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Der Fall Erna Wazinski - Von richter­li­chem Versagen

01. August 1991
Datum: Donnerstag, 19. Oktober 1989

Helmut Kramer

Aus: vorgänge Nr. 112 (Heft 4/1991), S. 30-33

Von der Festnahme der „Täterin” (Freitag, 20. Oktober 1944, 17.30 Uhr) und ihrer ersten polizeilichen Vernehmung (unterstützt durch brutale Schläge) bis zur Verurteilung „als Volksschädling” zum Tode vergingen nicht einmal neunzehn Stunden. Am Samstag, 21. Oktober 1944, verkündete in einem in der Braunschweiger Untersuchungshaftanstalt provisorisch als Verhandlungssaal hergerichteten Raum der Sondergerichtsvorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Walter Lerche, das Todesurteil. Die Hinrichtung erfolgte, nach Wochen qualvollen Wartens, am 23. November 1944 in Wolfenbüttel.

Was hatte Erna Wazinski verbrochen? Laut Urteil des Sondergerichts hatte sie in der Nacht zum Sonntag, dem 15. Oktober 1944, gearbeitet — in jenem Rüstungsbetrieb, in den sie dienstverpflichtet war. In dieser Nacht ereignete sich der größte Bombenangriff auf Braunschweig. Als Erna nach dem Bombenangriff nach Hause kam, fand sie die meisten Häuser in der Langedammstraße, darunter auch das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnte, bis auf den Grund abgebrannt vor. Von der Mutter fehlte zunächst jede Spur. Am Tage darauf half Erna dem Sondergerichtsurteil zufolge Bewohnern des ebenfalls abgebrannten Nachbarhauses beim Bergen von Gegenständen. Dabei soll sie — nach dem Sondergerichtsurteil — einige fremde Kleidungs- und billige Schmuckstücke an sich genommen haben.

Die knapp 19jährige Erna Wazinski war nur eines der 516 Opfer, die die Richter der nationalsozialistischen Justiz unter das Fallbeil der Hinrichtungsstätte des Wolfenbütteler Gefängnisses brachten (die Hinrichtungsstätte ist seit April 1990 als Gedenk- und Dokumentationsstätte hergerichtet [1]. Auch gibt es unter den Hingerichteten viel prominentere Persönlichkeiten (etwa unter den hingerichteten französischen und belgischen Widerstandskämpfern mehrere Professoren und Priester). Und doch läßt sich gerade am Beispiel des Todesurteils gegen Erna Wazinski und der Art der Aufarbeitung dieses Urteils nach 1945 viel Aussagekräftiges über den Zustand unserer Justiz und Gesellschaft ableiten.

Bekenntnis zum Unrechts­ge­setz

Die Verhängung der Todesstrafe wegen einer Bagatelle, wie sie Erna Wazinski vorgeworfen wurde, ist so grausam und menschenrechtswidrig, daß man annehmen sollte, nach dem Ende des NS-Terrorregimes sei das Urteil schleunigst ersatzlos aufgehoben worden. Die Vermutung täuscht. In den Nachkriegsjahrzehnten wehrte sich die Braunschweiger Justiz hartnäckig gegen jeden Versuch, die Verurteilte zu rehabilitieren und das Versagen der Juristen von 1944 festzustellen. Eine „Umwandlung” der (vollstreckten) Todesstrafe in neun Monate Gefängnis war das äußerste Zugeständnis des Landgerichts Braunschweig. In einem Beschluß des Landgerichts vom 7. Oktober 1965 wurde sogar festgestellt, daß die Hitlersche „Volksschädlingsverordnung” von 1939 nicht als „schlechthin unverbindlich, weil unsittliches” Gesetzesrecht angesehen werden könne. Die Verordnung sei lediglich darauf gerichtet gewesen, dem „durch Kriegswirren” besonders gefährdeten Eigentum Schutz zu verleihen. Hierzu erwähnte das Landgericht als vorbildlich, daß auch während des Vietnam-Krieges mit Billigung der USA für Reisdiebstähle die Todesstrafe eingeführt sei. Das war gewissermaßen ein zweites Todesurteil für Erna Wazinski und eine Ehrenerklärung für die Richter des Sondergerichts.

