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Leitkultur Menschen­rechte. Erfolg­reiche Veran­stal­tungs­reihe der HU Frank­fur­t/­Main

03. Juli 2006
Datum: Montag, 03. Juli 2006

Mitteilungen Nr. 193, S. 15-17

Im Frühjahr dieses Jahres lief die Veranstaltungsreihe „Leitkultur Menschenrechte“ des Ortsverbands Frankfurt – sehr erfolgreich: Wir konnten fünf qualifizierte Referenten gewinnen und ein breites Publikum mit unseren Themen erreichen. Letzteres in doppeltem Sinne: die Veranstaltungen selbst waren mit 80 bis 110 ZuhörerInnen gut besucht. Darüber hinaus erreichten wir über unseren Kooperationspartner Frankfurter Rundschau (FR) ein bundesweites Publikum, denn als Mitveranstalter veröffentlichte die FR jeweils wenige Tage vor der Veranstaltung die Thesen unserer Referenten. Was war Ziel der Reihe „Leitkultur Menschenrechte“, wie verlief sie – und wie geht es weiter?

Ziele

„Leitkultur“-Debatten gibt es nicht erst seit Friedrich Merz. Das Wort „Kultur“ klingt attraktiv – doch welche Inhalte werden transportiert? Die oft von konservativer Seite gestellte Frage, was „uns“ gegenüber anderen Weltregionen auszeichne, griff der Ortsverband Frankfurt auf – um sie auf europäischer Ebene neu zu beantworten: Seit Dezember diskutierten wir intern, was uns verbindet, was das Wertvolle unserer Kultur ist. Ergebnis: die Errungenschaften der Aufklärung, der mit ihr entstandene Humanismus und die Menschenrechte, die sich aus ihr entwickelt haben.
Wichtig war uns, nicht nur auf einer juristischen Ebene zu diskutieren – die ist zwar wichtig, wenn Konflikte sich im Verfassungsrechtlichen zuspitzen. Doch vor der rein rechtlichen Debatte liegt die ethische Diskussion: etwas vorschnell möchte manche/r für alles offen sein. Doch dann fehlen in aktuellen Kontroversen wie dem Karikaturenstreit oder misslungener Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen (Extrembeispiel: der überlebende Teil der Familie Sürücü) leicht die Maßstäbe. Zugleich werden überholte Maßstäbe, überwunden geglaubte verengte Orientierungen wieder in die Debatte geworfen, wie der Vorstoß von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit ihrem „Bündnis für Erziehung“ zeigt. Auch, um nicht stets von neuem Rezepte von vorgestern korrigieren zu müssen, wollten wir uns dessen vergewissern, was unsere kulturelle Identität ausmacht. Dabei bewegen sich die Wertmaßstäbe von Aufklärung und Humanismus auf einem höheren Abstraktionsniveau als die einfacheren Handlungsorientierungen z.B. der abrahamitischen Religionen. Die Abstraktion ermöglicht den universalen Geltungsanspruch, zugleich muss sie vorausgesetzt werden, um individuelle Freiheit zu gewinnen.

Wie aber das abstrakte Gebilde „Humanismus“ konkretisieren? Die Menschenrechte haben viele Facetten, aber nicht nur Redefreiheit beinhaltet mehr, als im Rahmen eines Handy-Flatratetarifs unbegrenzt zu schwätzen – insgesamt ist das Wissen um Menschenrechte oft begrenzt. Um die aktuelle Situation bei bestimmten Aspekten auszuleuchten, hat der Ortsverband Frankfurt Spezialisten zur Diskussion eingeladen – wobei wir nicht über die Organisationskapazität verfügten, um alle Aspekte sofort zu würdigen. Manche wichtige Themen wie die Gleichstellung der Frau – gerade auch im islamischen Bevölkerungssegment! – können erst im Herbst folgen.

