Termine / Frieden

Zeugnis zum Welttag zur Überwindung der Armut 2003

12. August 2004
Datum: Donnerstag, 12. August 2004

Vorgelesen von Mitgliedern aus den ghettokids-Projektgruppen bei der Veranstaltung „Immer da sein, wo’s weh tut!“ der HUMANISTISCHEN UNION e. V., Regionalverband Muenchen-Suedbayern

Wir kommen aus dem Hasenbergl-Nord. Dort leben  Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zusammen. Türken, Griechen, Italiener, Spanier, Bosnier, Kroaten, Serben, Kosovaren, Albaner, Russen, Tunesier, Kongolesen, Kenianer, Togolesen, Sinti, Roma, Deutsche und noch viele andere Volksgruppen. Nicht immer verstehen sich die Menschen dieser Länder untereinander. Oft hat sie die Verfolgung, ein Krieg und die damit verbundene Armut nach Deutschland verschlagen. Nicht selten haben sie alles verloren und müssen hier bei uns ganz von vorne anfangen. Und leider haben viele ganz fürchterliche Dinge in ihrem Land erlebt. Und die Kinder und Jugendlichen dieser Familien auch.

In unserer Gruppe sind wir eine große Familie mit über zweihundert Kindern und Jugendlichen und leben den Erwachsenen vor, wie man sich auch bestens verstehen kann, obwohl man nicht die gleiche Muttersprache spricht, anders aussieht, aus einem völlig anderen Kulturkreis kommt, in einer Sozial- oder Unterkunftswohnung wohnt, nicht viel besitzt.

Und von einem aus unserer Gruppe möchten wir Euch jetzt erzählen. Dieser Jugendliche kommt aus dem Kosovo und heißt Agim. Er hat vor einigen  Jahren im Krieg über 40 Angehörige seiner Familie verloren. Die grausamen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien hat Babys, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen mit sich in den Tod gerissen.
Als Agims Familie Hals über Kopf nach Deutschland flüchten konnte und sie im Kosovo alles hinter sich lassen mussten, war er durch die erlebten Grausamkeiten innerlich tief verletzt, verbittert, hasserfüllt.

In der Schule, in Freizeitheimen und auf der Straße prügelte Agim brutal unkontrolliert um sich. Er klaute, fuhr ohne Führerschein in der Gegend herum und probierte auch Drogen aus. Oft kam er mit dem Gesetz in Konflikt und hatte mit der Polizei und den Gerichten zu tun. Er war nicht mehr bereit, sich an irgendeine Regel zu halten, konnte niemandem und nichts verzeihen. Er schwänzte und streunte herum, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich am Leben zu rächen.

Seit drei Jahren gehört Agim zu unserer Gruppe. Er traf bei uns auf Kinder und Jugendliche der Volksgruppe, die seine Verwandten liquidiert hatten. In unseren Projekten hat er aber gelernt, dass Liebe, Verständnis, Geduld, Toleranz, Lebensfreude Wunden heilen kann. Nicht alle, aber einige. Und er hat gelernt zu weinen und Trost anzunehmen.
Agim hat in dieser Zeit immer noch Dummheiten angestellt, aber niemanden mehr durch Schlägereien verletzt. Er geht zur Schule und ist inzwischen im Projekt Betreuer, Helfer und Lehrer. Für ihn ist es nicht mehr wichtig, woher jemand kommt, sondern dass er das, was er tut, mit Freude und Engagement  macht.

Manchmal kommt seine Verzweiflung wieder hoch und dann droht er, daran doch zu zerbrechen. In solchen Situationen stehen ihm aber die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen unser Projekt-Familie zur Seite. Und die Lehrkräfte und Schulleitung seiner Schule. Und vor allem seine Familie im Hasenbergl.

Aber jetzt hat das Schicksal unserem Kosovo-Jugendlichen wieder eine harte Prüfung auferlegt.
In den Sommerferien wollte Agim zusammen mit seiner Familie wieder in den Kosovo fahren. Seit dem Kriegsende waren sein Vater, seine Mutter, seine Geschwister und er nicht mehr dort gewesen. Das Auto war gepackt und alle freuten sich unbeschreiblich auf das Wiedersehen mit ihrer Heimat, dem Kosovo.

Kurz vor der Abfahrt ging der Vater noch einmal in die Wohnung. Und er kam nicht mehr zurück. Als die Familie nach ihm schaute, lag er sterbend in der Wohnung. Gehirnschlag mit 52 Jahren.

Aus Verzweiflung wollte Agim aus dem Fenster im 4. Stock springen. Er wollte nicht mehr leben. Er wollte nur noch sterben. Sein ältester Bruder hat ihn im letzten Moment noch zurückhalten können.

Am nächsten Tag war er mit seiner Familie dann doch im Kosovo. Aber nicht, um Ferien zu machen, sondern um den Vater in der geliebten Kosovo-Erde zu begraben.
Für Agim sind Krieg, Leid und Tod nicht nur irgendwelche Wörter. Er musste so vieles erleben, sehen, hören, ertragen. Wie viele andere aus unserer Gruppe auch.

Wir wissen nicht, ob er jemals wieder ein glücklicher Mensch werden kann. Aber wir werden versuchen, ihm dabei zu helfen.

Und wenn ihr einem Kind oder Jugendlichen aus einem anderen Land begegnet, dann schaut in seine Augen und in sein Herz, hört ihm zu und zeigt ihm, dass ihr verstehen wollt.
Und wenn ihr einem Jugendlichen aus dem Kosovo gegenüber steht, dann ist es vielleicht Agim. Er braucht nicht nur uns. Er braucht euch genauso.

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