Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Ein wirklich ernstes philo­so­phi­sches Problem

Philosophische Reflexionen über den Suizid.

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S. 4-23

„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Mit diesem Satz beginnt Albert Camus Buch „Der Mythos des Sisyphos“, „Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später.“1
Camus hat Recht, dass es wichtig ist, philosophisch über den Suizid nachzudenken, wichtiger jedenfalls als über die Dimensionen der Welt oder die Kategorien des Geistes. Worin er allerdings Unrecht hat ist, dass der Suizid ein wirklich ernstes philosophisches Problem darstellt. Wie sich im Verlauf des folgenden Textes zeigen wird, wirft die Möglichkeit, sich selbst zu töten, eine ganze Reihe von philosophischen Problemen auf.
Da es sich bei diesem Beitrag ursprünglich um meine Antrittsvorlesung an der Universität Potsdam handelte, hat der Text allerdings weniger einen resümierenden als vielmehr einen programmatischen Charakter. Er beschäftigt sich mit Fragen und Schwierigkeiten, die eine philosophische Beschäftigung mit dem Suizid erforderlich machen, nicht so sehr mit den entsprechenden Antworten.2

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Philosophische Untersuchungen beginnen gewöhnlich bei Wörtern. Anders als Camus’ Übersetzer rede ich vom „Suizid“, nicht vom „Selbstmord“. Das Wort „Selbstmord“ ist, wie die Philosophen sagen, ein „thick concept“, ein dicker Begriff, der nicht nur eine beschreibende Seite hat, sondern auch eine wertende. So wie eine ‚Lüge’ nicht bloß eine unwahre Aussage ist, sondern eine, an der etwas auszusetzen ist, ist auch ein Mord und entsprechend ein Selbst-Mord, nicht nur irgendein Tötungsakt, sondern eben ein verwerflicher Tötungsakt. Da aber die Frage der Verwerflichkeit der Selbsttötung gerade eines der philosophisch umstrittenen Themen ist, sollte man sie nicht bereits durch die Wortwahl präjudizieren. Dasselbe gilt auch für das auf Nietzsche zurückgehende Wort „Freitod“, nur dass hier die wertende Konnotation positiv ist. Der Ausdruck „Suizid“,  der eine neuzeitliche Wortschöpfung aus dem lateinischen sui cedere, sich selbst töten, ist, vermeidet diese Wertung, er beschreibt nur den Akt, ohne über ihn zu urteilen.
Allerdings sollte man nicht jede Selbsttötung als Suizid bezeichnen. Jemand, der einen Giftpilz isst, ohne es zu wissen, und daran stirbt, oder der beim Basteln an der Steckdose einen tödlichen Stromschlag erleidet, begeht keinen Suizid. Auch jemand, der bewusst das Risiko eingeht, getötet zu werden, begeht noch keinen Suizid. Zum Suizid gehört vielmehr die Absicht, sich durch die Tat das Leben zu nehmen. Ein Suizid ist eine absichtliche Selbsttötung.
Dass jemand sich mit Absicht tötet, bedeutet allerdings nicht, dass der Tod selbst das Ziel der Handlung sein muss, dasjenige, worauf es dem Menschen ankommt. Man kann den eigenen Tod auch als Mittel zum Zweck beabsichtigen, beispielsweise um sich Schmerzen zu ersparen, um andere Menschen zu retten, um der Schande zu entgehen, um sich an Feinden zu rächen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln, usw. Entsprechend vielfältig sind auch die Suizide selbst: angefangen beispielsweise von dem Kollegen, Nachbarn, Verwandten, der sich plötzlich das Leben nimmt, über den durch einen Unfall oder eine Krankheit stark behinderten Menschen, der nicht mehr weiterleben will, den Sterbenskranken, der sich das Leid der letzten Sterbephase ersparen will, den Ehrbewussten, der sich tötet, um das Gesicht zu wahren, den Partisanen, der auf die Zyankali Kapsel beißt, bevor er gefangen genommen wird, den politischen Ankläger, der mit seinem Tod ein Fanal setzen möchte, den Amokläufer, der sich am Ende selbst richtet, den Kamikazeflieger oder Selbstmordattentäter, dem es darauf ankommt, andere mit in den Tod zu reißen, bis hin zum Märtyrer, der sein Leben hingibt für andere Menschen, seinen Glauben oder sonst eine gute Sache. Sie alle fallen unter die Definition des Suizids.
Es ist eine gute, interessante Frage, ob sie alle mehr gemeinsam haben als nur die Tatsache des Suizids. Ich werde mich im Folgenden allerdings hauptsächlich auf solche Suizide konzentrieren, an die wir bei dem Thema spontan denken und die die meisten von uns vermutlich aus ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis kennen, Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, weil sie nicht mehr weiterleben möchten.
Ein solcher Suizid ist in vielerlei Hinsicht ein Problem. Er ist ein Problem für andere Menschen, denn normalerweise gibt es Angehörige, die um den Toten trauern, die unglücklich sind, dass er nicht mehr da ist, die sich möglicherweise auch fragen, ob sie daran irgendetwas hätten ändern können, ob sie etwas falsch gemacht haben, die sich Vorwürfe machen. Manche Suizidenten befanden sich außerdem in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung; so dass sich die Therapeuten ebenfalls fragen können, ob sie versagt haben.
Auch auf gesellschaftlicher, staatlicher und zwischenstaatlicher Ebene werden Suizide als Problem angesehen, es gibt beispielsweise einen internationalen Tag der Suizidprävention, ein European Network for Suicidology. Mediziner, Psychologen und Sozialforscher beschäftigen sich intensiv mit dem Suizid, seiner Häufigkeit, den Risikofaktoren, Korrelationen mit psychischen und körperlichen Eigenschaften und natürlich auch mit den Möglichkeiten, die individuelle Suizidneigung zu senken. Rechtsmediziner und Statistiker suchen nach Wegen, Suizide trennscharf von Verbrechen oder Unfällen abzugrenzen, usw.3
Der Suizid ist also in vielerlei Hinsicht ein Problem –inwiefern ist er aber ein philosophisches Problem? Das ist die Frage, mit der ich mich in meinem Beitrag beschäftigen möchte. Dabei wird es sich zunächst zeigen, dass sich mindestens vier verschiedene philosophische Fragen zum Suizid stellen lassen, die man etwas plakativ auf die Form bringen kann:
1.Muss man Suizid begehen?
2.Darf man Suizid begehen?
3.Will man Suizid begehen?
4.Kann man Suizid begehen?
Im Hauptteil meines Textes werde ich diese vier, auf den ersten Blick ja teilweise ziemlich seltsamen Fragen nacheinander vorstellen und erläutern. Am Ende möchte ich dann versuchen, etwas über die Möglichkeiten und Richtungen zu sagen, wie man sie weiter untersuchen könnte.

