Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Besser, aber verbes­se­rungs­würdig

Unter ethischen Aspekten ist die niederländische Praxis der Sterbehilfe der deutschen vorzuziehen

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.108-116

1. Die jeweilige Praxis der Sterbe­hifle: Fakten und Vermutungen

Die Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden unterscheidet sich von der in Deutschland zunächst durch das, durch das sie sich von der Praxis fast aller anderen Länder unterscheidet, nämlich durch die vergleichsweise hohe Zahl von Akten ärztlicher direkter aktiver Sterbehilfe (im folgenden zu „aktive Sterbehilfe“ abgekürzt) bei unheilbar Schwerkranken. Aufgrund der in ungefähr fünfjährigem Abstand erfolgenden flächendeckenden Erhebungen zur Situation der Sterbehilfe in den Niederlanden lässt sich sagen, dass in den Niederlanden relativ konstant in 2000 bis 3000 Fällen pro Jahr aktive Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen eines unheilbar Kranken ausgeführt wird, in ungefähr 1000 Fällen aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen eines unheilbar Kranken. (Diese Konstanz widerlegt den vielfach erhobenen Vorwurf, mit der Legalisierung der aktive Sterbehilfe sei ein Abrutschen auf einer „schiefen Ebene“ unvermeidlich.) Allerdings werden nicht alle dieser Fälle gemeldet, so dass die Zahlen in den Jahresberichten der Überwachungskommissionen niedriger liegen. Laut Jahresbericht der zuständigen Überwachungskommission in den Haag lag im Jahr 2005 die Zahl der gemeldeten Fälle aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden bei 1.933. Im Jahr zuvor waren es 1.886 Fälle. Die weitaus größte Zahl derjenigen, die um aktive Sterbehilfe nachsuchten (1.713 Patienten) litt an Krebs. In 1.585 Fällen ist die Sterbehilfe in der Wohnung des Patienten durchgeführt worden, in den restlichen Fällen bei Angehörigen, in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. In drei Fällen sahen die Überwachungsgremien gesetzliche Vorschriften verletzt, allerdings wurden laut niederländischen Medienberichten keine Strafverfahren eröffnet.
Im Gegensatz dazu muss man davon ausgehen, dass in Deutschland Fälle ärztlicher aktiver Sterbehilfe mit oder ohne Verlangen des unheilbar Kranken selten sind. Nach den Ergebnissen einer repräsentativen Befragung deutscher Ärzte von 1996 wird die Frage, ob sie Fälle aktiver Sterbehilfe während ihrer medizinischen Berufsausübung erlebt hätten, von nur 6,4 % der Krankenhausärzte und von 10,5 % der niedergelassenen Ärzte bejaht. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die realen Zahlen höher sind, da Fälle von aktiver Sterbehilfe leicht als aktive indirekte Sterbehilfe getarnt werden können, z. B. indem höhere als zum Zweck der Schmerzlinderung erforderliche Dosen Morphin oder zweckdienliche Dosen mit der – schwer zu überprüfenden – Intention der Lebensbeendigung gegeben werden.
Analoges gilt für die Fälle von ärztlicher Beihilfe zum Suizid bei unheilbar Kranken. Nach den Erhebungen von van der Wal und van der Maas beliefen sie sich für die Niederlande im Jahr 1990 wie im Jahr 1995 auf ungefähr 400 Fälle. Obwohl eine entsprechende Ziffer für Deutschland nicht bekannt ist, ist zu vermuten, dass sie geringer ist – nicht zuletzt deshalb, weil in Deutschland die ärztliche Beihilfe zum Suizid, obwohl sie anders als in den Niederlanden nicht generell mit Strafe bedroht ist, als standeswidrig gilt und bei Bekanntwerden (wie im Fall Hackethal) standesrechtliche Sanktionen nach sich ziehen kann.
