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Verstän­di­gungs­schwie­rig­keiten zwischen Juristen und Historikern

09. Oktober 2010
Datum: Samstag, 09. Oktober 2010

Rede anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises durch die Humanistische Union am 9. Oktober 2010

Verständigungsschwierigkeiten zwischen Juristen und Historikern

Die ergiebigste Forschung ist nur die Hälfte wert, wenn ihr Wissen auf den Kreis weniger Eingeweihter beschränkt bleibt. Das gilt auch für die Erforschung der Verbrechen des Dritten Reiches. Vermittelt wird das Wissen darüber in den Gedenkstätten, aber auch auf andere Weise. Was die Gedenkstätten angeht, leisten sie durchweg gute Arbeit. Gegenstand der Gedenkstätten sind allerdings mit wenigen Ausnahmen die Verbrechen in den Konzentrationslagern. Alle großen Gedenkstätten heißen deshalb KZ-Gedenkstätten: Buchenwald, Neuengamme, Sachsenhausen, Bergen-Belsen usw. Hier sind tüchtige und fleißige Historiker an der Arbeit. In ihrer Ausbildung haben sie meist viel über die Organisation und Struktur des Systems der Konzentrationslager erfahren, auch viel über die Mentalität der Wachmannschaften und der Befehlsgeber in den Schaltstellen des Dritten Reiches.

Problematisch kann es werden, wenn Historiker es mit einem Verbrechenskomplex zu tun haben, der in ihrer Ausbildung nicht vorkommt. Das ist überall dort der Fall, wo Historiker es mit Fragen zu tun haben, die ohne Spezialwissen nicht ausreichend zu beantworten sind. Nun muss sich ein qualifizierter Historiker auch in neue Materien einarbeiten können. Was aber, wenn er es mit einer Berufsgruppe und Tätern zu tun hat, deren Funktion gerade darin bestand, das Verbrecherische dieses Tuns zu verschleiern, eine Hinterfragung zu erschweren. Eben dies trifft für die Justiz des Dritten Reiches zu, wie überhaupt in allen autoritären Systemen der Justiz die Aufgabe zugedacht ist, Unrecht als Recht erscheinen zu lassen, Unrecht zu legitimieren. In diesem Fall ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. Es bedarf einer Kooperation von Historikern mit Juristen, vor allem mit solchen Juristen, die sich nicht nur in der äußeren Technik des juristischen Methodeninstrumentariums auskennen, sondern auch das Fragwürdige juristischer Arbeit reflektieren und sich über die Möglichkeiten eines Missbrauchs der juristischen Methoden im Klaren sind. Leider fehlt es oft an einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit. Die Historiker, die ich im Auge habe, halten es in ihrer Selbstgewissheit, juristische und rechtshistorische Fragen selbst beantworten zu können, nicht einmal für nötig, Hilfe von Rechtshistorikern in Anspruch zu nehmen. Historiker, die es mit rechts- und justizgeschichtlichen Themen zu tun haben, also mit Fragen, die ohne juristische Fachkenntnisse nicht erschöpfend beantwortet werden können, müssen scheitern, wenn sie meinen, ohne juristische Hilfe auskommen zu können.

Schon die historische Forschung für frühere Jahrhunderte kam nicht immer ohne rechtshistorische Kenntnisse aus; man denke an das Völkerrecht, das sich im 17. Jahrhundert allmählich entwickelt hat. Dass historische Auseinandersetzungen zunehmend als juristische stattfinden, ist allerdings ein Charakteristikum der jüngeren Geschichte. Der Vorgang beruht auf einer Wechselwirkung. Die Grausamkeiten und Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts haben zur Entstehung eines globalen Rechts strafrechtlicher Verantwortlichkeit geführt, und dieses neue Recht – inzwischen das Völkerstrafrecht – wird zu einem maßgeblichen Faktor der Zeitgeschichtsschreibung. Es öffnet sich eine neue Perspektive: Historische Deutungsmacht hat derjenige, der sich der Unterscheidung von Recht und Unrecht bedienen kann. Nürnberg ist die Chiffre dieses Codes. Was Recht und Unrecht unterscheidet, lernt man besonders gut an den Extremen. Unverrückbarer Referenzpunkt ist hier das nationalsozialistische Deutschland als historisch beispielloser Unrechtsstaat, als einmalige Form der staatlich organisierten Kriminalität. Eine der besonders umstrittenen Fragen in diesem Zusammenhang ist die nach den Organisationen und Gruppen, die funktional zu dem kriminogenen Gesamtkomplex gehörten. Das hat Bedeutung nicht nur für die Gedenkstättenarbeit, sondern für alle, die es mit der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Daher muss immer wieder gefragt werden, wie sich das System von Grausamkeit und Unrecht entwickeln und durchsetzen konnte.