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Philosophische Untersuchungen beginnen gewöhnlich nicht nur bei Wörtern, sondern auch mit einem Blick in die Vergangenheit, denn die meisten philosophischen Probleme haben schon eine längere Geschichte hinter sich, wenn wir uns ihnen widmen. Das gilt auch für die philosophische Beschäftigung mit dem Suizid.4
Historisch gesehen war der Suizid allerdings zunächst kein Problem, sondern eine Lösung. Er erlaubte es den Menschen, sich ehrenvoll aus ansonsten schmählichen Situationen zu retten. Schon der erste prominente Suizid in unserer griechisch-römischen Tradition war von dieser Art. Ajax, der hinter Achilles mächtigste Kämpfer der Griechen vor Troja hatte sich beim Wettstreit um die Waffen des getöteten Achilles lächerlich gemacht. Als er dies bemerkte, stürzte er sich in sein Schwert und rettete somit seine Ehre. Ajax’ Tod steht für eine Vielzahl weiterer Suizide in der griechischen und römischen Antike, die keineswegs als verächtlich, sondern häufig als vorbildhaft dargestellt wurden. Das weibliche Pendant zu Ajax war die Römerin Lucretia, die sich aus Scham über eine Vergewaltigung erdolcht hat. Ein weiteres herausragendes Beispiel, das ebenfalls immer wieder genannt wurde, war der mustergültige römische Senator Cato, der lange gegen Cäsar gekämpft hatte, schließlich unterlag und sich daraufhin mit dem Schwert tötete, übrigens erst nachdem er zuvor noch ein wenig in Platons Dialog Phaidon gelesen hatte.
Es gab also in der griechisch-römischen Antike ein hochstilisiertes Bild würdevoller, ehrenhafter Selbsttötungen, in denen der Suizid jeweils die angemessene, ja die einzig angemessene Reaktion auf bestimmte dramatische Lebenssituationen darstellte. Theoretisch fand dieses Bild in der Philosophie der Stoiker seinen Widerhall. Schon über die frühen, griechischen Gründerväter der Stoa gibt es eindrucksvolle Suizidgeschichten. Zenon soll einen gebrochenen Finger zum Anlass genommen haben, sich gleich ganz umzubringen, und Kleanthes hat angeblich eine zunächst krankheitsbedingte Fastenkur einfach bis zum Hungertod fortgeführt. Den größten Einfluss auf die Geschichte des Suizids hatten aber die späteren, römischen Stoiker, allen voran Lucius Annaeus Seneca.
Tod und Suizid sind häufige Themen in Senecas Schriften. In einem Lehrbrief an einen Freund schreibt er beispielsweise: „Schneller zu sterben oder langsamer ist belanglos, anständig zu sterben oder schäbig ist wesentlich“ (Ad Lucilium, ep. 70.6).5 Es kam den Stoikern nicht darauf an, dass man lebt, sondern wie man lebt. Und es gab aus ihrer Sicht Umstände, unter denen einen nur der selbst gewählte Tod vor einem schäbigen Leben bewahren konnte. Deshalb schreibt Seneca etwas später im selben Text:
„Finden wirst du auch Lehrer der Philosophie, die bestreiten, man dürfe Gewalt antun dem eigenen Leben, und es für Gotteslästerung erklären, selbst sein eigener Mörder zu werden […] Wer das sagt, sieht nicht, dass er den Weg zur Freiheit verschließt. Nichts besseres hat uns das ewige Gesetz geleistet, als dass es uns einen einzigen Eingang in das Leben gegeben, Ausgänge viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseite zu stoßen? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es.“ (ebenda 70.14-15).
Seneca selbst hat bekanntlich am Ende seines Lebens diesen Weg ins Freie gewählt, wenn auch nicht ganz freiwillig, sondern auf Befehl Neros, der ihn einer Verschwörung verdächtigte und deshalb aufforderte, sich das Leben zu nehmen. Und es gelang ihm auch nicht ganz so schnell und leicht, wie er es in seinen Schriften wiederholt propagiert hatte. Erst nachdem er sich vergeblich die Pulsadern geöffnet und Gift geschluckt hatte, erstickte er sich schließlich selbst im Dampfbad.
Die stoische These, dass der Suizid ein wesentliches Element menschlicher Freiheit bildet, weil er es uns im Prinzip jederzeit erlaubt, aus einem unerfreulichen oder erniedrigenden Dasein auszusteigen, zieht sich durch das weitere philosophische Nachdenken über den Suizid bis heute. Michel de Montaigne hat beispielsweise Ende des 16. Jahrhunderts Senecas Gedanken fast wörtlich aufgenommen, als er in einem seiner Essais schrieb:
„[…] man sagt, […] das gnädigste Geschenk der Natur, das uns jeden Grund zur Klage über unser Los nehme, bestehe darin, dass sie uns den Schlüssel zum Weg ins Freie überlassen habe. Sie hat nur einen Eingang ins Leben vorgesehen, aber hunderttausend Ausgänge.“ (Montaigne, Essais 2,3).6
Friedrich Nietzsche drückte es dreihundert Jahre später so aus:
„Und jeder der Ruhm haben will, muss sich bei Zeiten von der Ehre verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu – gehen.“ (Also sprach Zarathustra, „Vom freien Tode“)7
Aus dieser Perspektive ist der Suizid also ein Thema der Anthropologie, die die menschlichen Wesensmerkmale, Eigenheiten, Fertigkeiten beschreibt und in Zusammenhang mit den Möglichkeiten eines guten, gelingenden Lebens bringt. So, wie man sich Gedanken darüber machen kann, welche Bedeutung es für das menschliche Dasein hat zu denken, zu fühlen, zu lieben, so kann man auch nach der Bedeutung der prinzipiellen Möglichkeit fragen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Und die Antwort in der stoischen Tradition lautet: Diese Möglichkeit erlaubt es dem Menschen, in praktisch jedem Fall an der Würde seines Lebens festzuhalten. Der Suizid ist sozusagen der Joker, der uns rettet, wenn unser Leben allzu elend zu werden droht.
Damit stellt sich unmittelbar die nächste Frage, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Joker zu spielen. Wann ist es besser zu sterben anstatt weiterzuleben? Das ist eine Frage, die sich bis heute vor allem durch die Sterbehilfe-Debatte zieht. Wenn davon die Rede ist, dass ein todkranker Patient in Würde sterben sollte, dann verbinden damit sowohl die Verfechter aktiver Sterbehilfe, als auch die Befürworter von Hospiz und Sterbebegleitung Vorstellungen vom würdigen im Unterschied zum schmählichen Dasein – nur dass die einen meinen, man solle den Patienten gerade deshalb töten, weil das die einzige Chance für ein würdiges Ende sei, während die anderen darauf bestehen, dass es auch für sterbende Patienten noch ein würdiges Leben gibt, so dass der Tod als Ausweg nicht nötig sei.
Philosophiegeschichtlich führte die Frage, wann der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um die eigene Ehre durch den Suizid zu bewahren, aber erst einmal in eine ganz andere Richtung. Sie verband sich mit dem verbreiteten philosophischen Pessimismus gegenüber dem menschlichen Dasein. Kombiniert man nämlich die pessimistische Vermutung, dass das Leben vielleicht als ganzes sinnlos und deshalb auch nicht lebenswert sei, mit der stoischen Empfehlung, ein nicht lebenswertes Leben ohne zu zögern hinter sich zu lassen, dann ist man beim so genannten logischen Selbstmord, dem Suizid als einzig logischer Konsequenz aus der Einsicht in die Absurdität der Welt. Wenn all unser Streben und Trachten nur lächerlich ist angesichts der unbarmherzig sinnlosen Welt, dann scheint es nur einen ehrenhaften Ausweg zu geben: diese Welt sozusagen erhobenen Hauptes zu verlassen.
Dies wiederum ist der Hintergrund für die erste der vier philosophischen Fragen zum Suizid, der Frage, ob man nicht im Grunde Suizid begehen muss  – und zwar, wie schon bei den Stoikern, als ein Mittel, die eigene Ehre, den menschlichen Stolz, wie Camus es nennt, zu bewahren.
Dostojewski hat die Figur des logischen Selbstmörders mehrfach geschildert, in der Person des Kirillow im Roman „Die Dämonen“ und auch in einer Zeitungskolumne mit dem bezeichnenden Titel „Ein Todesurteil“. Dabei gelangt er zu dem Schluss:
„Das Ergebnis ist klar: dass der Selbstmord nach dem Verlust der Unsterblichkeitsidee zur unvermeidlichen, bedingungslosen Notwendigkeit für jeden Menschen wird, der in seiner Entwicklung auch nur ein wenig über dem Tier steht.“ (Dostojewski, „Tagebuch eines Schriftstellers“, München, Zürich2 2001, S. 269)
Für Dostojewski war also klar: Ein denkender Mensch hat nur die Wahl, entweder an die unsterbliche Seele zu glauben (wie Dostojewski selbst) und damit an einen Sinn seines Daseins, oder eben: Suizid zu begehen.
Dieser logische Suizid ist es auch, den Camus meinte, als er den Selbstmord als das einzig wirkliche ernste philosophische Problem bezeichnete. Es ist, wie er sagt, das Problem, ob es eine Logik gebe „bis zum Tode“ (S. 18). Camus eigene Antwort war allerdings negativ, weil er den Schluss von der Sinnlosigkeit der Welt auf die Notwendigkeit des Suizids für nicht stichhaltig hielt. In einer absurden Welt, so Camus, ist auch dieser Ausweg versperrt, denn wenn gar nichts einen Sinn hat, dann hat auch der Suizid keinen Sinn. Deshalb gehe es nicht darum, sich umzubringen, sondern vielmehr darum weiterzuleben und schließlich „unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu sterben“ (74). Die Auflehnung, die Revolte, ist die einzig ehrenvolle Weise, sich der Welt zu stellen. Camus beschreibt diese Haltung voller Pathos: „Für einen Menschen ohne Scheuklappen gibt es kein schöneres Schauspiel als die Intelligenz im Widerstreit mit einer ihn überschreitenden Wirklichkeit. Das Schauspiel des menschlichen Stolzes ist unvergleichlich“ (74).
Es gibt daneben allerdings auch eine Alternative, die Camus nicht berücksichtigt hat: die Alternative, im Suizid keine logische Konsequenz, sondern stattdessen ebenfalls einen Akt des Stolzes und der Auflehnung zu sehen. Diese Konzeption vertritt ein Denker, der anders als Camus nicht nur von außen, sondern sozusagen am eigenen Leib mit der Frage konfrontiert war, ob er Suizid begehen sollte – und der dann letztlich diesen Weg auch gegangen ist, Jean Amery. In seinem Buch „Hand an sich legen“ unterscheidet Amery zwischen der Logik des Lebens – was einfach die praktische Vernunft ist – und der Logik des Todes, der sich der Suizident am Ende hingibt. Eine andere Unterscheidung Amerys, die dasselbe trifft, ist die zwischen der Freiheit zu etwas und der Freiheit von etwas.
Unsere Vernunft baut normalerweise auf unsere Freiheit zu bestimmten Fortsetzungen unseres Lebenswegs. Wir wägen ab, welche unter den gebotenen Optionen den für uns richtigen Weg bietet. Dem stellt Amery die Freiheit gegenüber, einfach nur von bestimmten zukünftigen Lebenswegen verschont zu werden, sie nicht gehen zu müssen, ungeachtet was stattdessen geschieht. Und nur auf diese Freiheit, so Amery, baut der Suizident.
„So ist […] der Freitod, der Freiheit von etwas verspricht, ohne aber, wie es die Logik gebietet, auch Freiheit zu etwas, mehr als nur Affirmation von Dignität und Humanität, gerichtet gegen das blinde Walten der Natur. Er ist Liberalität, als deren äußerste und letzte Gestalt.“ (Jean Amery, Hand an sich legen, Stuttgart 1991, S. 132)
Camus und Amery betrachten also beide die Sinnen Leerheit der Welt des Suizidenten als eine Herausforderung für dessen Würde und Stolz, sie sehen auch beide im Suizid einen möglichen, denkbaren Versuch, mit dieser Situation ehrenhaft umzugehen, zudem gelangen sie beide zu dem Schluss, dass der Suizid jedenfalls keine vernünftige Reaktion auf diese Sinnlosigkeit ist, nur plädiert Camus deshalb für eine alternative Reaktion, die Revolte, während Amery die Würde des Menschen schon dadurch gewahrt sieht, dass er sich seine Freiheit von diesem unwürdigen Leben nimmt.
Es gibt allerdings noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Camus und Amery, die ich bislang ganz ausgespart habe, obwohl sie ebenfalls auf eine lange philosophische Tradition zurückweist: Beide halten es für selbstverständlich, dass es keine moralische Frage ist, ob man sich töten sollte oder nicht. Damit bin ich bei der zweiten Frage angelangt aus der Liste, die ich Ihnen zu Anfang gegeben habe, der Frage, ob man über- haupt Suizid begehen darf, ob es nicht falsch, verboten, unmoralisch, verwerflich ist, sich selbst das Leben zu nehmen.

