Beitragsbild Die Politik und das Bundesverfassungsgericht
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Die Politik und das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

25. Mai 2009
Datum: Montag, 25. Mai 2009

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „60 Jahre Grundgesetz – Anspruch und Wirklichkeit“

Die Politik und das Bundesverfassungsgericht

Ferdinand Lasalles Feststellung, dass alle Verfassungsfragen zugleich auch Machtfragen seien, ist trivial. Anders dagegen die Umkehrung des Satzes: Das alle Machtfragen auch zu Verfassungsfragen gemacht werden, ist nicht selbstverständlich. Es zeugt von großen Erwartungen an, aber auch großem Vertrauen in das Grundgesetz, wenn in der bundesdeutschen Politik immer wieder Machtfragen als Streit um die Verfassung ausgetragen werden. Mit dieser Diagnose über den deutschen Verfassungspatriotismus eröffnete die Justizministerin Brigitte Zypries ihren Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „60 Jahre Grundgesetz“.

Im ersten Teil ihres Vortrags blickte Frau Zypries aus der Perspektive der Politikerin auf das Verfassungsgericht. Sie griff dazu einen Vorwurf auf, der in letzter Zeit immer wieder von konservativer Seite gegen das Gericht erhoben wurde: ‚Das Karlsruher Gericht treibe zu viel Politik!‘ Ihr klare Antwort lautete: Nein! Gewiss haben Entscheidungen der parlamentarischen Mehrheit manchmal vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand – das sei aus der Perspektive der Sicherung von Grundrechten aber gewollt. Grundrechte sind im Zweifelsfall Minderheitenrechte, deshalb müssen Mehrheitsentscheidungen auch aufhebbar sein.

Zypries wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Gericht die Entscheidungs- und Einschätzungshoheit der Politik sehr weit auslege. So werde bei der Prüfung der Verfassungskonformität die Geeignetheit und Erforderlichkeit gesetzgeberischer Initiativen stets wohlwollend ausgelegt – es reicht aus, wenn ein Gesetz nur die abstrakte Möglichkeit biete, dass mit ihm die angestrebten Ziele erreicht werden könnten. (Ein Freiraum, über den sich manche bürgerrechtliche Verfassungsbeschwerde schon geärgert hat.) Und schließlich zeige sich die politische Zurückhaltung des Gerichts auch darin, dass es von sich aus die Möglichkeit eines milderen Eingriffs in verfassungswidrige Gesetzgebung geschaffen habe: das Zugeständnis von Übergangsfristen für die Heilung verfassungswidriger Gesetzgebung (wie derzeit beim Wahlrecht). Ursprünglich war nur vorgesehen, dass die Richter Gesetze (sofort) für nichtig erklären können. Mit den Übergangsfristen wolle das Gericht die Konsequenzen einer sofortigen Außerkraftsetzung von Gesetzen abfedern. Paradoxerweise hat aber gerade diese Lösung – Frau Zypries wies darauf hin – dazu geführt, dass sich das Verfassungsgericht als „Ersatzgesetzgeber“ betätigt habe. So passiert etwa beim 1993er Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, wo das Gericht detaillierte Verfahrensanweisungen gab, wie bis zur Neuregelung des § 218 Strafgesetzbuch zu verfahren sei.

Die Ministerin verteidigte die Bundesregierung natürlich gegen den Vorwurf der schlampigen Gesetzgebung, die immer wieder vom Verfassungsgericht korrigiert werden müsse. Sie wies darauf hin, dass die meisten der monierten Sicherheitsgesetze, die zuletzt in Karlsruhe verworfen wurde, aus den Bundesländern kamen – etwa präventive Abhörbefugnisse der Polizei (Niedersachsen), die Kfz-Kennzeichenfahndung (Hessen, Schleswig-Holstein) oder die Online-Durchsuchung (NRW). Ein Blick auf die Zahlen zeige keine Zunahme der verfassungswidrigen Bundesgesetzgebung: „Das Bundesverfassungsgericht hat … in den vergangenen Jahren im Schnitt acht Mal pro Jahr ein Bundesgesetz bzw. einzelne Paragraphen oder auch nur Teile von Paragraphen aufgehoben.“ Angesichts von mehreren tausend Seiten Gesetzgebung jährlich könne deshalb nicht von einem Qualitätsdefizit in der Gesetzgebung gesprochen werden. Allerdings: Diese Bilanz könnte sich bald verschieben, wenn das Verfassungsgericht über die noch verhandelten Bundes-Sicherheitsgesetze entscheidet – anhängig sind u.a. noch die Antiterrordatei, die Vorratsdatenspeicherung und das BKA-Gesetz.

Der zweite Teil des Vortrags versuchte einen Perspektivwechsel: den kritischen Blick auf politische Einflussnahmen auf das Gericht. Die Einflussnahme beginnt nach Meinung von Brigitte Zypries bereits damit, dass viele Oppositionsparteien bestrebt seien, ihre politischen Niederlagen in Karlsruhe in Erfolge umzumünzen. Allzu vorschnell hätten Oppositionspolitiker das Verdikt, dieses oder jenes Gesetz sei verfassungswidrig, zur Hand. Das Verfassungsgericht sei aber nicht dafür da, „entschlusslosen Politikern die Arbeit zu erleichtern und die Verantwortung abzunehmen“. Dieser Vorwurf traf jedoch nicht: Zum einen ist die „Flucht aus der Verantwortung“ nur für Politiker der Regierungsparteien denkbar, da die im Zweifelsfall unterlegenen Abgeordneten der Opposition kaum dafür verantwortlich sind, was die Regierungsmehrheit beschließt. Außerdem: Welcher Missbrauch soll darin bestehen, dass Politiker einmal mehr als nötig das Verfassungsgericht anrufen? Dass die Regierungsmehrheit immer der Meinung ist, eine Anrufung des Verfassungsgerichts sei nicht nötig, bescheinigt ihr nur, dass sie den Bruch der Verfassung nicht sehenden Auges einging.

Schließlich versuchte Frau Zypries, das bisherige Verfahren zur Auswahl von Verfassungsrichtern gegen die Vorwürfe einer parteipolitischen Beeinflussung und der intransparenten Besetzung der Richterbank zu verteidigen. Warum ein öffentliches Verfahren der Kandidatenaufstellung die Unabhängigkeit der Richter gefährde und die Parteien trotz ihrer Nominierungen nur wenig Einfluss auf die Karlsruher Rechtssprechung haben, können Sie in der Audiodokumentation des Vortrages nachhören:

(Zum Abspielen des Mitschnitts benötigen Sie einen installierten Flash-Player.)

(Zusammenfassung: Sven Lüders)

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