Es gibt reichlich Beispiele dafür, wie gewinnbringend sich eine Zusammenarbeit zwischen Historikern und Juristen auswirken kann, umgekehrt aber auch Beispiele für die fatalen Folgen verschmähter Kooperationsbereitschaft. Heute nur einige davon:

Beispiel 1:
Für einen rechtsstaatlich befriedigenden Ausgang einiger bedeutender NSG-Verfahren war entscheidend, dass die beteiligten Juristen wenigstens zeitweise von der Vorstellung Abschied genommen hatten, ein Jurist müsse „alles können“. Das zeigte sich ganz besonders in dem großen Auschwitz-Prozess in Frankfurt, wo man schon vor dem eigentlichen Prozessbeginn mehrere gründliche Gutachten von Historikern eingeholt hatte. Daraus erhielten die Richter und Staatsanwälte Aufschluss u. a. über die unübersichtlichen Befehls- und Kommandostrukturen, die auf verschlungenen Umwegen zu den Taten vor Ort führten. Andere NSG-Verfahren scheiterten dagegen, weil die Juristen keinen Durchblick in diesen Strukturen und Zusammenhängen hatten, auch unter Verzicht auf Beratung durch Experten zur Zeitgeschichte.

Beispiel 2:
Gleich ein Gegenbeispiel: das – von vielen Historikern bis heute nicht recht zur Kenntnis genommene – zweite große von Fritz Bauer eingeleitete Verfahren gegen die mehr als hundert Teilnehmer der großen „Euthanasie“-Konferenz des Reichsjustizministeriums am 23./24. April 1942. Lothar Gruchmann vom Institut für Zeitgeschichte war sicherlich ein großer Historiker, insbesondere ein Experte zur Zeitgeschichte. Ohne Kontakt zu Juristen – wobei damals, in den 1960er und 1970er Jahren, nur wenige Juristen ein Interesse an den Justizverbrechen aufbrachten – kam er bei der Würdigung des Beitrages der Juristen zum Anstaltsmord zu einem im Wesentlichen entlastenden Ergebnis. Die Juristen, so Gruchmann, hätten es doch immerhin geschafft, die Euthanasie „einzuhegen“, mit anderen Worten: Schlimmeres zu verhüten. Dass er in seinem Aufsatz geflissentlich vermied, das von Fritz Bauer im Jahre 1962 eingeleitete Verfahren gegen die Juristenprominenz und den schändlichen Ausgang dieses Verfahrens auch nur mit einem Wort zu erwähnen, sei hier nur nebenbei angemerkt.

Das von Fritz Bauer bis zu seinem Tod im Jahre 1968 nahezu zur Anklagereife vorangebrachte Verfahren wurde von seinem Nachfolger eingestellt. Sein Nachfolger, der Frankfurter Generalstaatsanwalt Dr. Horst Gauff, hatte sich für die Straflosstellung der führenden NS-Juristen auf einige wenige, sogar juristisch unhaltbare Sätze beschränkt, ohne jegliche historische Beratung. Möglich war dies nur, weil die Verfahrenseinstellung vom März 1970 in aller Heimlichkeit vor sich ging. Von der Existenz dieses Verfahrens hatte ich nur durch einen großen Zufall in jungen Richterjahren erfahren, als im Jahre 1965 die Anschuldigungsschrift Fritz Bauers beiläufig über meinen Schreibtisch lief, ohne dass ich mich damit irgendwie amtlich befassen musste. Die Erinnerung daran ermöglichte es mir später, die Veruntreuung des Erbes von Fritz Bauer durch seinen Nachfolger ans Tageslicht bringen zu können.