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Die Frage, ob ein Mensch eigentlich Suizid begehen dürfe, hat, wie gesagt, schon eine lange Tradition. Sie klang bereits am Beginn der oben zitierten Seneca-Passage an:
 „Finden wirst du auch Lehrer der Philosophie, die bestreiten, man dürfe Gewalt antun dem eigenen Leben, und es für Gotteslästerung erklären, selbst sein eigener Mörder zu werden.“
Die Philosophen, auf die Seneca dabei anspielte, waren vor allem Platon und Aristoteles. In Platons Dialog Phaidon, der die letzten Stunden des Sokrates beschreibt, stellt dieser die Behauptung auf, dass es für jeden Philosophen erstrebenswert sei zu sterben. Das setzt ihn wiederum dem nahe liegenden Einwand aus, dass es ja dann am besten für einen Philosophen sein müsse, sich auf der Stelle selbst zu töten. Hier nun kommt der Verweis auf die Götter. Sokrates behauptet, sie hätten den Menschen mit einer Aufgabe betraut, von der er aus eigenem Entschluss nicht desertieren dürfte. Also dürfe niemand Suizid begehen.
Es ist bis heute unklar, wie ernst dieses Argument gemeint war, durch die große philosophiehistorische Rolle des Phaidon gewann es jedenfalls erhebliches Gewicht für die weitere moralphilosophische Diskussion. Die wichtigsten religiösen Argumente gegen den Suizid stammen aber nicht von Platon, sondern erst aus der christlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich die Bibel nirgends abfällig oder verurteilend über den Suizid auslässt. Es kommen zwar eine Hand voll Suizide vor, aber sie werden nicht als frevelhaft oder sündig beschrieben. Selbst der Suizid des Judas, der sich aufhängte, als er von der Verurteilung Jesu erfuhr, wird eher als logische Konsequenz seines Verrats beschrieben, denn als zusätzliches Verbrechen (Matthäus 27.5). Außerdem war der Gedanke, dass jemand sein Leben bewusst, absichtlich, hingeben könne, den Christen ohnehin nicht unvertraut. Schließlich hatte Jesus sein Leben für die Menschheit geopfert und viele Märtyrer der Urkirche waren ihm darin gefolgt.
Christliche Erörterungen stützen sich deshalb gewöhnlich auf die Ausführungen des Kirchenvaters Augustinus, der sich gleich im ersten Buch seines Hauptwerkes „Vom Gottesstaat“ ausgiebig mit der Frage beschäftigt hat, ob es für Christen unter bestimmten Umständen erlaubt sei, sich selbst das Leben zu nehmen – zum Beispiel um einer drohenden Gefangennahme oder Vergewaltigung zu entgehen.8 Augustinus verneint diese Frage entschieden, und zwar mit dem Argument, dass auch die Selbsttötung unter das Tötungsverbot des Dekalogs falle. Bei einem Suizid werde schließlich ein Mensch getötet, so Augustinus, während es in den Zehn Geboten unumwunden heiße: Du sollst nicht töten.
Augustinus dreht also die stoische Argumentation genau um: Statt der Joker zu sein, der den Menschen in jeder noch so aussichtslosen Lage übrig bleibt, ist der Suizid etwas, was man unter allen Umständen vermeiden müsse. Er ist sogar, als Verstoß gegen das Tötungsverbot, nicht bloß irgendeine Sünde, sondern eine Todsünde. Und mehr noch, weil dem Täter beim Suizid anders als bei anderen Todsünden, z.B. einem gewöhnlichen Mord, keine Chance mehr bleibt, die Sünde zu bereuen, nimmt der Sünder sie unweigerlich mit in den Tod und sichert sich damit die ewige Verdammnis des so genannten zweiten Todes in der Hölle.
Mit seiner drastischen Verurteilung hat Augustinus die weitere Haltung der Kirche zum Suizid geprägt. Sie zieht sich unverrückbar durch das Mittelalter und wurde im 13. Jahrhundert durch die großen scholastischen Theologen, allen voran durch Thomas von Aquin, ausdrücklich bestätigt. Entsprechend hart waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die gesellschaftlichen Sanktionen. Misslungene Suizidversuche wurden paradoxerweise nicht selten mit dem Tod bestraft; und auch wenn der Suizid gelang, dann wurde häufig noch der Leichnam misshandelt. Der Tote wurde nicht auf dem Friedhof, in geweihter Erde, bestattet, sondern an besonders schmählichen Stellen, etwa auf dem Schafott oder an Weggabelungen. Zudem bedeutete der Suizid stets einen katastrophalen Ehrverlust, gewöhnlich nicht nur für den Toten, sondern auch für die Hinterbliebenen, deren soziale und ökonomische Stellung durch den Suizid massiv beschädigt werden konnte.9
Auch die Reformation änderte nichts an der kirchlichen und sozialen Ächtung des Suizids. Luther und Calvin teilten durchaus Augustinus’ Ansicht, dass der Suizid ein Verstoß gegen das Tötungsverbot sei. Parallel wurden aber, wie schon erwähnt, in der Renaissance wieder die alten stoischen Vorstellungen rezipiert, die den Suizid in einem ganz anderen, positiven Licht erscheinen ließen. Diese Gedanken führten dann schließlich in der Zeit der Aufklärung, im 18. Jahrhundert, zu einer kritischen Revision der theologischen Argumente und zu einer neuen philosophischen Debatte darüber, ob man sich nicht vielleicht doch selbst umbringen dürfe. Das herausragende Werk dieser Epoche war die Schrift „Of Suicide“ des englischen Philosophen David Hume, die er vermutlich aus Rücksicht auf die Kirche zu Lebzeiten nicht veröffentlichen konnte, so dass sie erst postum 1777 erschien und prompt heftige Debatten auslöste. Das Ziel seiner Schrift beschreibt Hume folgendermaßen:
„Wir wollen hier versuchen, den Menschen in seine natürliche Freiheit wieder einzusetzen, indem wir alle Argumente gegen den Selbstmord prüfen und zeigen, dass diese Handlung ohne irgendwelche Schuld oder Tadel begangen werden mag […]“ (Hume, „Über den Selbstmord“, in: R. Willemsen (Hg.), Der Selbstmord, Köln 2002, S. 90)
Das Schwergewicht seiner Argumentation legt Hume dabei auf die religiösen Argumente sowohl von Augustinus als auch von Thomas von Aquin. Hume glaubt weder, dass sich das biblische Tötungsverbot auf die Selbsttötung übertragen lässt, noch dass Menschen die Aufgabe übertragen bekommen hätten, unter allen Umständen auf der Erde auszuharren. Er sieht es vielmehr als den menschlichen Auftrag an, sich selbst um die eigenen Geschicke zu kümmern, was eben manchmal dazu führen könne, dass dieser Mensch seinem Leben ein Ende setzt. Für Hume ist der Suizid wieder das, was er für Seneca war, ein tröstender Notausgang, wenn das Leben nicht länger lebenswert erscheint. Moralische Verurteilungen seien hier fehl am Platz.
Auch wenn Humes Schrift in kirchlichen Kreisen auf erbitterten Widerstand stieß, passte sie, wie gesagt, gut zu einem im 18. Jahrhundert einsetzenden breiten gesellschaftlichen Wandels in der Einstellung zum Suizid. Bereits Mitte dieses Jahrhunderts verfügte Friedrich der Große in Preußen das Ende aller rechtlichen Benachteiligungen für Suizidenten. In einem hartnäckigen Kampf wurde ihnen außerdem zumindest das Recht auf ein stilles Begräbnis auf dem Friedhof ertrotzt. Auch in anderen Teilen Deutschlands wurden die gesetzlichen Sanktionen gegen den Suizid nach und nach aufgehoben, so dass er spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts überall in Deutschland straffrei war. In anderen europäischen Ländern trat diese Entwicklung allerdings erst später ein, in England wurde das einschlägige Gesetz sogar erst 1961 aufgehoben.
Diese Straffreiheit für den Suizid gilt bekanntlich bis heute. Dabei liegt die Pointe natürlich nicht so sehr darin, dass man den Suizidenten sonst für seine Tat hätte bestrafen können, das konnte man aus nahe liegenden Gründen auch früher nicht. Die Straffreiheit hat vor allem die Konsequenz, dass auch der Suizidversuch und die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar sind – denn schließlich kann man niemanden dafür bestrafen, etwas zu versuchen oder bei etwas zu helfen, was selbst nicht sträflich ist.
Hume hat sich, wie gesagt, hauptsächlich mit den religiösen Argumenten gegen den Suizid auseinandersetzt. Das liegt vermutlich daran, dass er die nicht-religiösen Bedenken von vorn herein für wenig einleuchtend hielt. Und tatsächlich ist es irgendwie seltsam, einen Suizidenten moralisch verurteilen zu wollen. Man fühlt sich an die mittelalterliche Praxis erinnert, die Missbilligung der Tat an der Leiche auszuleben. Warum soll man also nicht einfach dem Strafrecht folgen und sich moralphilosophisch ganz aus dem Thema heraushalten?!
Der Grund liegt darin, dass die Moral nicht nur der nachträglichen Beurteilung einer Tat dient, sondern auch als Orientierungshilfe für die Planung. Viele wichtige Handlungsentscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auch eine moralische Seite haben, die der Handelnde in seine Abwägung einbeziehen sollte. Das gilt natürlich auch für den Suizid.
So haben die meisten Menschen soziale Beziehungen, die durch ihren Tod beeinträchtigt werden. Wer Suizid begeht, fügt seinen Angehörigen und Freunden Leid zu und lässt sie allein. Versprechen können nicht mehr eingehalten, Aufgaben nicht zu Ende geführt werden. Das alles sind Gesichtspunkte, die bei normalen Handlungsentscheidungen ein großes moralisches Gewicht haben, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht auch einen potentiellen Suizidenten binden sollten. Die Freiheit, über das eigene Leben zu entscheiden, berechtigt noch nicht zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Anderen.
Diese Überlegung zeigt allerdings nur, dass es manchmal, unter Umständen unmoralisch sein könnte, sich das Leben zu nehmen, dann nämlich, wenn die sozialen Kosten dieses Schritts zu hoch sind. Wie Hume betont hat, gibt es allerdings auch viele Menschen, die sich in einer Situation befinden, in der ihr Tod keinen großen sozialen Schaden anrichtet, ja die vielleicht sogar für andere Menschen eher eine Last sind, so dass die Anderen von ihrem Ableben profitieren würden. In Bezug auf diese Menschen greift das soziale Argument nicht, sie scheinen frei darin zu sein, sich selbst zu töten.
Doch gerade die Feststellung, dass manche Suizidkandidaten für ihre soziale Umwelt eher eine Last als Stütze sind, führt schon zu einem weiteren Einwand gegen Hume: Wenn wir nämlich grundsätzlich frei darin sind, unserem Leben ein Ende zu setzen, dann kann es im Einzelfall nicht nur zwingende soziale Gründe gegen einen Suizid geben, sondern auch für einen Suizid. Das ist ein Aspekt der moralischen Bewertung des Suizids, der häufig übersehen wird und sich der geläufigen Dichotomie in konservative Lebensbewahrer und progressive Freitod-Freunde entzieht. Hat man erst einmal die Freiheit, etwas zu tun, dann ist man häufig auch dafür verantwortlich, dass man es nicht tut. In Abwandlung der berühmten Formulierung aus Artikel 14 des Grundgesetzes kann man es auch so ausdrücken: Freiheit verpflichtet. Das ist allgemein so: Wer beispielsweise einen freien Tag bei der Arbeit hat, könnte gerade deshalb verpflichtet sein, einem Freund beim Umzug zu helfen. Entsprechend könnte auch aus der Freiheit zum selbst bestimmten Tod folgen, dass man unter Umständen verpflichtet wäre, sich das Leben zu nehmen.
Das ist zunächst keine erstaunliche Feststellung. Soldaten, Revolutionäre, Missionare – die Geschichtsbücher sind voll von Menschen, die verpflichtet wurden oder sich verpflichtet fühlten, ihr Leben für andere Menschen hinzugeben. Aber es zeigt, welchen Preis man zahlt, wenn man ein Recht auf den selbstbestimmten Tod annimmt. In Situationen, in denen ein Mensch stark auf die Hilfe von Angehörigen oder der Gesellschaft insgesamt angewiesen ist, könnte aus dem Suizid als einer moralisch nicht zu beanstandenden Handlungsoption schnell eine Liebes- oder Bürgerpflicht werden, analog der Sitte bei manchen nomadischen Völkern, die Alten, die nicht mehr gebraucht werden, irgendwann zurückzulassen. Ein Recht auf etwas ohne zumindest die Möglichkeit, dass man dazu verpflichtet sein könnte, es zu nutzen, gibt es eben nicht. Also stellt sich die Frage, ob wir wirklich bereit sind, mit dem Recht auf den selbstbestimmten Tod auch eine entsprechende Pflicht zu akzeptieren.
Das ist in meinen Augen ein schwerwiegender Einwand gegen die These, dass der Suizid per se moralisch unbedenklich sei, dass wir vielmehr alle ein Recht darauf haben, unserem Leben ein Ende zu setzen, wenn wir es für richtig halten. Gleichwohl bin ich überzeugt, dass Hume letztlich Recht hatte. Man kann zwar manchen Suizidenten vorwerfen, dass sie mit ihrer Tat anderen Menschen Leid zugefügt haben, ein genereller moralischer Einwand gegen den Suizid ergibt sich daraus aber nicht.
Die traditionelle Ergänzung zu dem sozialen Argument war der Vorwurf, der Suizident würde sich selbst moralisch Unrecht tun. Nicht anderen tut er etwas dadurch an, sondern der eigenen Person. Dieses Argument basiert allerdings auf der Prämisse, dass man sich selbst gegenüber überhaupt moralisches Unrecht begehen kann, und ich teile Humes Skepsis, ob dies wirklich möglich ist. Ich bin eher der Überzeugung, dass man sich sich selbst gegenüber weder moralisch noch unmoralisch verhalten kann, also auch nicht dadurch, dass man sich tötet. Trotzdem glaube ich, dass der Vorwurf berechtigt ist, dass aus Sicht des Suizidenten etwas gegen den Suizid spricht, nur dass es kein moralisches Unrecht ist, dass er sich antut, wenn er sich das Leben nimmt. Das Unrecht, dass er sich antut, besteht vielmehr darin, dass er sich irgendwie selbst übertölpelt, und dies ist kein moralischer Vorwurf, sondern einer, der an die Klugheit oder Vernunft des Akteurs appelliert. Es ist der Übergang von meiner zweiten Frage (Darf man Suizid begehen?) zur dritten Frage: Will man eigentlich Suizid begehen? – oder besser: Kann ein Mensch den Suizid wirklich wollen?