Verlauf

Auftakt der Reihe war Dr. Michael Schmidt-Salomons Vortrag „Humanismus und Aufklärung als Leitkultur – oder: Wer für alles offen ist, ist auch nicht ganz dicht“. Vor überfülltem Saal stellte Schmidt-Salomon Thesen aus seinem Manifest des Evolutionären Humanismus vor. Er gliederte seinen Vortrag in vier Abschnitte, wobei er in den ersten beiden mit weit verbreiteten Vorurteilen aufräumte: Unter der Überschrift „Denn sie wissen nicht, was sie glauben …“ beleuchtete Dr. Schmidt-Salomon die Bibel, den grundlegenden Text christlicher Glaubensüberzeugungen. Viele behaupten, in der Bibel ein ethisches Fundament zu finden – doch die meisten von ihnen wüssten nicht, was tatsächlich in der Bibel drinsteht, so Schmidt-Salomon. Er zitierte das Gebot von Sippenhaft im Dekalog, die Aufforderung, Hexen und Schwule zu töten und pyromanische Rachephantasien an allen Andersgläubigen, um festzustellen, „dass sämtliche religiösen Quellentexte weit unter dem ethischen Mindeststandard jeder halbwegs zivilisierten Gesellschaft stehen“.

Nachdem Dr. Schmidt-Salomon Fakten über den christlichen Quellentext dargestellt hatte, ging er ein zweites, ebenso weit verbreitetes Vorurteil an, das von den „christlichen Werten“ – denn all‘ das, was uns heute für eine offene, demokratische und humane Gesellschaft wichtig ist, wurde seit der Renaissance und Aufklärung mühselig gegen die Kirchen erkämpft. Unter dem Stichwort „Traditionsblindheit“ analysierte Schmidt-Salomon, wie sich das Vorurteil der „christlichen Werte“ dennoch halten kann, um schließlich entschieden für Humanismus und Aufklärung als neue Leitkultur zu plädieren.

„Von der ‚Erziehung nach Auschwitz‘ zur Menschenrechtsbildung“ lautete das Thema von Prof. Dr. Micha Brumlik. Micha Brumlik ist Professor für Pädagogik an der Universität Frankfurt und leitete von 2000 bis 2005 das Fritz-Bauer-Institut, das die Geschichte und Wirkung des Holocaust erforscht. Prof. Brumlik lieferte einen Abriss der pädagogischen Diskussion und machte deutlich, dass es bei einer „Erziehung nicht nach, sondern über Auschwitz“ nicht nur um das Vermitteln kognitiven Wissens geht. Die Unterscheidung zwischen „education about human rights“ und „education for human rights“ zeigt, dass es darauf ankommt, eine ethische Motivation (bei SchülerInnen) zu verankern. Damit ein solches „moralisches Gefühl“ entwickelt wird, müssen – so Brumlik – jedoch „sehr voraussetzungsreiche Bedingungen“ erfüllt sein:

„1.   Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden.
2. Niemand kann Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung entfalten, der nicht seinerseits in allen wesentlichen Bezügen toleriert, akzeptiert und respektiert worden ist.
3. Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung sind die logischen und entwicklungsbezogenen Voraussetzungen dafür, Einfühlung, Empathie in andere entfalten zu können.“

Wie das Konzept in schulischer Praxis umgesetzt werden kann, wurde an einzelnen Beispielen demonstriert.

Claus Fussek hingegen widmete sich stark praxisorientiert der Situation in der Altenpflege. Anhand unzähliger Beispiele verdeutlichte er, wie die Menschenwürde einer stark wachsenden Gruppe mitten in Deutschland missachtet wird: Trotz vieler Konferenzen und bürokratischer Zertifizierungen herrschen in (zu) vielen Alten- und Pflegeheimen inakzeptable Zustände, aufgrund derer sich Dekubitusgeschwüre entwickeln oder Pflegebedürftige „pflegeerleichternd“ in Windeln gewickelt statt zur Toilette geführt werden. Zu schnell wird auf Magensonden umgestellt, statt pflegebedürftige Menschen ihre täglichen Mahlzeiten in dem Tempo essen zu lassen, in dem sie kauen und schlucken können. Plastisch führte Fussek eine Wirklichkeit vor Augen, die gerne verdrängt wird. Viele Pflegebedürftige stellen sehr reduzierte Erwartungen an den Alltag ihrer letzten Lebensjahre – doch fehlt ihnen die Lobby, um selbst diese geringen Ansprüche durchsetzen zu können. Mit der Fülle seiner negativen Beispiele betonte Fussek, dass es sich bei Fehlentwicklungen in den Altenheimen um keine „Einzelfälle“ handelt. Leider hat er die Erfahrungen, die er und sein Verein gesammelt haben, nicht statistisch aufbereitet. Wie stark schlechte Pflege verbreitet ist und wie viele Pflegeheime mit akzeptablen oder guten Standards arbeiten, blieb offen.

