widerstände gegen die Aufhebung der NS-Unrechtsurteile
Datum: | Donnerstag, 07. Mai 1998 |
---|
Widerstände gegen die Aufhebung
aus: Vorgänge 143 (Heft 3/1998), S.10-12
Joachim Perels
Das größte Schreckensregiment der deutschen Geschichte, dessen fast unendliche Zahl von Mordopfern – Juden, Roma und Sinti, psychisch Kranke, sowjetische Kriegsgefangene, politische Oppositionelle und viele andere – wir in unseren Begriffen und in unserer Anschauung nur begrenzt wirklich wahrnehmen können, mußte am 8. Mai 1945 der militärischen Übermacht der Alliierten weichen. Der 8. Mai aber ist für starke politische Kräfte bis heute nicht unzweideutig der Tag der Befrei-ung.
Die Frankfurter Rundschau (7.5.98) berichtete, daß es im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages nicht möglich war, sich auf einen Beschluß zur Aufhebung der Unrechts-urteile der Nazi-Despotie zu einigen. Streitpunkt war für den rechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU Norbert Geis, die Bewertung der bundesdeutschen Rechtsprechung der 50er Jahre zu jenen Unrechtsurteilen. Diese Frage wird auch in den entsprechenden Gesetzentwürfen der Bonner Koalitionsparteien für nicht regelungsbedürftig erklärt.
Im Gefolge der Zerschlagung der NS-Diktatur war politisch und rechtlich der Weg ins Freie, die Schaffung einer humanen Rechtsordnung, beschritten worden. Wenige Jahre später wurde der Neuanfang im Umgang mit der NS-Justiz ins Gegenteil verkehrt. Von den Alliierten, die die deutsche Staatsgewalt übernommen hatten, wurden die Repressions- und Entwürdigungsnormen des NS-Regimes durchdas Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 von Anbeginn außer Kraft gesetzt. Besonders für Widerstandskämpfer hatte dies eine wichtige Konsequenz: Ihre entschiedene, risikoreiche Opposition gegen das System planmäßiger Willkür galt ohne Einschränkung nicht nur als politisch legitim, sondern ausdrücklich als rechtmäßig. In einem amerikanischen Gesetz von 1946 hieß es: „Politische Taten, durch die dem Nationalsozialismus oder Militarismus Widerstand geleistet wurde, sind nicht strafbar.“
Daß den Unterdrückungsinstrumentarien der Despotie der rechtliche Geltungsanspruch entzogen wurde – von deutscher Seite entwikkelte der 1933 aus dem Professorenamt gejagte sozialdemokratische Strafrechtler Gustav Radbruch 1946 hierfür den scharfen Begriff des „gesetzlichen Unrechts“ -, beruhte auf der ungetrübten Erkenntnis der verbrecherischen Struktur des nationalsozialistischen Mord-Syndikats. Im Zuge der Befreiung war es für die Alliierten wie für jene deutschen politischen Kräfte, die das Nazi-Regime kompromißlos negierten, eine humane Selbstverständlichkeit, der Diktatur jegliche rechtliche Deckung zu entziehen. Damit wurde auch das Vermächtnis der Widerstandskämpfer, die sich nicht etwa gegen einen Rechtsstaat, sondern gegen ein System der Zerstörung des Rechts – vor allem der Beseitigung des Rechts auf Leben – aufgelehnt hatten, erfüllt. Die hessische Verfassung von 1946 – getragen von der CDU, der SPD und der KPD – hat diesen Gedanken der Wiederherstellung der Eigenbedeutung des Rechts in großer Klarheit zum Ausdruck gebracht. In der Verfassung wird in Artikel 147 die Überordnung des Staates über die Verfassung strikt ausgeschlossen und der Widerstand gegen eine rechtswidrig ausgeübte Staatsgewalt ausdrücklich zur Pflicht erklärt.
Die rechtliche Entlegitimierung der Nazi-Diktatur wurde mit der Gründung der Bundesrepublik systematisch verschüttet. Die einstige in der zweiten Hälfte der 40er Jahre entwickelte Position der Verteidiger in den Nürnberger Prozessen und in den Nachfolgeverfahren gegen die Funktionseliten des Regimes, daß alle Staatshandlungen der politischen und administrativen Träger durch die Rechtssetzungsund Befehlsgewalt des Diktators rechtlich gedeckt und damit unangreifbar seien, wurde in weitem Maße zur Legitimationsgrundlage einer juristischen Neubewertung der NS-Herrschaft. Sie wurde in eine tendenziell normale Staatsordnung mit einer nicht weiter zu hinterfragenden Rechtsordnung umgedeutet. Der Erkenntnis-Begriff des gesetzlichen Unrechts wurde vom NS-System abgezogen. Damit wurde die eigene, aktive Rolle in der Diktatur als unpolitisch-neutral und rechtlich geboten ausgegeben. Dies war nichts anderes als eine Verantwortungsabwehr für die Verbrechen des Justizapparats. Der Grund liegt auf der Hand: Die Überprüfung der Nazi-Justiz nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und die Bestrafung derer, die die Tötungsmaschine des Regimes in Gang hielten, hätte dazu geführt, daß die weitgehende Übernahme der Richter und Staatsanwälte der Diktatur in die Demokratie des Grundgesetzes nicht mehr stumm hätte vollzogen werden können. Sie wäre zum öffentlichen Skandalon mit weitreichenden Folgen für die Legitimität des Justizapparats geworden.