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Dass man den Suizid nicht wirklich wollen kann, behauptet zumindest Ludwig Wittgenstein in einem Brief, den er 1920 an seinen Freund Paul Engelmann geschrieben hat. Wie Amery war Wittgenstein nicht nur theoretisch am Suizid interessiert. Ganz im Gegenteil, zwei seiner Brüder hatten sich das Leben genommen, als Wittgenstein noch ein Teenager war, ein dritter Bruder dann 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, und auch Wittgenstein selbst hat immer wieder mit diesem Gedanken gespielt, so auch in der Zeit als er diesen Brief schrieb:
„Ich weiß, daß der Selbstmord immer eine Schweinerei ist. Denn seine eigene Vernichtung kann man gar nicht wollen und jeder, der sich einmal den Vorgang beim Selbstmord vorgestellt hat, weiß, daß der Selbstmord immer eine Überrumpelung seiner selbst ist. Nichts aber ist ärger als sich selbst überrumpeln zu müssen.“ (Wittgenstein, Briefe, Frankfurt/M. 1980, S. 113)
Genau genommen sind es zwei Thesen, die sich bei Wittgenstein finden: Erstens dass man den Suizid gar nicht wollen könne, und zweitens, dass er immer eine Überrumpelung darstellt. Ich werde mich zunächst der ersten zuwenden und später dann fragen, inwieweit die zweite noch weiter geht als die erste.
Kann man sich vernünftigerweise das Leben nehmen wollen? Ein besonders prominenter Philosoph, der dies ausdrücklich bestritten hat, war Kant. Er hat in seinen Schriften mehrfach darauf hingewiesen hat, dass ein Suizid dem Grundgesetz der praktischen Vernunft, dem kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Formen, widersprechen würde. Jeder Mensch sei nun einmal daran gebunden, sich selbst als Vernunftwesen zu achten, und das heißt: immer auch Zweck der eigenen Handlungen zu sein. Man kann aber nicht gleichzeitig etwas bezwecken und gezielt vernichten. Also behandelt sich der Suizident nicht als Zweck seiner Handlung der Selbsttötung. Er zielt vielmehr immer auf etwas anderes ab, beispielsweise auf eine Verminderung von Schmerzen, wofür er seine Existenz als Vernunftwesen als Mittel einsetze. Das aber, so Kant, ist als Abweichung vom Vernunftgesetz notwendigerweise unvernünftig. Da für Kant die Grundgesetze der Vernunft zugleich die der Moral sind, kommt er in der Metaphysik der Sitten zu dem unverblümten Urteil:
„Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).“ (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 6)
Das Problem von Kants Gedankengang liegt allerdings in der Prämisse, dass es ein unumgängliches Anliegen der menschlichen Vernunft sein müsse, sich zu erhalten. Der kategorische Imperativ, dass man die Menschheit in der eigenen Person sowie in jeder anderen Person immer auch als Zweck behandeln müsse, besagt ja gerade nicht das, wozu er in der breiten Öffentlichkeit gerne gemacht wird: dass man Menschen nicht instrumentalisieren dürfe, sondern ist eine Art Vernunfterhaltungsgebot, und es ist zumindest umstritten, ob sich dies wirklich a priori herleiten lässt. Folglich ist es auch fraglich, ob ein Suizid wirklich unvernünftig wäre, nur weil er dem kategorischen Imperativ widerstreitet.
Doch es gibt noch einen anderen, einfacheren und besseren Weg, die Vernünftigkeit des Suizids in Frage zu stellen. Man kann auf Amery Unterscheidung zwischen der Logik des Lebens und der Logik des Todes zurückgreifen, bzw. der Freiheit zu und der Freiheit von etwas. Amery war ja nicht bloß wie Camus der Meinung, dass die Absurdität der Welt den logischen Suizid unmöglich machen würde. Für Amery lässt die Logik des Lebens generell nicht den Schluss zu, dass es besser sei, tot zu sein, anstatt zu leben. Der Suizident muss deshalb erst mit einem Bein in der Logik des Todes stehen, bevor er sich vom Leben befreien kann, ohne sich darum zu kümmern, was er sich stattdessen einhandelt. Die Logik des Lebens, und das heißt einfach: unsere praktische Vernunft, möchte gerne wissen, worauf sie sich einlässt, sie möchte den besseren von zwei Wegen gehen. Doch das Problem ist, dass der Suizid in gewisser Hinsicht kein Weg ist.
Natürlich ist der Suizid ein Weg in dem Sinn, dass die Welt auch nach ihm weiterläuft – manchmal sogar erschreckend unbeeindruckt. Aber sie läuft nicht mehr für den Suizidenten weiter, und das ist das grundsätzlich Irritierende am Suizid. Das „Was soll ich tun?“ hat kein Pendant mehr im „Was soll mit mir werden?“. Nun ist es ja nicht immer so, dass sich unsere Handlungserwägungen ausschließlich um uns drehen. Großeltern legen Sparverträge für die Ausbildung ihre Enkelkinder an, ohne zu wissen, ob sie sie erleben werden. Strommanager errichten atomare Endlager für die nächsten Jahrmillionen. Manche Pläne beziehen uns eben mit ein, andere nicht.
Aber – und das ist das Entscheidende – wir müssen uns normalerweise nicht entscheiden zwischen einem Plan, der für uns eine Zukunft vorsieht, und einem anderen, der dies nicht tut. Denn dann müssten wir vergleichen, was besser ist, die Welt, in der es uns noch gibt, oder die andere, in der es uns nicht gibt. Und dazu scheint man bewerten zu müssen, was man doch nicht bewerten kann: den Unterschied zwischen Dasein und nicht da sein. Das Knifflige an der dritten Frage, ob man den Suizid überhaupt wollen könne, liegt in der irritierenden Inkommensurabilität dieser beiden Alternativen: einer Welt mit mir als Betrachter, also inklusive meiner Sicht – und einer sozusagen leeren Welt, ohne meine Perspektive.
Vielleicht aber muss man sich ohnehin keine Gedanken über diese beiden Alternativen machen. Schließlich könnte es sein, dass Wittgenstein nicht nur Recht hat, dass wir den Suizid nicht wollen können, sondern auch darin, dass er stets eine Überrumpelung ist. Denn das ist der fundamentale Unterschied zwischen Wittgenstein und beispielsweise Amery. Der Suizid ist aus Wittgensteins Sicht kein ehrenvoller, die menschliche Freiheit bewährender Akt, keine Konsequenz einer speziellen Logik des Todes, sondern als Überrumpelung immer etwas Passives, ein Kontrollverlust, und gerade deshalb eine Schweinerei, sprich: ein Verlust von Menschlichkeit und Würde.
Die Auffassung, dass ein Suizid zumindest in der Gegenwart, in unserer Gesellschaft, kein wohlbedachter Entschluss, nichts Gewolltes, sein könne, sondern etwas, das mit einem Menschen geschieht, teilt Wittgenstein mit vielen Nichtphilosophen, die sich heutzutage mit dem Suizid beschäftigen.
Damit bin ich bei einer dritten Art angelangt, sich an ein philosophisches Thema heranzumachen, neben dem Blick auf die Wörter und in die Vergangenheit, den Blick in angrenzende, vor allem empirische Wissenschaften. Wie es sich zeigen wird, entsteht dadurch abermals ein neues, ziemlich anderes Bild des Suizids als das des stoischen Ehrenmanns oder des christlichen Todsünders.

