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Ein Justiz­mi­nister steuert seinem Ende zu

01. September 1987
Datum: Freitag, 13. Februar 1987

Ulrich Vultejus

Aus: vorgänge Nr. 89 (Heft 5/1997), S. 19-22

Der 12. Januar 1987 wird in die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen. 20 Richterinnen und Richter haben an diesem Tag das amerikanische Atomraketendepot in Mutlangen trotz 20 Grad Frost blockiert. Ihr Gewissen ließ ihnen keine Ruhe; so setzten sie sich über mannigfache innere Widerstände hinweg, drohten ihnen doch Straf- und Disziplinarverfahren. Es war wohl eine der friedlichsten Demonstrationen der Bundesrepublik, geprägt von einem fast freundschaftlichen Einverständnis zwischen den Demonstranten und der Polizei, aber auch den beobachtenden Journalisten. Das Einverständnis zwischen den Beteiligten ging so weit, dass kleine Pausen eingelegt wurden, wenn die Batterien der Photoapparate von Polizei und Presse wegen der Kälte streikten; ja, man lieh sich sogar vereinzelt angewärmte Batterien aus.

So einfach und ohne ein unfreundliches Wort die Blockade selbst verlief, so sehr ist die juristische Aufbereitung von Lärm begleitet. Das Amtsgericht Schwäbisch-Gmünd ist gespalten bei der Frage, ob eine solche Sitzblockade eine Nötigung darstellt. Richter Krumhard hat in Verfahren gegen drei Richter den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt, weil weder eine Straftat noch auch nur eine Ordnungswidrigkeit nach der Straßenverkehrsordnung vorliege. Dieser Beschluss ist inzwischen von dem Landgericht Eilwangen aufgehoben und das Verfahren – durchaus unüblich — an einen anderen Richter verwiesen worden. Richter Dr. Offenloch aus Schwäbisch-Gmünd hat in einer ersten Hauptverhandlung gegen drei andere Richter versucht, Zeichen zu setzen, indem er sie nach zwei Verhandlungen gegen Kleinkriminelle ansetzte, sodass der Eindruck entstehen konnte, er sähe keinen Unterschied. Doch Dr. Offenloch —gestresst und nervös — wurde zunächst durch einen Ablehnungsantrag gestoppt. Er hatte sich unkollegial abwertend über die Freisprüche seines Kollegen Krumhard geäußert.

Doch die Rede soll hier von Walter Remmers (CDU) sein, dem Justizminister des Landes Niedersachsen – und nicht von den Mutlanger Richtern.

Als Walter Remmers zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode sein Amt antrat, habe ich ihn gewiss mit einem spöttischen Unterton als einen typisch sozialdemokratischen Justizminister bezeichnet: voll guten Willens, untermischt mit ein wenig ostfriesischer List, mit lauteren Absichten und schwachen Kräften, seine Vorstellungen gegen den teils lümmeligen, teils klebrig-freundlichen Widerstand seines Apparats durchzusetzen.
Jetzt wird sich mein Vergleich in einer Weise bewahrheiten, wie ich sie nicht gemeint hatte. Walter Remmers letzter sozialdemokratischer Vorgänger, Hans Schäfer, hatte während der ersten Legislaturperiode sein Amt mit einigem Erfolg verwaltet, weil er — neu im Amt — jeden Schritt mit klugen Beratern abgestimmt hatte. Bei Beginn seiner zweiten Legislaturperiode glaubte Schäfer auf eigenen Füßen stehen zu können und begann, sich in seinen Fehlern selbst zu verwirklichen. Vor dem Absturz rettete ihn damals das vorzeitige Ende der Regierung Kubel. Auch Remmers hat sich zu Beginn seiner Amtszeit überaus vorsichtig verhalten und nach dem Grundsatz regiert, wer wenig macht, macht auch wenig Fehler. Jetzt ist er diese Vorsicht leid und will zeigen, was er — nicht — kann. Das kann kein gutes Ende nehmen, und ich wage die Voraussage, dass er diese Legislaturperiode politisch nicht überleben wird, kehrt er nicht zur alten Vorsicht zurück.