Menschenrechte beanspruchen universale Geltung, machen auch völkerrechtlich nicht an den Landesgrenzen halt. Manchmal aber doch, so dass inzwischen auch deutsches Militär zu sogenannten „humanitären Missionen“ in fremde Länder aufbricht. Der Einsatz militärischer Streitkräfte zeitigt immer auch Auswirkungen nach innen, so dass wir den Friedensforscher Dr. Peter Strutynski von der Universität Kassel einluden, der den Widerspruch zwischen dem Gebot der Nichteinmischung in „innere Angelegenheiten“ fremder Staaten und dem auch völkerrechtlich gesicherten Anspruch auf Geltung der universalen Menschenrechte auflöste: Es gehe „nicht um das ‚ob‘, sondern allein um das ‚wie‘“. In fünf Thesen fasste Dr. Strutynski zunächst die Entwicklung der Menschenrechte von reiner, aber symbolisch wirksamer Deklamation in der Allgemeinen Erklärung vom 10. Dezember 1949 und früheren Quellen über die völkerrechtlich verbindlichen Zivil- und Sozialpakte von 1966 bis zur Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs zusammen. Mit den „humanitären Interventionen“ setzt sich der UN-Sicherheitsrat über die eigene Charta hinweg – seit 1991 im Irak, in Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo etc. Im Ergebnis stifteten die Interventionen weder einen nachhaltigen Frieden noch leisteten sie einen Schutz der Zivilbevölkerung und der Menschenrechte. Eigentlich kein Wunder, denn „Krieg selbst stellt einen schweren Rechtsbruch dar, indem das grundlegendste Menschenrecht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, verletzt wird“.

Abschließend nahm Dr. Carsten Frerk das Geschäft mit der Nächstenliebe unter die Lupe: die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen Caritas und Diakonie, von denen viele glauben, dass die Kirchen darüber „viel Gutes“ tun. Anhand satten Zahlenmaterials wies Dr. Frerk nach, dass „die gesamten kirchlichen Zuschüsse für Caritas und Diakonie nur 1,8 Prozent von deren Gesamtkosten abdecken“. Doch nicht genug, hier ein weiteres Vorurteil über Religionsgemeinschaften aufzudecken. Denn die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen sind mit zusammen rund 950.000 Beschäftigten die mit Abstand größten Arbeitgeber Deutschlands, weit vor Siemens (426.000 MitarbeiterInnen weltweit) oder DaimlerChrysler (366.000 MitarbeiterInnen weltweit) und zugleich diejenigen Arbeitgeber, die weit ins Privatleben ihrer Beschäftigten hineinregieren, bis hinein ins Ehebett: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften bilden für Beschäftigte in Einrichtungen der Caritas ebenso einen Kündigungsgrund wie Ehescheidungen!

In den letzten Wochen war das Antidiskriminierungsgesetz wieder in der Diskussion. Rot-Grün hatte die EU-Richtlinie nicht umgesetzt, Schwarz-Rot macht sich jetzt daran – und hat den Kirchen einen Paragraphen eingefügt, der ihnen das Beschneiden von Religionsfreiheit, sexueller Selbstbestimmung und eine Reihe weiterer Diskriminierungen gestattet, bis in kirchenseitig definierte Tochterunternehmen hinein. Wie elementare Grundrechte auch noch durch ein „Antidiskriminierungsgesetz“ beschnitten werden, bezeichnete Frerk als „fatal“.

Resümee

Die Reihe „Leitkultur Menschenrechte“ war in mehrfacher Hinsicht äußerst erfolgreich:

• zentrale Anliegen der Menschen- und Bürgerrechte wurden formuliert
• mit unseren Themen erreichten wir ein großes lokales Publikum, das darüber die HU als relevanten Akteur im politischen Diskurs kennen gelernt hat
• einige Personen interessieren sich jetzt näher für die HU. Wir versuchen, den Kontakt zu pflegen, zu intensivieren – und so neue Mitglieder zu gewinnen
• die Reihe lief in Kooperation mit Partnern wie der Frankfurter Rundschau oder dem Alibri-Verlag, die in bestimmten Bereichen gleiche Ziele wie wir verfolgen. Wir konnten eine Win-Win-Situation herstellen, in der sich unsere Partner mit der Reihe profilieren und so von ihr profitieren konnten
• neue Partner wurden erreicht: über die Reihe wurden Kontakte zu anderen Organisationen geknüpft, die ähnliche Ziele verfolgen. Gemeinsam geht das besser: die Vernetzung wird gefördert.

