13

[9] Ebd., S. 151

[10] Ebd, S. 168 ff, S. 172 ff

[11] P. Graf Kielmansegg, Demokratieprinzip und Regierbarkeit, in: Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, hg. von W. Hennis, P. Graf Kielmansegg, U. Matz, Stuttgart 1977, S. 118 ff

[12] Vgl. J. Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971, S. 266

[13] E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, a.a.O., S. 255 f

[14] Ebd., S.258

[15] Ebd., S.232

[16] Ebd., S.252

[17] E. Bloch, Politische Messungen, a.a.O., 5.418

[18] Vgl. J. Perels, Meinungsfreiheit als Element des Sozialismus, Frankfurter Hefte H.7/1979, S. 20ff

[19] Vgl. J. Perels, Koalitionsfreiheit und »realer« Sozialismus, Kritische Justiz H.4/1980, S.403 ff

[20] E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, a.a.O., S.258

[21] E. Bloch, Briefe, 2. Band, a.a.O., S.741

[22] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S.914

[23] Ebd.

[24] Ebd., S.813

[25] Ebd.

[26] K. Kautsky zit. nach W. I. Lenin, Was tun? (1920), in: ders., Ausgewählte Werke Bd. I, Berlin 1970, S.174

[27] E. Bloch, Sokrates und die Propaganda (1936), in: ders., Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze aus den Jahren 1934 – 1939, Frankfurt am Main 1972, S.104

[28] Ebd., S. 105

[29] E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit (1935), erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 1962, S. 16, 5.19

[30] Ebd., S. 147

[31] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S.726

[32] E. Bloch, Kritik der Propaganda (1937), in: ders., Vom Hasard zur Katastrophe, a.a.O., S. 197

Kategorie: vorgänge: Artikel

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