Insgesamt gehen die  beiden Länder in der Sterbehilfe also deutlich verschiedene Wege. Während in den Niederlanden alle Varianten der Sterbehilfe eine gewisse Rolle spielen, sind die Möglichkeiten der Sterbehilfe in Deutschland begrenzt, wobei interessanterweise nicht nur die objektiv rechtlichen Regelungen die Hauptrolle spielen, sondern auch die – oft unbegründeten – Befürchtungen von Ärzten, sich durch Sterbehilfe strafbar zu machen.
So zeigt sich immer wieder, dass vielen deutschen Ärzten nicht bekannt ist, dass der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten nicht nur rechtlich zulässig, sondern eine Weiterbehandlung gegen den Willen des Patienten rechtlich unzulässig ist und streng genommen den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Eine einmal aufgenommene lebensverlängernde Behandlung muss nach denselben rechtlichen Kriterien abgebrochen werden, nach denen auch eine Behandlung von vornherein nicht aufgenommen werden darf. Zwar ist die Nichtaufnahme einer Behandlung für Ärzte und Pflegekräfte in der Regel leichter zu bewältigen als ein Abbruch einer einmal aufgenommenen Behandlung. Mit der Aufnahme der Behandlung wird eine Rollenbeziehung zum Patienten eingegangen, die bei der Nichtaufnahme einer Behandlung nicht in derselben Weise vorliegt. Außerdem ist der Abbruch einer Behandlung vielfach mit einem aktiven Tun verbunden, etwa dem Ausschalten eines Beatmungsgeräts. Aber diesen Differenzen stehen keine entsprechende Differenzen auf der normativen Seite gegenüber. Für die Nichtweiterführung einer einmal aufgenommen lebensverlängernden Behandlung ist der Wille des Patienten in genau derselben Weise verbindlich wie für die Nichtaufnahme einer lebensverlängernden Behandlung. Und der Abbruch einer einmal aufgenommen Behandlung gilt rechtlich nicht als aktive, sondern als passive Sterbehilfe.
Obwohl die Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe in der Bevölkerung nur wenig geringer ist als in den Niederlanden, stoßen Initiativen zu einer auch nur begrenzten rechtlichen Zulassung der aktiven Sterbehilfe bisher auf Widerstand, besonders von Seiten der Politik und der ärztlichen Standespolitik. Einige Ärztefunktionäre erklären sich zwar öffentlich bereit, eigenen Nahestehenden gegebenenfalls aktive Sterbehilfe zu leisten, lehnen aber nichtsdestoweniger eine allgemeine Praxis (bzw. eine legitimierte Praxis) – zumeist aus Furcht vor möglichen „Dammbrüchen“ – ab. Der 1986 von einem mehrheitlich eher konservativ besetzten Arbeitskreis aus Professoren des Strafrechts und der Medizin vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe, der eine Strafbefreiungsklausel für bestimmte eng begrenzte Fälle aktiver Sterbehilfe auf Verlangen vorsah, ist schnell in den Schubladen verschwunden. Außer von Seiten der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben scheint gegenwärtig kein spürbares Interesse zu bestehen, ihn aus der Schublade hervorzuholen.