Die gesamte Justiz, die neben anderen Terrorinstitutionen des NS-Staats die Aufgabe hatte, den politischen Widerstand und seine Exponenten durch exzessive Tötungsverfügungen auszulöschen – nach der niedrigsten Schätzung hat die Justiz allein 32 000 Todesurteile verhängt – wurde mit Beginn der 50er Jahre gleichsam in ihr altes Unrecht vor dem 8. Mai 1945 eingesetzt. Es war wie ein real-gespenstischer Vorgang, der sich in der vielfachen Aufhebung des Bruchs zwischen der NS-Herrschaft und dem neuen demokratischen Staat vollzog. Die Richter, die den an der Verschwörung des 20. Juli beteiligten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, die den katholischen Pazifisten Max Josef Mezger, der eine Denkschrift zur Beendigung des Krieges verfaßt hatte, die den Bauern Hanselmann, der in dem württembergischen Ort Brettheim im April 1945 Hitlerjungen die Panzerfäuste weg-genommen hatte, die den jüdischen Diplomingenieur Werner Holländer wegen sogenannter Rassenschande zum gefährlichen Gewohnheitsverbrecher erklärt hatten, die Richter, die diese Menschen in den Tod geschickt hatten, wurden von der bundesdeutschen Justiz bis hinauf zum Bundesgerichtshof unter Rückgriff auf die nationalsozialistische Unrechtsordnung freigesprochen. So wurden die Opfer der Vernichtungsjustiz in dem Land, dessen Verfassung sich gegen die Prinzipien des NS-Regimes richtete und die Achtung der Würde des Menschen zur Staatsaufgabe erklärt hatte, de facto ein zweites Mal verurteilt. Soweit sich die Justiz der frühen Bundesrepublik an das Normensystem der NS-Despotie bindet, trägt sie das Kainszeichen stumpfer Gefühllosigkeit für die Opfer der NS-Diktatur.
Die Justiz war keine von der Gesamtgesellschaft isolierte Institution. Sie drückte nur die starke politische Tendenz der Zerstörung kritischer und selbstreflexiver Erinnerung an das System des Grauens aus. Es war die erste Bundesregierung, deren Vizekanzler Blücher gegen die von der amerikanischen Besatzungsmacht angeordnete Einrichtung des für den Tod von 90 000 Menschen verantwortlichen Einsatzgruppenmörders Ohlendorf protestierte; es war die Bundesregierung, die 1950 ein Gesetz zur rechtlichen Rehabilitierung der Widerstandskämpfer ablehnte; es war die Bundesregierung, die sich 1952 weigerte, die Inkorporation des Tatbestands des gesetzlichen Unrechts – im Gegensatz zu anderen Staaten Europas – in unsere Rechtsordnung zu übernehmen. Damit waren offiziell die juristischen Staatshandlungen der Diktatur, vor allem ihrer Justiz, für sakrosankt erklärt.
50 Jahre hat es gedauert, bis die Fortsetzung des nationalsozialistischen Justizunrechts durch die Rechtsprechung der Bundesrepublik nicht allein durch publizistische und wissenschaftliche Kritik, sondern durch die Justiz selber fast in Form einer Selbstanklage zum Thema gemacht wurde. Nachdem die alten restaurativen Eliten ausgeschieden sind, kann auch der Bundesgerichtshof – 1995 – erklären: „… Die damalige Rechtsprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von Todesurteilen nicht zu Unrecht oft als ,Blutjustiz` bezeichnet worden … Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebensowenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs … Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen, die der Senat als berechtigt erachtet.“
Die Widerstände in der CDU/CSU gegen eine kritische Thematisierung der affirmativen Rechtsprechung der 50er Jahre zur NS-Justiz zielen darauf, die Fiktion der gelungenen Gründung einer rechtsstaatlichen Demokratie, die der Politik des ersten christdemokratischen Bundeskanzlers zugemessen wird, aus legitimatorischen Gründen aufrechtzuerhalten. Sobleiben die vergangenheitspolitischen Hypotheken der frühen Bundesrepublik, deren Justiz den Tätern näher war als den Opfern, unbearbeitet. Es ist an der Zeit, daß der ideologische Schutz für diejenigen – wie es im amerikanischen Urteil gegen die Justizelite des NS-Regimes von 1947 heißt – „den Dolch des Mörders unter der Robe der Juristen“ verbargen, an ein Ende kommt. Zu Recht sagte der Sprecher der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, zur weiter blockierten Aufhebung der Unrechtsurteile: „Die sich dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht widersetzt haben, sollen wohl Verbrecher bleiben.“
Der 8. Mai 1945 liegt 53 Jahre zurück. Und doch liegt er, in vielfacher Beziehung, noch vor uns.
P.S. Die Widerstände des rechten Flügels der CDU/CSU gegen die Außerkraftsetzung der rechtsstaatswidrigen Urteile der NS-Diktatur ließen sich nicht aufrechterhalten. Am 28. Mai 1998 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, mit dem die nationalsozialistischen Unrechtsurteile generell aufgehoben werden. Über 50 Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes ist dies ein später Meilenstein auf dem langen Weg der Entlegitimierung des juristisch drapierten, nationalsozialistischen Verichtungssystems. Mit dieser Entscheidung erkennt nun auch das Parlament, daß jene Justiz der frühen Bundesrepublik, die die schrankenlose Repressionsmaschine der Diktatur noch im nachhinein sanktionierte, ein Gegner des demokratischen Rechtsstaats war.
Aktualisierte Fassung der Ansprache, die der Autor am 8. Mai 1998
am Mahnmal für das ehemalige KZ Stöcken/Hannover gehalten hat.
Kategorie: vorgänge: Artikel