Beispiel 3:
Im Jahre 2004 veröffentlichte das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt einen Aufsatz. Darin kam ein Mitarbeiter des Instituts, Werner Renz, von Haus aus ein Germanist, zu dem Ergebnis, Fritz Bauer habe die Auschwitz-Täter zu Unrecht angeklagt. Bar jeder Kenntnis wenigstens der grundlegenden strafrechtlichen und strafprozessualen Begriffe und Grundsätze berief sich Renz u. a. auf den Gleichheitsgrundsatz, auf den Sinn und Zweck staatlichen Strafens überhaupt und darauf, dass die Täter inzwischen doch längst resozialisiert seien. In seinem laienhaften Verständnis hatte Renz geglaubt, solche Dinge ohne juristische Vorkenntnisse beurteilen zu können. Natürlich hätte vor der Veröffentlichung der wissenschaftliche Beirat des Instituts befragt werden müssen, zumindest dessen Vorsitzender Joachim Perels. Schließlich war der Aufsatz eine Art Schmähschrift gegen den Namensgeber des Fritz-Bauer-Instituts. Joachim Perels sandte sogleich einen kritischen Gegenartikel ein. Nun kam das Erstaunlichste: Der kommissarische Institutsdirektor lehnte einen Abdruck der Kritik mit schroffen Worten rundum ab. Und noch unglaublicher: Der Konflikt endete damit, dass der Institutsdirektor Professor Krause-Vilmar eigenmächtig, in Überschreitung seiner Befugnisse Joachim Perels von dem Vorsitz des Beirats abberief. Damit war übrigens ein Muster dafür geschaffen, wie selbstgerechte Leiter historischer Institutionen sich lästige Kritiker vom Hals schaffen können: Entweder setzt man die Kritiker ab oder man vergrault sie, was natürlich auf das gleiche Ergebnis hinausläuft. Übrigens auch ein Anlass zum Nachdenken über Sinn und Unsinn der Tätigkeit mancher Fachgremien.

Beispiel 4:
Wie ergiebig, ja unentbehrlich die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Historikern und Juristen bzw. Rechtshistorikern sein kann, hat die intensive Kooperation zwischen einem Historiker, dem Militärhistoriker Wolfram Wette in Freiburg, und einem Juristen, nämlich mit mir, wiederholt erwiesen. Dies zuletzt u. a. mit unserem – in öffentlicher Sitzung des Deutschen Bundestages lobend anerkannten – gemeinsamen Beitrag zur Verabschiedung des Zweiten Änderungsgesetzes zum Unrechtsbeseitigungsgesetz vom 8. September 2009, kurz: zur Rehabilitierung der sog. Kriegsverräter.

Wie verheerend, ja destruktiv sich dagegen der Verzicht auf eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit auswirken kann, dafür gleich in demselben Gesetzgebungsverfahren ein Gegenbeispiel. Der Rechtsausschuss des Bundestages hatte in der äußerst kontrovers verlaufenen Auseinandersetzung um die Aufhebung der Todesurteile gegen die „Kriegsverräter“ einen Historiker als Sachverständigen hinzugezogen: Professor Rolf-Dieter Müller, leitender Historiker beim militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. Sein ausführliches Gutachten, mit dem er einer Rehabilitierung der „Kriegsverräter“ scharf entgegentrat und womit er die Mitglieder des Rechtsausschusses sichtlich beeindruckte, hätte wohl mit Sicherheit zum Scheitern des ohnehin ungeliebten Gesetzesvorhabens geführt, wenn nicht Ungewöhnliches passiert wäre.