Dementsprechend waren auch Strafanzeigen gegen die Richter des Sondergerichts und die beteiligten Staatsanwälte erfolglos. Schlimmer noch: diejenigen, die „den Dolch unter der Richterrobe verborgen” gehalten hatten (Worte des Nürnberger Juristenurteils) waren zum Teil nach 1945 wieder in der Braunschweiger Justiz tätig. Der als besonders „scharfer” Richter geltende Sondergerichtsvorsitzende, Dr. Walter Lerche, stieg sogar zum Oberlandeskirchenrat und damit in einen der höchsten Posten auf, die die Landeskirche nächst dem Amt des Landesbischofs zu vergeben hatte.

Chance zur Selbst­rei­ni­gung der Justiz

Im Jahre 1991, mehr als 46 Jahre nach dem Justizverbrechen von 1944, hat sich der Justiz eine neue Chance geboten, sich von dem Unrecht zu distanzieren. Nachdem gewerkschaftlich organisierte Richter den Fall bereits 1980 der Öffentlichkeit vorgestellt hatten[2], nahm sich 1989 ein junger Rundfunkredakteur des Falles an. Ihm gelang es, mehrere Zeitzeugen aufzufinden. Im Zusammenhang mit einer ersten Ausstrahlung seines Hörfunk-Features[3] meldete sich schließlich ein weiterer Zeuge, der bei der angeblichen „Tat” und auch bei der Festnahme von Erna Wazinski anwesend war. Nach seiner verläßlichen Schilderung hat Erna Wazinski — mit seiner Hilfe — in den Trümmern lediglich Sachen geborgen, von denen sie vermutete, daß sie ihrer Mutter gehörten. Auch wurde das polizeiliche Geständnis Ernas offensichtlich durch Ohrfeigen oder Faustschläge erzwungen.

Durch die aufsehenerregende Rundfunksendung war die wichtige Zeugenaussage offenkundig. Nun hätten die Braunschweiger Justizbehörden tätig werden müssen. Doch nichts geschah. Ich habe mich deshalb für verpflichtet angesehen, von mir aus ein Wiederaufnahmeverfahren anzuregen. Inzwischen, mit Beschluß vom 19. März 1991, hat das Landgericht Braunschweig das Todesurteil von 1944 aufgehoben und Erna Wazinski wegen der veränderten Beweislage freigesprochen.

Vergan­gen­heits­ent­sor­gung anstelle Selbst­kritik

Manche werden sich fragen: Was soll ein Verfahren, das das Opfer doch nicht mehr zum Leben erwecken kann? In der Tat macht es wenig Sinn, 47 Jahre danach festzustellen, ob jemand einen Koffer mit wenig wertvollen Sachen entwendet oder nur verwechselt hat. Ungleich bedeutsamer ist die Frage: Ist damals, im Jahre 1944, nicht wirklich ein verbrechen begangen worden, verübt allerdings nicht von einem 19jährigen Mädchen, sondern von den Volljuristen des Sondergerichts? Haben jene Richter — ob sie es nun mit einem kleinen Diebstahl zu tun hatten oder nicht — nicht Rechtsbeugung und Mord begangen? Und war ein solches Urteil nicht von vornherein nichtig? All diesen Fragen, überhaupt jedweder Kritik an dem Sondergerichtsurteil, sind die Richter des Landgerichts geflissentlich aus dem Wege gegangen. Hätten die Richter diese Fragen gestellt und dahin beantwortet, daß ihre Vorgänger von 1944 dem Unrecht und nicht dem Recht dienten, hätte dies eine ganz andere Rehabilitierung des Opfers bedeutet als der jetzt ergangene Freispruch lediglich wegen veränderter Tatsachengrundlage, nicht aufgrund revidierter Rechtsauffassung. Mit einer Feststellung der Nichtigkeit des Todesurteils von 1944 und der von den NS-Richtern begangenen Rechtsbeugung hätte das Landgericht sich zugleich zu der Selbstbesinnung und Selbstreinigung der Justiz bekannt, die seit Jahrzehnten überfällig ist.[4]

