Meisterwerk, göttliches Wunder oder bloß ein Farbklecks? Das Turiner "Grabtuch"
Datum: | Sonntag, 18. März 2012 |
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Keineswegs eine Fälschung – vielmehr ein sehr wirkungsvolles Kunstwerk eines mittelalterlichen Malers: das ist das Fazit von Amardeo Sarma (GWUP). Ein Kunstwerk, das die Kirche effektvoll eingesetzt, um Gläubige anzuziehen, mehr noch: um deren Spendenpotential anzuzapfen.
Pilger scharen sich um jede Reliquie – doch nicht jede bringt eine eigene „Wissenschaft“ hervor: „Sindonologen“ nennen sich die Mitglieder jener Spezies, die göttliches Wirken & Walten im Turiner „Grabtuch“ nachweisen wollen. Wie der fromme Wunsch die Wirklichkeit zu verdrängen sucht, zeigte Amardeo Sarma in seinem Vortrag über das Turiner „Grabtuch“ am 2. April 2012 im Frankfurter „Club Voltaire“: Keineswegs eine Fälschung – vielmehr ein sehr wirkungsvolles Kunstwerk. Ein Kunstwerk, das die Kirche effektvoll eingesetzt, um Gläubige anzuziehen, mehr noch: um deren Spendenpotential anzuzapfen.
Doch warum interessieren sich Bürgerrechtler für Reliquien? Eine überzeugende Antwort lieferte Peter Menne, der den Abend moderierte. Der gloriose Pomp um die Reliquien sei die eine Seite der Medaille, untrennbar verbunden mit der Schattenseite kirchlichen Wirkens – die diese konsequent unter den Teppich kehren wolle.
Denn Reliquien gebe es zuhauf: neben mehreren Kubikmetern Holzbalken vom Kreuze Christi und kilo- oder tonnenweise Nägeln werden allerlei Kleidungsstücke Christi verehrt. Neben dem in Turin verwahrten „Grabtuch“ beispielsweise seine Sandalen (in der Abtei Prüm / Eifel) oder sein „heiliger Rock“, mit dem das Bistum Trier die Sandalen-Abtei übertrumpfte. Jede einzelne dieser Reliquien wird mit großem Pomp zur Schau gestellt, die Kirche organisiert Wallfahrten – ganz aktuell etwa zum “ heiligen Rock „ nach Trier. Der dortige Bischof Stephan Ackermann zelebriert mit Kindern und Jugendlichen allerlei bunten Hokuspokus. Zugleich ist Bischof Ackermann der Mißbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, predigt mit großen Worten eine „Null-Toleranz-Linie“ – und beschäftigt mindestens sieben pädophile Pfarrer: als “ Seelsorger „(spiegel.de, 18.3.2012).
Auf die großspurige Ankündigung einer „Null-Toleranz-Aufarbeitung“ folge bei der Kirche die als „unendliche Gnade Gottes“ gepriesene Verzeihung den eigenen Mitarbeitern gegenüber – wie etwa gegenüber Pius-Bruder und Holocaust-Leugner Bischof Williamson – den Papst Ratzinger heim ins Reich der kath. Kirche holte. St. Pölten ist schon vergessen – in dem Priesterseminar vergnügte sich der Seelsorge-Nachwuchs mit Kinderpornos, Lehrer pflegten sexuelle Kontakte zu ihren Seminaristen. Was Bischof Kurt Krenn als „Bubendummheiten“ herunterspielte: „die hatten Heimweh“. Dass der Benediktiner und Wiener Erzbischof Hans Hermann Groer sich mehrfach an abhängigen Jugendlichen und erwachsenen Ordensbrüdern verging, wurde 1985 bekannt – doch erst zehn Jahre später trat er von seinem Bischofsamt zurück.
Peter Menne wies auf den offensichtlichen Zusammenhang hin: mit öffentlich-pompöser Inszenierung von Reliquien oder sonstigem Klamauk lenke die Kirche von ihrem tatsächlichen Wirken ab.
Wobei eine Auflistung der Heiligtümer manchmal hilfreich wäre: denn die Gesamtheit der Balken original vom Kreuze Christi würde ausreichen, um alle Kardinäle dranzunageln – offensichtlich handelt es sich also bei den allermeisten um eine Fälschung. Andere Reliquien reizen mehr zum Lachen: war Jesus inkontinent? Die Frage stellte ein Besucher, als er vom Aachener Domschatz erfuhr: die Windel von Jesus wird dort verehrt (ob gewaschen oder mit „heiligem Inhalt“, konnte nicht geklärt werden).
Doch die gesamten Reliquien auf einen Schlag: wer hätte die Zeit, all‘ die Geschichten und Geschichtchen sorgfältig unter die Lupe zu nehmen? Amardeo Sarma konzentrierte sich auf die eine, herausragende Ikone: das Turiner „Grabtuch“. Der fromme Umgang damit darf durchaus pars pro toto genommen werden.
Was spricht für die Echtheit?
Sarma begann seinen Vortrag mit den Behauptungen der Echtheitsbefürworter: am Beginn von deren Ausführungen stehe regelmäßig, dass es das echte Grabtuch Christi sei – auch wenn ungeklärt bleibe, wie das Abbild auf das Tuch gekommen sei. Manche gingen da von natürlichen Verfahren aus, andere von einem übernatürlichen Wunder – bis hin zu einem „Neutronenblitz“. Begründet wird die Authentizität damit, dass:
1. die Geschichte seit der Zeit Jesu rekonstruiert sei,
2. Blut und Pollen nachgewiesen seien,
3. Details auf dem Tuch den Evangelien entsrprächen,
4 .das Tuch unmöglich hätte gemalt werden können.Insbesondere seit das Negativbild bekannt sei – sei klar, dass kein Mensch so etwas malen könne.