Als Walter Remmers wenige Tage nach der Demonstration in Mutlangen erfuhr, dass auch drei niedersächsische Richter beteiligt waren, konnte er öffentlich »seine Empörung über dieses Verhalten nicht länger unterdrücken: Dass Richter sich zu Straßensperren hinreißen« ließen, habe er für unmöglich gehalten. Wenig vorher hatte er bei national-sozialistischen Ausfällen eines Richters auf eine Anfrage des Abgeordneten Dr. Holtfort noch erklärt: »Es entspricht ständiger Übung der Landesregierung, dass sie sich vor Abschluß eines laufenden Verfahrens jeglicher Wertung darüber enthält.« Diese Antwort war klug von des Ministers Haus vorformuliert. Den Vorwurf, die Richter hätten Straßensperren errichtet, erläuterte er später dahingehend, sie hätten auf der Straße gesessen und dies sei eine Straßensperre. Man kann es eben auch so sehen.

In diese aufgeheizte Atmosphäre platzte eine Anzeige vom 13.2.1987 in der ZEIT, in der 554 Richterinnen und Richter — unter ihnen 30 aus Niedersachsen — ihren in Mutlangen demonstrierenden Kolleginnen und Kollegen »Respekt bekundeten«.

Diese Anzeige stellte für die Mehrzahl der Justizminister ein doppeltes Ärgernis dar. Zum einen ist offensichtlich, dass die Straf- und Disziplinarverfahren gegen die »Richter von Mutlangen« ihr politisches Ziel verfehlen, wenn 554 Richterinnen und Richter den Angeklagten »ihren Respekt« bekunden. Wann hat es dies je gegeben? Zum anderen war der Text der Anzeige von Spezialisten entworfen, die durch Disziplinarverfahren gehärtet sind und die Klippen des Disziplinarrechts klug umschifft hatten.

So begann in den Kanzleien der Justizminister bald das große Rätselraten, was zu tun sei. Bundesjustizminister Engelhard wollte gegen zwei Richter im Bundesdienst zuschlagen, musste aber feststellen, dass der Bundesarbeitsminister Dr. Blüm, dem die Dienstaufsicht gegen zwei Richter des Bundessozialgerichts zusteht, nicht mitzog. Blüm erwies sich als der politisch Klügere und, Engelhard zog seinen Kopf ein; die beteiligten Bundesrichter werden somit von Disziplinarverfahren wegen der ZEIT-Anzeige unbehelligt bleiben.

Sieht man sich auf der Länderebene um, wird es niemanden verwundern, dass die bayerische Staatsministerin der Justiz, Frau Dr. Berghofer-Weichner, als erste ihre Gerichtspräsidenten anwies, zu prüfen, ob die 21 Richterinnen und Richter aus Bayern, die, die Anzeige unterschrieben hatten, disziplinarrechtlich zur Verantwortung zu ziehen seien. Man muss hierzu wissen, dass der Disziplinarvorgesetzte zwar zur disziplinarrechtlichen Prüfung angewiesen werden kann, das Ministerium ihm jedoch über die Art und Weise seines Vorgehens und das Ergebnis der Prüfung keinerlei Vorschriften zu machen hat. Umso erstaunlicher ist, dass den bayerischen Gerichtspräsidenten zufällig genau derselbe Wortlaut der Schreiben einfiel, mit denen sie die Richterinnen und Richter angeschrieben haben. Ein Beispiel für das Rückgrat von Gerichtspräsidenten.

Alle übrigen Justizminister haben klug geschwiegen. Erst am 12.6.1987, etwa vier Monate nach Erscheinen der Anzeige, hat Niedersachsens Justizminister zugeschlagen; auch er wies seine Gerichtspräsidenten an, die Anzeige disziplinarrechtlich zu würdigen und griff gleich kräftig in die Saiten: »Sie (die Anzeige, U.V.) stellt nicht nur die Unverbrüchlichkeit von Recht und Gesetz in Frage und damit eine unabdingbare Voraussetzung demokratischer Rechtspflege, sondern auch die Letztkompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des Grundgesetzes.« Am Ende wird der Ministerialerlass freilich kleinlaut. Echte Disziplinarmaßnahmen, auch ein Verweis, seien nicht erforderlich; es genüge ein Vorhalt.

Der Leser des Erlasses wird sich die Augen reiben. Bei einem Richter, der die Axt an die Wurzeln des Rechtsstaates legt, nur ein Vorhalt? Das kann nicht ernst gemeint sein. Offensichtlich glaubt der Justizminister selbst nicht an die Überzeugungskraft der starken Worte, mit denen er seinen Erlass eingeleitet hat. Dann aber muss ich als Betroffener meinen Anspruch auf eine ernsthafte Erörterung einklagen. Über kleine Fehler, wie die, dass die Begriffe »Amtsbezeichnung« und »Berufsbezeichnung« durcheinandergeworfen sind und die falsche Behauptung, dass die Amts- (richtig: Berufs-)bezeichnung der Unterzeichner in der Anzeige drucktechnisch hervorgehoben sei, will ich hinwegsehen; so ist er eben, unser Minister.