*
Auch die empirische Untersuchung des Suizids hat eine Geschichte. Sie beginnt mit dem medizinischen Interesse an den häufig schwer verständlichen Gemütszuständen, die zum Suizid führen. Schließlich war es auch früher nicht so, dass sich die meisten Menschen nach einer verloren Schlacht oder der Lektüre Platons ins Schwert stürzten. Viele nahmen sich vielmehr aus Schwermut das Leben, aus Melancholie, wie dies im siebzehnten Jahrhundert genannt wurde. Deshalb sahen sich die staatlichen und kirchlichen Stellen auch gezwungen, nicht alle Suizidenten gleich zu behandeln, sondern nur solche zu verdammen, die aus freiem Willen und nicht in geistiger Verwirrung gehandelt hatten. Da diese Sanktionen, wie gesagt, sehr einschneidend waren, kam der retrospektiven Beurteilung des Geisteszustands der Suizidenten also eine wichtige Rolle zu. Außerdem waren gerade die aufgeklärten Fürsten des 18. und 19. Jahrhunderts sehr stark an der Volksgesundheit interessiert und kümmerten sich auch deshalb darum, einen Überblick über die Todesursachen ihrer Untertanen zu erhalten. Dabei traten neben die medizinische Thematisierung der psychischen Erkrankungen, die zum Suizid führen könnten, auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen der Beziehungen zwischen Suiziden und den Lebensumständen der Suizidenten, allen voran Emil Durkheims Studie „Der Selbstmord“ von 1897. Schließlich waren es nicht nur Schwermut und Wahnsinn, die die Menschen in den Tod trieben, sondern auch Armut, Hunger und Ausbeutung.
Heute ist es selbstverständlich, diese Zusammenhänge empirisch zu erforschen. Deshalb möchte ich jetzt einfach ein paar wesentliche Ergebnisse dieser aktuellen Untersuchungen nennen.10
Der Suizid ist keine seltene Todesart. Im Jahre 2004, dem letzten Jahr, für das schon eine amtliche Statistik vorliegt, sind in Deutschland knapp 820.000 Menschen gestorben. In nahezu der Hälfte der Fälle war dafür eine Erkrankung des Kreislaufsystems verantwortlich, aber immerhin fast 11000 Menschen haben sich der Statistik zufolge selbst getötet. Dies sind 1,3 % aller Todesfälle insgesamt. Es sind also fast doppelt so viele Menschen von eigener Hand gestorben wie es Verkehrstote gegeben hat.