Zum näheren Verständnis muss ich zuvor auf einige Einzelheiten eingehen. In seinem Gutachten hatte Professor Müller ein Todesurteil des Reichskriegsgerichts präsentiert. Darin ging es um den General Edgar Feuchtinger, der sich bereichert und in vertraulichen Briefen an seine Geliebte über seine damalige militärische Tätigkeit berichtet hatte. Nach Auffassung von Professor Müller „ein besonders krasser Fall“ von Kriegsverrat, dessen Rehabilitierung einen „Skandal“ auslösen würde. Der von dem Militärhistoriker Müller geschilderte Sachverhalt machte mich, auch ich war als Sachverständiger geladen, stutzig.

Aus meiner langjährigen Beschäftigung mit den Tausenden von Todesurteilen des Reichskriegsgerichts wusste ich zwar von der Bedenkenlosigkeit, mit der das Gericht meist völlig unschuldige Menschen unter das Fallbeil brachte. Doch hatte ich auch die Methode des Vorgehens vieler NS-Juristen und gerade auch des Reichskriegsgerichts kennen gelernt: Eine Entscheidung mochte noch so furchtbar, noch so unmenschlich sein, stets legten die Richter großen Wert darauf, ihre Entscheidungen mit dem Schein der juristischen Korrektheit zu versehen. Womit sie übrigens den Machthabern eine besonders wirksame Unterstützung gewährten. Unter dem Einsatz ihres reichhaltigen juristischen Methodeninstrumentariums verrechtlichten sie das Unrecht, legitimierten sie den Terror, errichteten sie vor dem Terror eine Legalitätsfassade.

Aus dieser Perspektive betrachtet, zweifelte ich an der Existenz des Urteils, so wie Professor Müller es dargestellt hatte. Also schrieb ich an Professor Müller. Von mir um eine Kopie des Urteils oder wenigstens die Angabe eines Aktenzeichens oder einer Archiv-Signatur gebeten, verwies Müller mich wortkarg an das Militärarchiv in Freiburg, ohne nähere Angaben. Ich ließ in Freiburg recherchieren und erhielt die Auskunft, ein solches Urteil sei dort nicht bekannt. Also wiederholte ich meine Bitte an Professor Müller, nun etwas nachdrücklicher. Aus der von ihm endlich, immer noch ausweichend, genannten Quelle ergab sich, dass Feuchtinger wegen Wehrkraftzersetzung, also nicht wegen Kriegsverrat, verurteilt worden war. Und deswegen war Feuchtinger bereits aufgrund des Unrechtsbeseitigungsgesetzes von 1998 rehabilitiert worden. Leider hatte auch der langjährige, renommierte Historiker des SPIEGEL, Georg Böhnisch, das von Müller „erfundene“ Urteil unbesehen übernommen. Erst als der SPIEGEL später, rechtzeitig vor der Beratung des Bundestages, darüber berichtete, wie ich Professor Müller überführt hatte, kippte die politische Stimmung gegen das Müllersche Gutachten. Der Fall zeigt: Gerade der selbstgewisse, aber beratungsresistente Allround-Historiker kann auf grandiose Weise scheitern.

Zum Schluss ein letztes Beispiel. Es geht um Kommunikationsprobleme in der Gedenkstättenarbeit. Während es die meisten Gedenkstätten bei ihrer Arbeit mit brutalen handgreiflichen Menschenrechtsverletzungen (u. a. mit Schusswaffen, Giftgas usw.) zu tun haben, ist das Tatwerkzeug mordender Juristen die verschleiernde Sprache, insbesondere die juristische Methode, mit der sie Unrecht in Recht verwandeln. Was den Tatbeitrag der Juristen besonders lehrreich macht, ist die Methode ihres Vorgehens: Indem sie ihre Entscheidungen mit dem Schein der juristischen Korrektheit versahen, gewährten sie den Machthabern eine weitaus wirksamere Unterstützung, als dies bei offensichtlich weisungsgebundenen Richtern der Fall gewesen wäre. Mit gekonnter Juristentechnik verrechtlichten sie das Unrecht, legitimierten sie den Terror, errichteten vor dem Terror eine Legalitätsfassade. Sie kamen nicht trotz ihrer soliden juristischen Ausbildung, sondern mit Hilfe der noch zu demokratischen Zeiten gelernten Rechtstechniken zu ihren mörderischen Ergebnissen.