Richter in eigener Sache

Der Unmut der Richter angesichts der Zumutung, sich mit der NS-Justiz befassen zu müssen, zeigte sich schon im Vorfeld der Entscheidung. Vor allem mit der Begründung, daß (außer der sich völlig passiv verhaltenden Staatsanwaltschaft) nur ein Verteidiger durch Rechtsmittelung auf eine Überprüfung der bevorstehenden Entscheidung hinwirken könne, hatte ich die Beiordnung einer Verteidigerin beantragt. Trotz der schwierigen Rechtslage verneinte die Strafkammer aber zunächst jedes Bedürfnis für die Mitwirkung eines Rechtsanwalts. Damit wollten die Richter eine Überprüfung ihrer Entscheidung in einer weiteren Instanz verhindern. Das Landgericht verkannte die Verfahrenslage so gründlich, daß sich schließlich der Generalstaatsanwalt einschalten mußte. In dem Bestreben, den Fall möglichst geräuschlos und ungestört zu erledigen, verlegte sich die Kammer nun auf eine ungewöhnliche Verteidigerauswahl: gemeldet hatte sich (überdies unter Verzicht auf Gebühren) meine Ehefrau (in ihrer Funktion als Rechtsanwältin), die seit Jahren sowohl mit dem Fall Erna Wazinski als auch mit den Problemen der NS-Sondergerichtsbarkeit vertraut ist. Das Landgericht lehnte sie wegen „Befangenheit” mit der Begründung ab, sie habe sich „schon zu lange mit der Sache befaßt”. Bei dem stattdessen bestellten Rechtsanwalt bestand diese Gefahr in der Tat nicht. Er hatte sich bislang weder mit dem Fall Erna Wazinski noch überhaupt mit der NS-Justiz beschäftigt. Sein Engagement beschränkte sich darauf, genau den Antrag zu stellen, der den Richtern in das Konzept paßte. Er erklärte, ihm sei an einer Nichtigerklärung des sondergerichtlichen Urteils nicht gelegen.

Zweierlei Maß — Richter als Verteidiger von NS-Juristen

Der — bei einem Verteidiger ohnehin absurde — Befangenheitsvorwurf muß an die Richter der Strafkammer zurückgegeben werden: ähnlich wie der Sondergerichtsvorsitzende Dr. Walter Lerche nimmt der Vorsitzende der heutigen Strafkammer, Gerhard Eckels, eine hohe Funktion in der Landeskirche wahr: er ist Präsident der Landessynode der Kirche. Als Richter hatte er nun insoweit in eigener Sache zu entscheiden, als die Kirche und mit ihr die Landessynode mit der Abwehr der Anträge kritischer Christen befaßt sind, die Kirche möge sich von dem einst von ihr so gepriesenen Sondergerichtsvorsitzenden und Oberlandeskirchenrat Lerche distanzieren. Hierzu kann sich die Kirchenleitung aber nicht überwinden.[5] Die Feststellung, daß dem Sondergericht im Jahre 1944 nicht bloß ein (verzeihlicher) Irrtum unterlaufen war, sondern daß es unter Leitung von Dr. Lerche ein mörderisches Terrorurteil gefällt hatte, hätte den Vorwürfen gegen Dr. Lerche Auftrieb gegeben. Hier liegt wohl die Erklärung dafür, daß die Strafkammer jedwedes Unwerturteil über das Sondergericht vermeiden wollte.

