Aktivierung des Stachels der Utopie
Datum: | Montag, 03. August 2020 |
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Joachim Perels
aus: Vorgänge Nr. 97 ( Heft 1/1989), S. 116-119
joachim Perels
Aktivierung des Stachels der Utopie
Blochs Philosophie kritischer Utopie hat zur Zeit wenig Konjunktur. Um so gespannter nimmt man eine Schrift zur Hand, die unverdrossen den Blochschen Impuls weitertreibt.
Die produktive Besonderheit der Untersuchung von Burghart Schmidt – er war lange Jahre Blochs Assistent in Tübingen – ergibt sich daraus, daß sie den Geist der Utopie nicht ins Museum einer bloßen Rekonstruktion der Blochschen Lehre verbannt. Schmidt unternimmt vielmehr den groß angelegten, ambitionierten Versuch, den Blochschen Begriff der Utopie mit der Problemsicht anderer, verwandter oder auch gegensätzlicher geschichtstheoretischer Ansätze zu konfrontieren und ihn an einem besonderen Gegenstand, der möglichen emanzipatorischen Funktion von Architektur, exemplarisch zu erproben. Derart verwendet Schmidt den Utopiebegriff, der zuweilen zu einem Glaubenssatz reduziert wurde, als Erkenntnismittel, das es erlaubt, in den wissenschaftlichen Diskurs einzugreifen. Auch die beiden großen Schlußteile zum Problem einer die Offenheit des geschichtlichen Prozesses ausdrückenden Kategorienlehre und zur Rolle der Natur im Zusammenhang gesellschaftlicher Emanzipation gehen über die immanente Rekonstruktion des Blochschen Systems hinaus.
Abweichende Interpretationen, besonders von marxistisch-leninistischer Seite, aber auch aus dem Umkreis der Frankfurter Schule werden kritisch einbezogen. Sachlich bilden sowohl die Kategorienlehre wie die Naturtheorie Blochs nicht ein beliebiges Lehrstück, die beiden Problemzusammenhänge bündeln auf einer grundlegenden Ebene die Frage nach der Möglichkeit der Neukonstitution des Verhältnisses der Individuen untereinander wie ihres Verhältnisses zur Natur. Die zentralen Begriffe einer durch menschliche Arbeit vermittelten Teleologie von unten und eines hypothetischen Natursubjekts fungieren als Angelpunkte eines prinzipiell-utopischen Systems.
Burghart Schmidt, Kritik der reinen Utopie.
Eine sozialphilosophische Untersuchung,
J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung,
Stuttgart 1988, 392 Seiten, DM 68,-.
Der Titel der Untersuchung bezeichnet sogleich die Grundthese: Schmidt geht es zum einen um Kritik vermittels einer reinen Utopie, die als Richtmaß für die im Bestehenden sich einrichtenden sozialtheoretischen Konzeptionen – ins-besondere jene bloß technokratischer Planung – dient. Zum anderen entwirft er eine Kritik an jener reinen Utopie, welche die Konstruktion antizipatorischer Zielmomente in der bestimmten Negation des Gegebenen verschwinden läßt. In dem intendierten Doppelsinn einer Kritik der reinen Utopie ist so der oftmals zur phrasenhaften Vokabel herabgekommene Begriff konkreter Utopie präzise gefaßt: Nämlich sowohl im Sinne eines Festhaltens an den emanzipatorischen Zielen, die nicht durch bloß technische, die gesellschaftlichen Zwecksetzungen ausklammernde Rationalität zu erreichen sind, als auch darin, daß die geschichtlichen Wege konkret-antizipatorisch vorgezeichnet werden müssen, soll Utopie nicht zum vermittlungslosen Gegenbild erstarren. Schmidt wendet sich gegen abstraktes Modellbilden, aber auch gegen die Festnagelung der Utopie auf unmittelbare Realisierbarkeit. Die doppelte Rolle einer Kritik der reinen Utopie erweist sich schließlich an dem von Schmidt im Anschluß an Bloch postulierten Ineinander von Utopie und Ideologie, in dessen Rahmen herrschaftsbezogenes Bewußtsein kritisierbar ist, die in Ideologie eingegangenen utopischen Postulate aber festgehalten werden.