Erheiternd, dass der Erlass in zwei Fassungen im Umlauf ist. In der Ordentlichen Gerichtsbarkeit heißt es stimmig: »Richter, die rechtswidrig demonstrierenden Kollegen ihren Respekt erweisen…«; in der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit hingegen: »Richter, die rechtzeitig demonstrierenden Kollegen…«. Offensichtlich haben diese Richter eine Sympathisantin im Schreibdienst. Freud hat ihr bei der Arbeit über die Schulter geschaut. Justizminister Remmers ist noch ein weiteres Missgeschick unterlaufen. Die niedersächsischen Arbeitsrichter, die der Dienstaufsicht von Sozialminister Schnipkoweit unterstehen, werden von Disziplinarmaßnahmen unbehelligt bleiben. Entweder hat Remmers eine Abstimmung im Landeskabinett schlicht vergessen, oder sie ist misslungen. Wie aber will es die Landesregierung rechtfertigen, dass sie nur gegen einen Teil der niedersächsischen Richter vorgeht?

Doch zurück zu dem Ministerialerlass. Seine Mängel liegen so offen zu Tage, dass die Präsidenten der Landgerichte in Hannover, Lüneburg und Oldenburg ihn nicht im Wortlaut ihren Richtern vorlegen mögen. Sie haben sich zu eigenen Formulierungen entschlossen. Am Einfachsten versucht der Präsident des Landgerichts Hannover Chappezau — weitgehend vergeblich — davon zu kommen. Er hat ein Formblatt entworfen, nach dem der betroffene Richter erscheint, ihm der Ministerialerlass (nur) inhaltlich bekannt gegeben wird, er auf Rechtsmittelbelehrung (!) verzichtet und auch gleich auf Rechtsmittel. Soweit ersichtlich, steht nur der Präsident des Amtsgerichts Hannover, Dellmans, ein früherer Eisenbahner, der dann zur CDU und zur Justiz gefunden hat, hinter dem Erlass des Ministers. Er hat erklärt, er habe die ZEIT-Anzeige schon bei ihrem Erscheinen als Pflichtwidrigkeit begriffen, aber nichts unternommen, weil er mit Disziplinarmaßnahmen nicht habe allein dastehen wollen. Mir scheint dies ein seltsames Verständnis von den Pflichten eines Dienstvorgesetzten zu sein. Stellt ein Dienstvorgesetzter eine Pflichtwidrigkeit fest, muss er ohne ängstlichen Blick nach rechts und links einschreiten. Für den Juristen muss jetzt die schwierige Frage beantwortet werden: Hat sich Dellmans (des mindestens untauglichen Versuchs) einer Dienstpflichtverletzung schuldig gemacht?

Der Erlass des niedersächsischen Justizministers wirft noch schwierigere Fragen auf: Inzwischen haben zahlreiche Gerichte, zuletzt am 20.7.1987 das Landgericht Bad Kreuznach, Blockierer von dem Vorwurf der Nötigung freigestellt oder völlig freigesprochen. Darf ich diesen Angeklagten, diesen Richterkollegen, meinen Respekt aussprechen? Nach der Auffassung von Minister Remmers wohl kaum. Doch die Überlegungen werden noch schwieriger: Remmers kann mir wegen der richterlichen Unabhängigkeit nicht das Recht absprechen, Blockierer freizusprechen, wenn dies meiner Rechtsüberzeugung entspricht. Kann er mir dann verbieten, auch nachträglich mein Urteil als richtig zu bezeichnen?

Ich will jedoch auch die guten Seiten des Ministerialerlasses hervorheben: Erstmals in der Rechtsgeschichte werden (fast) alle niedersächsischen Gerichtspräsidenten über genau denselben Sachverhalt entscheiden müssen. Eine Sammlung dieser Entscheidungen wird erstmals einen echten Leistungsvergleich der Gerichtspräsidenten ermöglichen. Die Gerichtspräsidenten sind auf dem Prüfstand!

Den entscheidenden Gesichtspunkt aber hat der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Hannoveraner Rechtsanwalt Klaus Eschen, beigesteuert: Er begrüßt die massenhaften Disziplinarverfahren, weil sie den Abstand zwischen Richtern und Justizverwaltung vergrößerten, und wir in Niedersachsen mehr innerlich unabhängige Richterinnen und Richter haben werden, als zuvor.

Kategorie: vorgänge: Artikel

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