Der Reihe nach nahm der GWUP-Vorsitzende die Behauptungen auseinander, angefangen mit der ersten öffentlichen Präsentation 1357 im französischen Lirey. Schon wenig später schrieb der zuständige Bischof von Troyes, Pierre d’Arcis eine Beschwerde an Papst Clemens VII – in der er nicht an saftigen Worten sparte:
„Die Sache, Heiliger Vater, verhält sich so: Vor einiger Zeit hat in dieser Diözese von Troyes der Dekan einer gewissen Stiftskirche, und zwar der von Lirey, fälschlich und betrügerisch, von der Leidenschaft der Habsucht verzehrt und nicht aus einem Motiv der Frömmigkeit, sondern nur des Gewinns für seine Kirche wegen, ein mit Schlauheit gemaltes Tuch angeschafft, auf dem durch geschickte Kunst das zweifache Bild eines Mannes gemalt wurde, das heißt die Rück- und Vorderseite, wobei er fälschlich erklärt und vorgibt, dass dies das wirkliche Grabtuch sei, in welches unser Heiland Jesus Christus im Grab eingehüllt war …“
Aber Päpste gab es zu der Zeit mehrere – und die Kirche wußte den Wert solch verehrungswürdiger Objekte insgesamt zu schätzen…
Getrocknetes Blut – rot oder schwarz?
Wer sich schon mal in den Finger geschnitten hat, weiß: rot bleibt die Blutkruste nicht lange. Unter den ockerfarbenen Überbleibseln auf dem Tuch finden sich aber rote Reste: das Blut Christi!, rufen die Echtheitsbefürworter, die sich Gedanken um Jesus‘ Blutgruppe machen. 1973 wurden dem Tuch Fasern entnommen und 1976 die Testergebnisse der Kommission vorgestellt: alle Bluttests gingen negativ aus. Gefunden wurde stattdessen Zinnoberrot – eine typische Farbe des Mittelalters. Sarma belegte das anhand charakteristischer Spektralverteilungen.
Die Behauptung, es seien Pollen auf dem Tuch gefunden worden, die typischerweise aus Jerusalem stammten, wurde detailliert widerlegt.
In den 80er Jahren wurde die Radiokarbon-Methode verfeinert: immer kleinere Stücke waren notwendig, um ein Fundstück exakt zu datieren. Auch der Vatikan wollte es genau wissen: ursprünglich sollten sieben Labore unabhängig voneinander das „Grabtuch“ untersuchen. Kurzfristig reduzierte die Kirche die Zahl der Labore auf drei – und alle drei kamen 1988 zum Schluß, dass das Leinen zwischen 1260 und 1380 hergestellt wurde – passend zur ersten öffentlichen Ausstellung 1357.
Pareidolie – Gesichter in den Wolken und allerorten
Im Ende des 19. Jh. aufgenommenen Photo-Negativ erschien Jesus‘ Gesicht so klar, dass Echtheitsbefürworter insistierten, das könne unmöglich gemalt worden sein. Auch seien Blüten zu erkennen…
Sarma erläuterte kurz das Phänomen der Pareidolie: nicht nur in Wolkenformationen, sondern auch in Steinformationen und vielem mehr erkennen Menschen Gesichter. Das Phänomen ist der Wahrnehmungspsychologie seit langem bekannt: wenn jemand in den Flecken also Figuren erkennt, hat das mehr mit dem Betrachter als der objektiven Beschaffenheit des Tuchs zu tun.
Objektiver werden dagegen perspektivische Überlegungen: warum fällt das Haar nicht nach hinten? Wenn das Tuch wirklich auf einem Gesicht gelegen habe, warum ist es dann nicht verzerrt? Wenn man mit zweidimensionalem Tuch einen Abdruck von dreidimensionalem Gegenstand nimmt, erscheint der immer in die Breite gezogen
Die Reprints – moderne Künstler
Trotz Klärens von Farbe und dem Alter des Tuches behaupten gläubige Geister weiter steif und fest, ein Mensch könne sowas nicht gemalt haben, im Mittelalter schon gar nicht. Das widerlegte der italienische Chemiker Luigi Garaschelli 2009 eindrucksvoll: ausschließlich mit Farbpigmenten und Techniken, die schon im Mittelalter bekannt waren, fertigte Garaschelli ein Replikat, das er über Waschen und Erhitzen künstlich altern ließ. Das Ergebnis – wenig verblüffend: natürlich läßt sich so ein Tuch mit einfachsten Mitteln fertigen…Warum das „Grabtuch“ dennoch so anziehend wirke?, wollte Moderator Peter Menne wissen. Ein Besucher hatte Garaschellis Replikat in Turin gesehen und meinte, es sei – schon aufgrund der Größe – eindrucksvoll. Wahrscheinlich liege es an der aufwendigen Präsentation: dem Pomp, in den es eingebettet werde, dass viele Menschen sich faszinieren lassen. Womit man zum Ausgangspunkt zurückkehrte: ist der Hokuspokus nur großartig genug inszeniert, verblaßt – wie jetzt in Trier – die Erinnerung an die Kinderschänder im Bistum des Mißbrauchsbeauftragten Ackermann. Peter Menne wies auf alternative Wallfahrtsrouten hin: in Trier wird neben dem „heiligen Rock“ ab dem 14. April auch die “ heilige Unterhose “ ausgestellt: die Unterhose von Karl Marx, der jedenfalls in Trier gelebt hat – sein Geburtshaus steht in der Brückenstraße zu Trier. Am 14. April um 19:30 Uhr wird die Ausstellung „Reliquie: Fetisch in Kirche, Kunst & Konsum“ in der Tufa Trier eröffnet.