Konkret entfaltet Schmidt den Gehalt einer Kritik der reinen Utopie in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen architektur-theoretischen Ansätzen. Er untersucht sie unter dem Gesichtspunkt, wie weit in ihnen die Wohnweise der Menschen nicht mehr unter dem Leitgedanken einer bloßen Einpassung in ein vorgegebenes funktionales System gesehen, sondern als Element gesellschaftlichen Mündigwerdens der Individuen begriffen wird. In doppelter Frontstellung gegen eine technokratisch-funktionalistische Architekturtheorie, welche sich die Zwecke vornehmlich.von den Interessen der privaten Bauwirtschaft vorgeben läßt, wie gegen eine einfache Propagierung der ihr entgegengesetzten postmodernen Architekturkonzeption, welche die antirationalistischen Bedürfnisse unkritisch für bereits emanzipatorische hält, sucht Schmidt seinen Begriff architektonischer Stadtutopie zu entwickeln. Dabei rettet er phantasievoll Elemente einer postmodernen Architektur ebenso wie die des Funktionalismus für eine Bauweise, die einer freien Gesellschaft entspräche. Er macht die antimodernen wie die funktionalistischen Fragestellungen dadurch fruchtbar, daß er sie in den Horizont veränderter gesellschaftlicher Zielbestimmungen, der Aufhebung der Zersplitterung und Entfremdung des sozialen Lebensprozesses stellt.
Im Durchgang durch zeitgenössische, parallel zu Bloch entstandene Ansätze entfaltet Schmidt die Fruchtbarkeit des Utopiebegriffs im Handgemenge mit einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Theorien. Zugleich gelingt es ihm damit, unorthodoxe Vertreter des Marxismus mittels des Blochschen Begriffsinstrumentariums neu zu interpretieren, aber auch Antimarxisten wie etwa Buber oder Foucault als produktive Häretiker vorzustellen.
Im Zentrum stehen drei große Problemgebiete: die eingehende Konfrontation von Blochs Utopiebegriff mit Benjamins geschichtsphilosophischer Position, die Auseinandersetzung mit dem Utopiebegriff von Adorno und Marcuse und die Einschätzung von Habermas‘ kommunikationstheoretischer Perspektive. So sehr es auf den ersten Blick scheinen könnte, daß damit unterschiedliche Theoretiker über den allgemeinen Leisten des Blochschen Utopiebegriffs geschlagen werden, zeigt sich bei Schmidt jedoch, daß er nicht klassifikatorisch subsumierend vorgeht, sondern in subtil-abwägenden, noch aus kritisierten Positionen Wahrheitsmomente heraus-präparierenden Argumentationen nichts weniger versucht als eine erweiternde Neubegründung des Blochschen Utopiebegriffs.
An Benjamins revolutionär-messianischem Geschichtsverständnis arbeitet Schmidt dessen besondere Konstruktion des Utopischen heraus. Im Unterschied zu Blochs Vorstellung, es komme darauf an, die positiv-vorscheinhaften Postulate der Vergangenheit zu realisieren, wie sie in Kunst, Religion und Wissenschaft entworfen wurden, zielt Benjamin darauf, die Intentionen der Opfer, der Verlierer, der Objekte der Geschichte zu realisieren. Anders als Benjamin selber, der gegenüber Blochs Gedanken eines emanzipatorischen Erbes an den kulturellen Manifestationen der bisherigen Geschichte grundsätzliche Einwände hatte, geht Schmidt nicht so weit, den Blochschen Utopiebegriff durch den Benjamins zu ersetzen. Er wird aber um die Dimension eines messianischen Zorns über die Sieger der bisherigen Geschichte erweitert.
Dient der Diskurs über Benjamin der genaueren Bestimmung der Zielgehalte von Utopie, so richtet sich die Erörterung der Positionen von Adorno und Marcuse (die von Horkheimer, gestützt auf eine schüttere Belegbasis, werden allzu kursorisch behandelt) auf einen anderes Aspekt. Schmidt hält zwar den ideologiekritischen Zugang Adornos für unverzichtbar, er zeigt aber, daß sich bei Adorno Kritik zu einer kontemplativen Angelegenheit verkürzt, da sie nicht mit einem konkret-antizipatorischen Vorgriff verbunden wird. Umgekehrt verwandelt sich dieser Vorgriff bei Marcuse zu einem geschichtlicher Vermittlung enthobenen Gegenmodell. Freilich wäre zu fragen, ob Adornos Bilderverbot und Marcuses eher abstrakte Utopie mit der historischen Gesamtsituation des tendenziellen Verschwindens eines emanzipatorischen Subjekts zusammenhängen, eine Situation, der sich auch das von Schmidt festgehaltene Postulat eines konkret-utopischen Vorgriffs zu stellen hätte, und zwar in dem Sinne, ob dieser Vorgriff gegenwärtig real möglich ist.