Das Sondergericht Braunschweig hat unter dem Vorsitz von Dr. Lerche mindestens fünfzehn weitere Todesurteile gefällt, überwiegend wegen lächerlich geringfügiger Diebstähle, begangen meist aus Not, zum Beispiel von halbverhungerten französischen und italienischen Zwangsarbeitern.[6] In ihrem im landeskirchlichen Amtsblatt von 1962 abgedruckten Nachruf auf Dr. Lerche gedachte die Braunschweiger Kirchenregierung ihrem treuen Mitarbeiter „in Dankbarkeit und herzlicher Verehrung”, und es hieß darin: „Das Gedenken an Oberlandeskirchenrat Dr. jur. Lerche wird uns allen ein gesegnetes bleiben.”

Es handelt sich nur scheinbar um Vorgänge, mit denen wir nichts mehr zu tun haben. Es geht vielmehr auch um die Justiz von heute, um die Frage, mit welchem juristischen Handwerkszeug und mit welchem Verfassungsverständnis Richter ihr Amt versehen. Deshalb sind Entscheidungen, wie die des Landgerichts Braunschweig vom 20. März 1991 im Fall Erna Wazinski auch innerhalb der Richterschaft nicht unumstritten. Gerade unter den jüngeren Juristen gibt es viele, die die Frage nach den Ursachen für das Versagen der Richter im Dritten Reich zu kritischer Selbstprüfung gebracht hat. Die in der Gewerkschaft ÖTV organisierten Richter und Staatsanwälte haben bei der Deutschen Richterakademie regelmäßige Fortbildungstagungen zur NS-Justiz durchgesetzt. Diese vom niedersächsischen Justizministerium ausgerichteten Tagungen sind ständig ausgebucht.[7]

Die Akte Erna Wazinski haben die Richter des Landgerichts Braunschweig mit ihrem trickreichen Vorgehen wieder schließen können. Die Aufgabe der Bewältigung der Justizvergangenheit kann damit noch längst nicht zu den Akten gelegt werden.

1 Vgl. Nds. Justizministerium (Hg.) Nationalsozialistische Justiz und Todesstrafe, Braunschweig.

2 Vgl. Helmut Kramer (Hg.) Braunschweig unterm Hakenkreuz, Braunschweig 1981, S. 32 ff, 40 ff.

3 Hörfunk-Feature „Der Fall Erna Wazinski”, NDR III, 19.10.1989.

4 Zu den Schwierigkeiten einer Distanzierung vom Volksgerichtshof des „Dritten Reiches” vgl. u.a. Ingo Müller, Demokratie und Recht 1985, S. 153 ff, Denzel, Kritische Justiz 1991, S. 31 ff.

5 Inzwischen — nach elfjähriger Diskussion des Falles Dr. Lerche — hat die Braunschweiger Kirchregierung in einer amtlichen Erkärung das durch Dr. Lerche gefällte Todesurteil „zur Kenntnis genommen” und eine Kommission mit dem Auftrag einberufen, die unmittelbare Nachkriegsgeschichte der Landeskirche und die Rolle des Dr. Lerche zu untersuchen.

6 Vgl. „Kirche von unten”, Heft 51 (Februar 1991), S. 37 ff. — Landgerichtsdirektor a. D. / Oberlandeskirchenrat Dr. Lerche war auch 2. Präsident der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.

7 In seinem auf der Basis der Koalitionsvereinbarung der niedersächsischen Regierungskoalition erarbeiteten Arbeitsprogramm vom Juni 1990 hat das Nds. Justizministerium sich zur Aufgabe gemacht, die notwenige Forschung und Aufklärung über die Rolle der NS-Justiz in Niedersachsen zu fördern. Inzwischen ist mir ein entsprechender (hauptamtlicher) Arbeitsauftrag erteilt worden.

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