Abbildung 1 Entnommen aus: Georg Fiedler, „Suizide, Suizidversuche und Suizidalität in Deutschland ,                    http://www.uke.uni-hamburg.de/extern/tzs/online-text/daten.pdf

11000 Suizide entsprechen einer Suizidrate von 13 Suiziden auf 100000 Einwohner. Auch wenn das immer noch eine hohe Zahl ist, so setzt sich damit ein Abwärtstrend fort, der schon seit einigen Jahren in Deutschland anhält. Abbildung 1 zeigt deutlich, dass die Suizidraten (das ist die mittlere Kurve) Anfang der achtziger Jahre nahe bei 25 Suiziden pro 100000 Einwohner gelegen haben, also fast doppelt so hoch waren wie heute, bevor sie im weiteren Verlauf stetig gesunken sind.
Mit einer Suizidrate von 13 befindet sich Deutschland in Europa etwa im Mittelfeld. In der folgenden Tabelle einiger europäischer Länder (Abbildung 2) ist das gut zu erkennen. Zugleich wird auch deutlich, wie stark die Suizidrate schwankt zwischen 2,9 in Griechenland und über 40 in Litauen. Man sieht auch, dass es ein geographisches Gefälle gibt von Nordosten nach Südwesten.

Berechnungsjahr
Land
Suizidrate
2003
Litauen
42,1
2003
Ungarn
27,7
2001
Schweiz
18,4
2003
Österreich
17,9
2001
Frankreich
17,6
2002
Polen
15,5
2000
Dänemark
13,6
2001
Schweden
13,4
2004
Deutschland
13
2002
Portugal
11,7
2002
Spanien
8,2
2001
Italien
7,1
2002
Großbritannien
6,9
2002
Griechenland
2,9
Abbildung 2 Quelle der Daten: WHO http://www.who.int/mental_health/prevention /suicide/country_re  
                     ports/en/index. html