Für den – gemessen am aktiven Kreis doch sehr kleinen – Ortsverband Frankfurt war „Leitkultur Menschenrechte“ eine große Herausforderung, auch zeitlich eine hohe Belastung – aber auch ein Erfolgssignal. Der OV muss den Generationswechsel schaffen: So manche/r unserer Aktiven arbeitet schon seit Gründung der HU mit – und zieht sich zunehmend zurück. Es gilt, neue Mitstreiter/innen zu gewinnen. Was wäre besser geeignet, als sich als lebendige Organisation zu präsentieren? Nach innen ist der Aufwand beides: Belastung des (zu) kleinen Kreises Aktiver und zugleich Chance, den Kreis zu vergrößern.

Im Herbst werden wir die Reihe „Leitkultur Menschenrechte“ fortsetzen: Es gibt zu viele Facetten, die ungenannt geblieben sind. Der Publikumserfolg zeigt: Menschenrechte sind Thema, bleiben Thema – unsere Aufgabe ist es, die Inhalte so greifbar zu machen, dass wir breite Kreise erreichen. Dabei ist die Frankfurter Strategie nicht neuerfunden, sondern wir setzen bewusst und aktiv Kooperationen und Marketing- / PR-Mechanismen ein, um die HU zu positionieren.

Religionskritische Themen haben Konjunktur, die Zuhörerzahlen zeigen es. Wir werden den Bedarf befriedigen – vielleicht sogar passend zu Nikolaus. An erster Stelle stehen jedoch „Klassiker“: die Situation von Frauen. Diskussionen im Ortsverband ergaben, dass wir hier unterscheiden müssen zwischen der Situation mitteleuropäischer Frauen, die formal gleichberechtigt sind, gelegentlich sogar über Gleichstellungsprogramme beruflich gefördert werden – und dennoch strukturell benachteiligt werden: Allein der unterschiedliche Anteil von Studienabsolventinnen zu Managerinnen spricht Bände. Das von Ingenieurinnen erzielte Einkommen liegt – bei vergleichbaren Positionen – in aller Regel unter dem ihrer männlichen Kollegen. Diskriminierung läuft also weiter, läuft aber nicht mehr offensichtlich. Krasser sieht es bei Frauen aus, die dem islamischen Kulturkreis entstammen. Ihre Situation müssen wir gesondert würdigen. Zu viele Probleme, die typische Mitteleuropäerinnen hinter sich gelassen haben, bestehen hier noch fort.

Ein gänzlich anderes Kapitel ist der Datenschutz. Der Begriff klingt altbacken, fast überholt, doch stehen uns z.B. im Gesundheitswesen neue Wellen von Datenerfassungen bevor. Wer erhält Zugriff auf welche dieser Daten? Wie steht es um Konsumentenprofile – die dank RFID immer individueller werden? (RFID-Chips sind kleine Funk-Chips, über die jede Zahnbürste oder Kaffeepackung eine individuelle Seriennummer – wie die Fahrgestellnummer eines PKW – bekommen können, die an der Ladenkasse mit dem Zahlungsmittel des Kunden („Payback“- oder Kreditkarte) verknüpft wird. Gegen den konservativen Slogan „Datenschutz gleich Täterschutz“ gilt es hier, Grundaussagen griffig neu zu formulieren und so in den Köpfen zu verankern, welche Lebensrisiken der Verzicht auf Datenschutz produziert.

Weiter geplant sind eine Podiumsdiskussion zu Wirtschaft und Menschenrechten und ein Vortrag über den „halbierten Liberalismus“, über den wir die historische Dimension erschließen: wie materialisierte sich aufklärerisches Gedankengut? Sobald Referenten und Termine feststehen, informiert der Ortsverband Frankfurt.

Peter Menne
Mitglied des HU-Ortsverbandes Frankfurt/M.

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