Daß Habermas im Unterschied zum Bilderverbot der älteren kritischen Theorie einen emanzipatorischen Vorgriff in Gestalt einer idealen Sprechsituation konstruiert, betrachtet Schmidt als Fortschritt. Er kritisiert jedoch die Struktur von Habermas‘ emanzipatorischem Vorgriff als unspezifisch allgemein: in der Prozeduralisierung verschwinde der Wahrheitsbegriff. Mit Negt und Kluge verwirft Schmidt die von Habermas eingeführte Trennung von Arbeit und Interaktion, weil sie den Arbeitsprozeß vom Emanzipationsbegriff abspalte. Seine Interpretationsrichtung bringt Schmidt auf eine handliche Formel: Die Utopie vermag keinen Schritt zu tun ohne Kritik … Die Kritik vermag keinen Schritt zu tun ohne Utopie im Sinn“ (S. 239).
Kritisch gegenüber einer Teleologie von oben, die den Verlauf der Geschichte in Gottes Weltplan vorherbestimmt sieht, aber auch im Unterschied zu einer Telelogie, die die Geschichte, wenn auch innerweltlich, als durch objektive Gesetze ausdeterminiert ansieht, arbeitet Schmidt den Begriffsrahmen einer Teleologie von unten heraus, welche die Rolle des Subjekts bei der Hervorbringung einer anderen Welt in den Blick rückt. Zwar ist eine Teleologie von unten keine freischwebend voluntaristische, sie nimmt die gegebenen Bedingungen in sich auf – um sie zu überbieten.
Subtil bezeichnet Schmidt, implizit auch gegen die These, Blochs System läge ein identitätsphilosophisches Schema zugrunde, das spezifische Verhältnis von keimhafter Anlage und der Herausprozessierung eines Neuen: Die Verwirklichung der Utopie entfaltet nicht einen vorprogrammierten Keim, sondern ist in dessen determinierendem Rahmen innovierend am Werk“ (S. 286). Die Differenz einer Teleologie von unten von der von oben liegt für Schmidt darin, daß in letzterer der Geschichtsprozeß von einem feststehenden Ziel angezogen werde, während er in ersterer – real-paradox – sich selbst anziehe. Das Spezifische einer Teleologie von unten exemplifiziert Schmidt durch die Differenz zur Systemtheorie Luhmannscher Prägung, welche die Handlungsmotive der Individuen von den Systemzwecken des Gesellschaftssystems grundsätzlich abkoppelt und damit die Herrschaft des Ganzen über die Individuen sanktioniert.
Das Problem eines realutopischen Begriffs kulminiert in der Frage der Naturbeziehung – in Blochs Theorem eines hypothetischen Natursubjekts. Der Begriff zielt darauf, Natur nicht auf ein auszubeutendes Objekt menschlicher Arbeit zu reduzieren, sondern ihre Eigenart als potentielles Subjekt zu respektieren, weil anders auch die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen sich nicht zureichend verändern. Allerdings intendiert, wie Schmidt minuziös herausarbeitet, auch die Zielbestimmung eines hypothetischen Natursubjekts, dem eine der Natur adäquate Allianztechnik entspräche, nicht eine restlose Identität von Mensch und Natur. Ein Moment unvermeidlicher Subjekt-Objekt-Trennung bleibt notwendig im Blick auf das Verhältnis von Mensch und Natur bestehen, auch wenn sich das Gesicht der Natur, sobald sie nicht mehr als bloß technisches Verfügungsobjekt dient, zu verändern vermag. Gleichwohl ist, gegen jeglichen vom erreichten Stand der Produktivkräfte absehenden Romantizismus, eine einfache Rückkehr zur ersten Natur verschlossen.
Schmidt besitzt eine bündelungsreiche, manchmal übermäßig verschlungene, aber auchtemperamentvoll pointierende Sprache – so recht dazu geeignet, utopisches Denken aus dem Schlaf zu wecken – zuweilen ist aber die sprachliche Distanz zu Bloch zu gering. Auch wirken die beiden als Anhang veröffentlichten Texte zu aufgesetzt, wie ihr Titel schon zeigt. Sie wären in einem Essay-Band besser aufgehoben: Schmidts sozialphilosophische Untersuchung über die fortwirkende Bedeutung des Utopie Begriffs hat bereits zwei Beine, auf denen sie steht.
Kategorie: vorgänge: Artikel