Beitragsbild Tatort Gutfleischstraße. Politaktivist Jörg Bergstedt berichtet von rechtswidrigem Poizeiverhalten
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Tatort Gutfleisch­straße. Politak­ti­vist Jörg Bergstedt berichtet von rechts­wid­rigem Poizeive­r­halten

10. November 2011
Datum: Donnerstag, 10. November 2011

Das OLG Frankfurt verglich rechtswidriges Polizeiverhalten mit der „Schutzhaft“ der Nazis. Seit Volker Bouffier vom Innenressort ins Ministerpräsidentenamt wechselte, gelangen Gießener Zustände an die Öffentlichkeit.

Tatort Gutfleischstraße. Politaktivist Jörg Bergstedt berichtet von rechtswidrigem PoizeiverhaltenFoto: Jan Steffen

Foto: Jan Steffen

Politaktivist Jörg Bergstedt berichtete von Aktivitäten der „Projektwerkstatt“ und den justiziellen Reaktionen darauf. Für die Humanistische Union moderierte Peter Menne den Abend: die 45 bis 50 Besucher informierte er über das Engagement der HU gegen Polizeiübergriffe und leitete souverän die lebendige Diskussion nach Bergstedts Vortrag.

Kernpunkt war der rechtswidrige Polizeigewahrsam, den ein Gießener Amtsrichter verhängte, obwohl er wusste, dass Bergstedt das ihm angelastete Graffiti nicht gesprüht haben konnte. Denn der über Gießen hinaus bekannte Projektwerkstättler war just zur Tatzeit polizeilich observiert worden – nur eben nicht in der Nachbarschaft des damaligen Innenministers Bouffier, sondern beim nächtlichen Federballspiel vor dem Justizgebäude in einem ganz anderem Stadtteil. Polizei, Staatsanwalt und Gericht wussten also, dass Bergstedt die ihm vorgeworfenen Taten nicht begangen hatte. Dennoch verurteilte ihn das Amtsgericht. Erst das Frankfurter Oberlandesgericht verglich das Gießener Vorgehen mit der „Schutzhaft“ der Nazis und erklärte Bergstedts Ingewahrsamnahme für „insgesamt rechtswidrig“. Bundesdeutsches Polizeihandeln solle sich deutlich von dem „äußerst massiven“ Missbrauch der „Nazizeit“ unterscheiden.

Doch wie konnte es dazu kommen? Dankenswerterweise begann Jörg Bergstedt mit der Vorgeschichte: den Aktionen der Projektwerkstatt. Manches klang clownesk, sorgte nicht nur im gut besuchten Club Voltaire, sondern schon in Gießens Fußgängerzone für laute Lacher: so der Kameragottesdienst. Mittels Rundum-Kameraüberwachung auf dem Marktplatz wollte die CDU mehr Sicherheit schaffen. Eine schnell auf über 30 Personen angewachsene Truppe huldigte bald darauf vor der Kamera dem „neuen Gott Sicherheit“. Die persiflierten Kirchenlieder wurden getoppt, als die Polizei eintraf: vor den Beamten warfen sich manche Aktivisten zu Boden und beteten sie als Propheten des Sicherheitsgottes an. Vom ironischen Auftritt verunsichert, flüchtete die Polizei.

Ein anderes Mal störten die Politaktivisten eine Polizeiparade: Polizeidelegationen aus verschiedenen Ländern stolzierten in Paradeuniform durch Gießen. Mit Kopftuch und Wischmopp als Putzfrauen verkleidet, stürzte eine Aktivistengruppe dazwischen und schrubbte unter „Mehr Sauberkeit! Mehr Ordnung!“-Rufen die Straße. Mit derlei dadaistischen Aktionen machte die Projektwerkstatt die Staatsgewalt lächerlich – und hatte bei ihrem Protest die Lacher auf ihrer Seite.
Bergstedt berichtete, wie Polizei und Justiz mit Lügen gegen die Politaktivisten vorging. Streckenweise klang es haarsträubend, wie Beweismittel verfälscht wurden. Das ganze gipfelte in der Nacht vom 14. Mai 2006: Da trafen sich Bergstedt und drei Freunde zum nächtlichen Federballspiel vor dem Justizgelände und wurden dabei von einem Mobilen Einsatzkommando observiert. Zur gleichen Zeit wurde ein Graffiti an Bouffiers Nachbarhaus gesprayt. Der Täter war polizeibekannt: mit demselben Motiv schon mehrfach erwischt worden. Doch am 14. Mai ließen die Polizisten ihn laufen – um die Tat später Bergstedt in die Schuhe zu schieben.

Der Vortrag war gleichermaßen unterhaltsam und schockierend: So, wie das Verhalten der mittelhessischen Justizorgane geschildert wurde, beißt es sich mit jedem Bild von Rechtsstaatlichkeit. Die anschließende Diskussion wurde teils philosophisch: Ist das Recht eine Errungenschaft, die der Begrenzung obrigkeitlicher Willkür dient? Oder ist nur es ein weiteres Instrument, abweichende Lebensentwürfe zu unterdrücken? Marcuses Stichwort von der „repressiven Toleranz“ wurde in die Debatte geworfen, die von Peter Menne dezent, doch konsequent in konstruktivem Rahmen gehalten wurde.

Mehr zum Thema:
Jörg Bergstedt: Tatort Gutfleischstraße. Die fiesen Tricks von Polizei und Justiz,
SeitenHieb-Verlag,
Urteil des OLG Frankfurt

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