Schon eine allgemeine KZ-Gedenkstätte kommt nicht ganz ohne Interesse an der Rechts- und Justizgeschichte aus. Es waren Rechtsprofessoren, die schon in den Jahren 1933/34 mit der Erfindung des Begriffs der „Schutzhaft“ alle rechtsstaatlichen Sicherungen gegen terroristische Freiheitsberaubung beiseite räumten; an der Spitze die Staatsrechtler Ulrich Scheuner und Theodor Maunz, der spätere bayerische Kultusminister. Die Notwendigkeit einer Einbeziehung von Juristen und Rechtshistorikern in die Arbeit einer der NS-Justiz gewidmeten Gedenkstätte ist unabweisbar. Eine solche Gedenkstätte gibt es in Wolfenbüttel; bei ihrer Eröffnung im Jahre 1990 einzigartig für die gesamte Bundesrepublik. Und sie könnte bundesweite Ausstrahlung haben. Erst seit 2002 gibt es noch die Gedenkstätte Roter Ochse in Halle, die sich mit der NS-Justiz und der SED-Justiz befasst.

Warum eine Gedenkstätte gerade in Wolfenbüttel? Hier gibt es seit etwa drei Jahrhunderten ein Gefängnis. Es liegt noch in der Altstadt von Wolfenbüttel. Und mitten auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt gibt es eine der größten Hinrichtungsstätten des Dritten Reiches. Schon die Entstehung ist bemerkenswert. Es war das Jahr 1938, als den Planern des NS-Vernichtungskrieges in Berlin einfiel, dass ein solcher Krieg nicht ohne Unterdrückung und Grausamkeit gegenüber den eigenen Bürgern durchführbar ist. In diesem Fall also nicht ohne eine Sondergerichtsbarkeit, einschließlich des Volksgerichtshofs. Konkret: Schon im September 1938 rechnete man mit einem erhöhten Hinrichtungsbedarf. Welch eine Vorgeschichte, welch ein Anschauungsunterricht für Schüler und andere Besucher der Gedenkstätte.

Übrigens hat man sich bei der Architektur des Tötungsgebäudes Mühe gegeben. Im Unterschied zu den anderen Hinrichtungsräumen des Dritten Reiches – auch in Plötzensee gingen die Vollstreckungen in einem Raum des Gefängnisgebäudes vonstatten – hatte man eigens ein neues Gebäude errichtet, zweistöckig und mit einem Uhren- und Glockenturm. Hinrichtungen wurde schon seit dem Mittelalter eine sakrale Weihe verliehen. Ähnlich wie die Juristen taten auch die Theologen das Ihrige, um Grausamkeit zu legitimieren, als etwas Gutes und Wertvolles zu verbrämen. Deshalb wurde vor und nach Hinrichtungen in Wolfenbüttel die Glocke geläutet. Erst als das immer häufigere Glockenläuten die Anwohner der angrenzenden Wohnhäuser beunruhigte, hörte man damit auf. In den Jahren 1939 bis 1945 wurden hier in Wolfenbüttel weit über 600 Menschen hingerichtet. Darunter viele ausländische Widerstandskämpfer, auch Zwangsarbeiter, ein Jude, sog. Volksschädlinge und Wehrkraftzersetzer.

Im Jahre 1983 erfuhr ich, dass das niedersächsische Justizministerium plante, die Hinrichtungsstätte abzureißen und durch ein Wirtschaftsgebäude zu ersetzen. Von mir organisierte protestierende Unterschriften waren vergeblich. Die gesamte Presse, die überregionalen Medien, aber auch die Lokalpresse schwiegen. Mit einer Ausnahme: Mein Freund Eckart Spoo berichtete in der Frankfurter Rundschau über den Skandal. Doch auch das nützte nichts. Ebenso wenig wie mein im Auftrag der Gewerkschaft ÖTV mit dem niedersächsischen Justizminister Werner Remmers geführtes Gespräch. Dieser bekräftigte die Abrissentscheidung sogar im niedersächsischen Landtag. Fast in letzter Stunde wandte ich mich mit etwa 100 Schreiben an das Ausland, dort an viele Organisationen der NS-Verfolgten und ehemaligen Widerstandskämpfer. Dies in den wichtigsten europäischen Sprachen. Die dadurch ausgelösten rund 60 Protestschreiben an das niedersächsische Justizministerium brachten den Durchbruch. Der Minister musste den Rückzug antreten. Auch gab er der Forderung der Gewerkschaft ÖTV nach und gründete eine Gedenkstätte. Von dieser interessanten Vorgeschichte findet sich in der Gedenkstätte kein Wort. Der Gedenkstättenleiter hat diese Geschichte vollständig getilgt.