    
Ein ähnliches regionales Gefälle findet sich auch auf globaler Ebene. Die höchsten Suizidraten liegen in Mittel- und Osteuropa, dem nördlichen Asien und Australien, während vor allem in Lateinamerika, den arabischen Ländern und Südeuropa niedrige Raten auftreten.
Liest man die Zahlen, dann stellt sich natürlich die Frage, wie es zu derart großen Unterschieden kommen kann. Ein Teil der Antwort, wenn auch sicher nicht die ganze Antwort lautet, dass sich darin die generelle Unzuverlässigkeit solcher Erhebungen widerspiegelt. Suizidzahlen sind mit einer ganzen Reihe von Unsicherheitsfaktoren behaftet, die sie nur begrenzt vergleichbar machen. So gibt es beispielsweise in den Ländern unterschiedliche Prozeduren der Todesfeststellung, zudem kann die vorherrschende Einstellung zum Suizid Einfluss darauf haben, wie schnell oder zögerlich ein Arzt mit dem Urteil zur Hand ist, dass es sich um einen Suizid handelt. Außerdem sind die regional verschiedenen Methoden, Suizid zu begehen, leichter oder schwerer von anderen Todesraten abzugrenzen. Wenn jemand sich erhängt, von großer Höhe springt oder sich erschießt, liegt der Schluss nahe, dass er Suizid begangen hat. Bei der Überdosierung von Medikamenten oder Drogen, beim Suizid durch einen absichtlichen Verkehrsunfall, aber auch bei der bewussten Nichteinnahme von lebensnotwendigen Medikamenten ist die Unsicherheitsmarge und die Gefahr willkürlicher Entscheidungen entsprechend höher.
Es bleibt aber ein Faktum, dass es große regionale Unterschiede darin gibt, wie viele Menschen sich absichtlich umbringen. Auch dafür gibt es wieder eine Reihe verschiedener Erklärungen. Zweifellos gibt es so etwas wie tradierte Haltungen zum Suizid, teilweise auch religiös beeinflusst, die dafür verantwortlich sind, dass es in manchen Ländern auffällig viele Suizide gibt, in anderen wenige. Es gibt aber auch weitere Faktoren, so spielt beispielsweise der Umgang der Medien mit dem Thema eine nicht zu unterschätzende Rolle. Einen speziellen Faktor bilden die medizinische Versorgung und die existierenden Suizidprophylaxe-Programme in den einzelnen Ländern.
Mindestens so interessant wir der internationale Vergleich sind die Unterschiede innerhalb eines Staates oder einer Gesellschaft, denn das Risiko, Suizid zu begehen, ist auf die Bevölkerung keineswegs gleich verteilt. So gibt es beispielsweise gewaltige Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sich (mit einer interessanten Ausnahme: China) weltweit beobachten lassen. Wie sich an Abbildung 1 ablesen lässt, verteilen sich die Suizide in Deutschland ganz unterschiedlich auf Männer (das ist die obere Kurve) und Frauen (das ist die untere Kurve). Die Suizidraten liegen bei 20,3 gegenüber 7,0. Männer bringen sich also fast dreimal so häufig um wie Frauen.
Bevor man allerdings allzu schnelle Rückschlüsse auf die unterschiedliche Suizidalität der Geschlechter zieht, ist es wichtig, auch die Suizidversuche einzubeziehen. Suizidversuche sind quantitativ noch viel schwerer zu erfassen als die tatsächlichen Suizide. Das liegt erstens daran, dass im Einzelfall die Unterscheidung zwischen Suizid- versuch und Leichtsinn oder Fahrlässigkeit kaum gelingt, zweitens aber auch daran, dass es keine Stelle gibt, die die Suizidversuche zählt. Schließlich sind Suizidversuche, wie gesagt, nicht strafbar und können deshalb aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht erfasst werden. Allerdings gibt es begründete Schätzungen für die Mitte der 90er Jahre, denen zufolge die Suizidrate für Männer bei etwa 122 gelegen haben könnte, für Frauen bei 147. Es sind also vermutlich weniger die Unterschiede in der Suizidalität als vielmehr die der verwendeten Methoden, die für die gravierenden Geschlechterdifferenzen verantwortlich sind. Männer ziehen meistens härtere und zuverlässigere Methoden vor als Frauen.
Viel gravierender als die Geschlechterunterschiede sind die Unterschiede im Lebensalter der Suizidenten. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die junge Suizidenten auf sich ziehen, von Werther bis Kurt Cobain, könnte den Eindruck erwecken, dass gerade in bestimmten Jugendphasen die Gefahr besonders hoch sei, sich das Leben zu nehmen. Doch die Statistik spricht eine radikal andere Sprache (vgl. Abbildung 3). Die Suizidraten gehen mit steigendem Alter stetig nach oben, bis zu der erschreckenden Zahl von 60,9 bei Männern über 75. Kurz, ältere Menschen bringen sich vergleichsweise häufig um, und sie brauchen dafür, nebenbei gesagt, auch verhältnismäßig wenige Suizidversuche.
Geschlecht und Alter sind also signifikante Risikofaktoren für einen Suizid. Weitere Faktoren, die Einfluss auf die Suizidalität haben, sind beispielsweise der Personenstand, Kinder, Arbeit oder Arbeitslosigkeit, aber auch saisonale oder tageszeitliche Trends. Der stärkste Prädiktor für einen Suizid ist aber ein vorangegangener Suizidversuch. Entgegen der landläufigen Meinung, dass einem der vergebliche Versuch vermutlich einen heilsamen Schock versetzt, bringen sich 10-15% derjenigen, die bereits einen ver-

Abbildung 3
Quelle: WHO http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide/country_reports/en/index.html

geblichen Suizidversuch unternommen haben, später auch tatsächlich um. Das Suizidrisiko nach einem gescheiterten Suizidversuch liegt um das 38fache über dem der Gesamtbevölkerung. 
Es gibt also beim Suizid bestimmte statistische Auffälligkeiten, die allerdings in der Regel gut erklärlich zu sein scheinen. Im hohen Alter ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit größer, dass man gesundheitliche Probleme hat, seinen Partner verloren hat, keinen Sinn mehr im Leben sieht, als in der Jugend. Insofern ist es kein Wunder, wenn ältere Menschen häufiger Suizid begehen. Ähnlich verständlich ist es, dass Geschiedene sich häufiger suizidieren als Verheiratete, Arbeitslose häufiger als solche mit einem Arbeitsplatz etc.
Es gibt aber noch einen weiteren Komplex empirischer Daten zum Suizid, der das Bild plötzlich ins Wanken bringt. Eine der international renommierten Psychiaterinnen, Kay Redfield Jamison von der John Hopkins University, hat die Ergebnisse so zusammengefasst:
„Zahlreiche Untersuchungen in Europa, den Vereinigten Staaten, Australien und Asien haben gezeigt, dass Menschen, die Hand an sich legen, in aller Regel von schweren Psychopathologien betroffen sind; alle bedeutenden Studien, die bis heute gemacht wurden, kommen zu dem Ergebnis, dass bei 90 bis 95 Prozent der Menschen, die sich das Leben nahmen, eine diagnostizierbare psychische Krankheit vorlag.“
(Kay Redfield Jamison, Wenn es dunkel wird, op. cit., S. 101)
Das aber heißt: Nahezu jeder Mensch, der sich suizidiert, hat eine diagnostizierbare psychische Erkrankung – und andere Übersichtsdarstellungen bestätigen Jamisons Einschätzung der Forschungssituation. Die betreffenden Forscher haben auch nicht die Dummheit begangen, den Suizid selbst als Symptom einer Krankheit zu werten. Die Daten wurden vielmehr in so genannten Psychologischen Autopsien gewonnen, das sind sehr aufwändige retrospektive Untersuchungen, um festzustellen, ob schon präsuizidal bestimmte Krankheitssymptome erkennbar waren oder nicht.
Die Tabelle in Abbildung 4, die aus einer anderen Übersichtsdarstellung entnommen ist, fasst die verschiedenen Ergebnisse zusammen. Auch wenn die Spannbreite der einzelnen Angaben augenscheinlich groß ist, hatten vermutlich mehr als die Hälfte der Suizidenten eine affektive Störung, also entweder eine Depression oder eine so genannte manisch-depressive Erkrankung, bei nahezu der Hälfte wurde ein Substanzenmissbrauch diagnostiziert, kleinere Gruppen hatten Angststörungen oder waren schizophren.11

Abbildung 4 Aus: Brian L. Tanney, „Psychiatric Diagnoses and Suicidal Acts“, R.W. Maris et al., Com.
                    prehensive Textbook of Suicidiology, The Guilford Press New York, London 2000, S. 320

Der Ausflug in die Empirie zeigt demnach, dass sich kaum jemand das Leben nimmt, ohne zuvor schon psychisch krank zu sein. Auch wenn die anderen statistischen Auffälligkeiten darauf hindeuten, dass sich der Suizid aus der jeweiligen Lebenssituation des Suizidenten erklären ließe, als vernünftig nachvollziehbare Reaktion, so scheint am Ende das Bild dramatisch zu kippen. Unabhängig von den Lebensumständen und erst recht unabhängig von den individuellen Vorstellungen, scheint niemand ernsthaft seinem Leben ein Ende zu setzen, es sei denn, er oder sie ist außerdem psychisch krank.
Wittgensteins Überrumpelungsthese scheint sich erschreckend zu bestätigen. Wenn man unter einem Suizid eine willentliche, absichtliche Handlung eines Menschen versteht, dann deuten die empirischen Daten darauf hin, dass die allerwenigsten Suizidenten in diesem Sinn Suizid begehen. Wäre der Suizid eine reale Handlungsoption für Menschen in bestimmten düsteren Lebensabschnitten, dann müsste ein erheblich größerer Prozentsatz der Suizidenten psychisch gesund sein. Wäre der Suizid zwar immer unvernünftig, aber gleichwohl ein für alle Menschen denkbarer stolzer Protest gegen die Absurdität des Daseins, dann müssten sich ebenfalls erheblich mehr psychische gesunde Menschen das Leben nehmen. Wie es aussieht, tun dies praktisch nur diejenigen Menschen, die psychisch krank sind, und also liegt der Schluss sehr nahe, dass sie es tun, weil sie psychisch krank sind – das heißt: nicht freiwillig und absichtlich. Und damit stellt sich die letzte der vier Fragen: Kann man überhaupt Suizid begehen, oder bedarf es zur Selbsttötung einer pathologischen Basis, auf der ein Mensch sich – in Wittgensteins Worten – selbst überrumpelt?
Wenn die Antwort aber lautet: „Man kann es nicht“, dann war vielleicht die ganze lange Debatte um die Notwendigkeit, Erlaubtheit oder Vernünftigkeit obsolet. Dann spielen sie gar keine Rolle für das Verhalten der Menschen, sind bestenfalls Rationalisierungen einer letztlich ausschlaggebenden psychischen Disposition. Amerys Logik des Todes wäre nichts anderes als der irgendwann übermächtige Sog der Depression, des „drangvollen Zwanges“, wie er es gleich auf der ersten Seite seines Buches nennt (S. 13).