Immerhin haben mein Freund Joachim Perels sowie drei weitere für die Probleme der NS-Justiz aufgeschlossene Historiker mit mir gemeinsam bis 1999 eine Ausstellung erarbeitet. Untergebracht ist sie in Räumen des Gefängnisses. Nach Anmeldung kann sie von Gruppen und einzelnen Bürgern besichtigt werden. Zur Besonderheit einer Gedenkstätte über die NS-Justiz erinnere ich nochmals an die besonderen Tatwerkzeuge mordender Juristen, die verschleiernde Sprache und die juristische Methode. Diese Eigenart erforderte eine besondere Ausstellungskonzeption: Für die erste Orientierung gibt es die großen Stelltafeln, geordnet teils nach Zeitabschnitten, teils nach Aspekten. Bei der Ausstellungseröffnung im Jahre 1999 waren die Schautafeln vollständig geschaffen. Wie bei vielen modernen Ausstellungen gehört zu der Konzeption auch der Ausstellung in Wolfenbüttel, dass sich interessierte Ausstellungsbesucher nähere Informationen beschaffen können. Unverzichtbar war dies gerade wegen der Besonderheit der NS-Justiz, über deren Struktur informiert werden muss. Dazu gehören die Arbeitsweise und die Mentalitäten der damaligen Juristen, die sich auch nach 1945 fortsetzten. Viele dieser Juristen blieben nach 1945 nicht nur von der Strafverfolgung verschont, sondern durften sogar ihre Karrieren fortsetzen.

Für all dies sind in den Tafelgestellen unterhalb der Schautafeln Aktenschuber vorgesehen, aus denen die Ausstellungsbesucher Aktenordner herausziehen können mit Opferbiographien, Täterbiographien und Themenordnern.

Für die Täterbiographien hatten wir etwas ganz Besonderes geschaffen. Das war der sog. „Täterturm“: Ein auf einem Tisch platziertes, schwarzes, vierseitiges Aktengestell. Die darin vorhandenen 32 Aktenschuber sind zur Aufnahme der Täterbiographien bestimmt. Bei der Ausstellungseröffnung im Jahre 1999 hatte der Gedenkstättenleiter erst vier Täterakten erstellt, obgleich ich ihm die nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt hatte. Die nötige Ergänzung steht bis heute aus. Allerdings hat der Gedenkstättenleiter den „Täterturm“ etwa um die Jahreswende 2007/2008 spurlos verschwinden lassen. Er steht jetzt auf dem Dachboden der Justizvollzugsanstalt.

Über diesen eigenmächtigen Eingriff sowie über viele andere Pflichtverletzungen des Gedenkstättenleiters habe ich den seit dem 1. Januar 2008 amtierenden neuen Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten unterrichtet. Erst nach zahlreichen Erinnerungen erhielt ich eine kurze Antwort. Darin teilte mir der Stiftungsgeschäftsführer mit, zu den „Primäraufgaben“ auch der Gedenkstätte Wolfenbüttel gehöre das Gedenken an die Opfer. „Es gebietet der Respekt vor den Opfern, an dieser Primäraufgabe keine Abstriche zu machen.“ Mit anderen Worten: Die Wolfenbütteler Ausstellungsbesucher müssen sich mit den bescheidenen vier Täterakten begnügen.

Demnächst wird sich der Kultusminister mit meiner noch fertig zu stellenden, großen Dienstaufsichtsbeschwerde befassen müssen.

Sie können die Rede des Preisträgers hier auch nachhören (Dauer: ca. 45 Minuten):

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