*
Aus dem Vorhaben, das philosophische Problem des Suizids herauszuarbeiten, haben sich am Ende also vier unterschiedliche, wenn auch nicht ganz unabhängige Fragen entwickelt, die es nun zu beantworten gilt. Sie sind allerdings nicht gleich schwer und drängend.
Die erste Frage ist in der Form, in der ich sie gestellt habe, vermutlich sogar sehr leicht zu beantworten. Das Pathos des gegen die Absurdität der Welt ab stürmenden Camus ist durch den philosophischen Pessimismus nicht gerechtfertigt, ebenso wenig wäre es ein logischer Suizid. Trotzdem sollte man die Frage noch nicht ad acta legen, denn es ist nicht so sehr der Kampf mit der Sinnlosigkeit der Welt, der den stoischen Umgang mit dem Suizid so faszinierend macht, sondern das dahinter stehende Bild der menschlichen Würde, das sich von Seneca bis Amery zieht. Der Rolle von Würde, Integrität, Selbstachtung nachzugehen ist in meinen Augen eine lohnenswerte und wichtige Aufgabe, gerade auch, weil die Moralphilosophie diesen Bereich unserer Wertvorstellungen lange Zeit weitgehend ausgeblendet hatte.12
Explizit moralphilosophisch ist die zweite Frage, ob es erlaubt ist, Suizid zu begehen. Auch das scheint mir kein wirklich kniffliges Problem zu sein. Letztlich beschränkt es sich darauf, wie viel ein Mensch anderen absichtlich antun darf, in Ausübung seiner freien Selbstbestimmung. Die Frage ähnelt damit derjenigen, ob und wann man seine Familie, seinen Beruf oder sein Land verlassen darf. Auch wenn das im Einzelfall schwer zu entscheiden sein wird, so gibt es hier doch keine dem Suizid spezifische Schwierigkeit.
Am Problematischsten am Suizid ist aus moralphilosophischer Sicht die Frage, wie sich die anderen Menschen dem Suizidenten gegenüber verhalten dürfen und müssen. Dürfen sie ihn von seiner Tat abhalten? Oder dürfen sie ihm umgekehrt helfen? Wie viel Zwang ist erlaubt, wie lange, von wem, unter welchen Umständen? – Das sind Fragen, die nicht nur in den zwischenmenschlichen Bereich führen, sondern auch zu den Kernfragen der medizinischen Ethik, insbesondere der Ethik der Psychiatrie gehören. Da ich mich in meinem Beitrag aber ganz auf  den Suizidenten selbst beschränkt habe, möchte ich sie hier nur kurz erwähnt haben, ohne näher auf sie einzugehen.
Es bleiben die Fragen 3 und 4. Das sind in meinen Augen die schwersten und zugleich spannendsten Fragen. Die vierte Frage, ob man sich überhaupt absichtlich, willentlich das Leben nehmen könne, erfordert vor allem eine hinreichend differenzierte Konzeption praktischer Vernunft. Die vielfältigen Berichte, Stellungnahmen von Menschen, die versucht haben, sich das Leben zu nehmen, oder von denen wir wissen, dass sie sich später das Leben genommen haben (wie z.B. Amery), verbieten eine einfache Zweiteilung der Welt in psychisch gesunde rationale Akteure und psychisch kranke Menschen, deren Handlungen bloß Ausdruck ihrer Erkrankung sind. Die an forensischen Interessen orientierten Konzepte eingeschränkter Willensbildung, verminderter Steuerungsfähigkeit etc. sind philosophisch unbefriedigend. Was gebraucht wird ist ein Handlungsverständnis, das sowohl der Selbstverständlichkeit gerecht wird, mit der viele Suizidenten ihren Akt als frei ansehen, als auch der überwältigenden Korrelation von Suizidalität und Psychopathologie. Das ist – um es vorsichtig auszudrücken – eine ambitionierte handlungstheoretische Aufgabe.13
Damit bleibt die dritte Frage, ob es für einen Menschen ein vernünftiges Abwägen geben könne zwischen einer Welt mit ihm und einer ohne ihn. Auch dieses Problem ist Teil eines größeren Problemkontexts – mit der unerfreulichen Nebenwirkung, dass es auch all diejenigen unter uns nicht verschont, die keinen Gedanken daran verschwenden würden, jemals Suizid zu begehen. Es ist der Kontext der traditionellen Frage nach der Einstellung zur eigenen Sterblichkeit, zum eigenen Tod. Epikurs berühmter Trost, man solle den Tod nicht fürchten, denn solange man da sei, sei der Tod noch nicht da, und wenn dann der Tod da sei, dann sei man selbst schon weg, funktioniert ja deshalb so schlecht, weil man nicht weiß, wie man nachdenken soll über eine Welt, in der man schon weg ist.14 Es geht nicht darum, als Philosoph – in einer etwas abgedroschenen Redewendung Ciceros – sterben zu lernen, sondern erst einmal heraus zu bekommen, ob man das überhaupt lernen will. Hier vor allem lauert der abgrundtiefe Skandal, von dem ich eingangs schon geredet habe.
Alle vier Probleme, mit denen uns der Suizid konfrontiert, lohnen weitere philosophische Untersuchungen. In Bezug auf die ersten drei Probleme bin ich auch ganz zuversichtlich, dass wir ihrer Lösung erheblich näher kommen werden – nur was das letzte betrifft, bleibt uns vielleicht nichts übrig, als uns auf den Trost am Ende von Camus’ Buch zu verlassen, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen.

1    Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, deutsch von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 11
2   Die derzeit ausführlichste philosophische Bearbeitung des Themas findet sich in Hector Wittwers Buch Selbsttötung als philosophisches Problem, Paderborn 2003.
3    Einen schnellen Überblick über die vielfältigen empirischen Aspekte des Suizids gibt Thomas Bronisch, Der Suizid, München 42002.
4    Historische Darstellungen des Suizids finden sich in Georges Minois, Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf, Zürich 1996, Gerd Mischler, Von der Freiheit, das Leben zu lassen, Hamburg, Wien 2000, Vera Lind, Selbstmord in der frühen Neuzeit, Göttingen 1999, und Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, Weimar 2001.
5    L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 4, Übersetzt von Manfred Rosenbach, Darmstadt 21995.
6     Michel de Montaigne, Essais, übersetzt von Hans Stilett, Frankfurt/M. 1998, S. 175
7     Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, München, Berlin, New York 1988, S. 94
8   Vgl.  Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, übersetzt von Wilhelm Thimme, Zürich, München 1978, Buch 1, §§ 17-27
9     Vgl. Richard van Dülmen, Der ehrlose Mensch, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 83 ff.
10  Vgl. u.a. Bronisch op. cit., Kay Redfield, Jamison, Wenn es dunkel wird, Berlin 2002, Robert Simon, Robert Hales (eds.), Suicide Assessment and Management, Washington D.C. 2006, Georg Fiedler, „Suizide, Suizidversuche und Suizidalität in Deutschland“ http://www.uke.uni-hamburg.de/extern/tzs/online-text/daten.pdf
11  Die so genannten „Axis II“-Diagnosen beziehen sich auf Persönlichkeitsstörungen, die im Diagnoseschlüssel DSM auf einer gesonderten ‚Achse’ verschlüsselt werden.
12  Ich selbst bin dieser Frage in der letzten Zeit mehrfach nachgegangen, z.B. in dem Sammelband R. Stoecker (Hg.), Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff, Wien 2003, in „Selbstachtung und Menschenwürde“, Studia Philosophica 63 (2004), S.107-119, „Eine Frage der Ehre“, Berliner Debatte Initial 2006, S. 147-155, „Todesstrafe und Menschenwürde“ im Erscheinen.
13  Auch an dieser Aufgabe arbeite ich seit einigen Jahren, vgl. z.B. „In den Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, Analyse & Kritik 24 (2002) S. 209-230.
14  Vgl. meine Ausführungen zu diesem Thema in: Der Hirntod, Freiburg 1999, Abschnitt 5.5.

 
 
 

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