2. Eine ethische Bewertung

Wie ist die Divergenz zwischen den zwei benachbarten Ländern ethisch zu bewerten? Ich teile nicht die vielfach vertretene Auffassung, dass die aktive Sterbehilfe ein grundsätzliches ethisches Minus gegenüber der passiven und aktiv indirekten Sterbehilfe verdient oder aus grundsätzlichen Gründen verworfen werden muss. Wenn Einwände gegen die aktive Sterbehilfe zu erheben sind, dann eher aus pragmatischen als aus prinzipiellen Gründen.
Prima facie scheint es für die moralische Beurteilung einen erheblichen Unterschied zu machen, ob eine bestimmte Folge – hier der Tod des Patienten – als Folge eines aktiven Eingreifens oder eines bloßen Geschehenlassens eintritt. Schon die kausale Lage scheint unvergleichbar. Das eine Mal scheinen die Kausallinien vom menschlichen Eingreifen auszugehen, das andere Mal von den natürlichen Todesursachen, ohne jede kausale Beteiligung des Untätigen. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch das Untätigbleiben dessen, der bloß passive Sterbehilfe leistet, kausal an dem Geschehen beteiligt ist. Sein Untätigbleiben hat zur Folge, dass der Patient früher stirbt, als er andernfalls sterben würde.  Würde der Arzt eingreifen, würde der Patient länger leben.
Gelegentlich wird die ethische Differenzierung dadurch begründet, dass sich aktive und passive Sterbehilfe in der zugrunde liegenden Absicht unterscheiden. Bei einer aktiven Sterbehilfe sei der Tod des Patienten beabsichtigt, während er bei der passiven Sterbehilfe in der Regel nicht beabsichtigt sei. Aber auch dann, wenn man der Absicht eines Verhaltens (und nicht nur den vorausgesehenen Folgen) ethisches Gewicht zugesteht, lässt sich damit eine entsprechende ethische Unterscheidung nicht begründen. Von einem „Geschehenlassen“ sprechen wir nur dann, wenn die Folgen nicht nur das erwartete, sondern auch das angestrebte Resultat des jeweiligen Verhaltens sind. Jedes Verhalten, das sich als passive Sterbehilfe versteht, hat notwendig die Nicht-Verlängerung des Lebens des Patienten zum Ziel, d. h. einen früheren Todeseintritt, als er andernfalls zu erwarten wäre. Selbstverständlich wird dieses Ziel dabei nicht als letztes Ziel angestrebt. Es wird nur als Zwischenziel angestrebt, das seinerseits im Dienste der Leidensminderung steht. Aber das ändert nichts daran, dass es als Mittel angestrebt und als solches gewollt wird. Die moralische Ungleichbehandlung von aktiver und passiver Sterbehilfe lässt sich deshalb nicht darauf zurückführen, dass der Tod einmal beabsichtigt, das andere Mal lediglich vorausgesehen ist.
Für die weitere Diskussion empfiehlt es sich, zwischen drei verschiedenen Formen der aktiven Sterbehilfe unterscheiden. Es wird dabei jeweils vorausgesetzt, dass sich der Patient in einem schweren und irreversiblen Leidenszustand befindet.

1. aktive Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen eines urteilsfähigen und seine Situation erfassenden Patienten;
2. aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen bei einem nicht oder nur eingeschränkt urteilsfähigen und seine Situation nicht vollständig erfassenden Patienten;
3. aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen bei einem urteilsfähigen und seine Situation erfassenden Patienten.
Nach den niederländischen Erhebungen wird aktive Sterbehilfe in den Niederlanden in allen drei Formen ausgeübt, wobei die letzte Form wohl nur einige wenige Fälle betrifft. Leider sind die Auskünfte der Erhebungen gerade in diesem heiklen Punkt unklar. Es ist offensichtlich, dass  gegen die dritte Form sehr viel schwerwiegendere ethische Einwände sprechen als gegen die zweite, gegen diese wiederum sehr viel schwerwiegendere als gegen die erste.
Nach meiner – von vielen Ethikern geteilten –  Auffassung ist die dritte Form ethisch eindeutig inakzeptabel, die zweite bedenklich, die erste mit Einschränkungen akzeptabel.
Warum ist die erste Form akzeptabel (zu den Einschränkungen komme ich später)? Deshalb, weil mit der Existenz einer Praxis der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen die Optionen des Patienten für den Fall eines schweren Leidenszustands wesentlich erweitert werden. Er hat mehr Wahlmöglichkeiten – sowohl in der akuten Situation unheilbarer Krankheit als auch in gesunden Zeiten, in denen er sich möglicherweise vor einer schweren letzten Lebensphase ängstigt. Nicht nur für den realen, sondern schon für den potentiellen Patienten kann das Wissen um die Möglichkeit, gegebenenfalls auf aktive Sterbehilfe als ultima ratio der Leidensbegrenzung rechnen zu können, eine gute Nachricht sein. Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Ärzte in Deutschland zu einer aktiven Sterbehilfe nicht bereit ist, wird – zumindest nach meiner Erfahrung – von den Patienten keineswegs durchgängig mit Erleichterung aufgenommen. Denn weder die Alternativen einer lediglich passiven Sterbehilfe oder die einer Leidenslinderung durch palliativmedizinische Maßnahmen bieten in jedem Fall einen Ausweg. Ein Behandlungsabbruch mit der Folge eines möglicherweise lang hinausgezogenen Sterbeprozesses kann durchaus beschwerlicher und qualvoller als der künstlich verkürzte sein. Und auch die beeindruckenden Möglichkeiten der Palliativmedizin bieten nicht immer eine Alternative – erstens deshalb, weil die Entwicklung der Palliativmedizin in den Niederlanden wie in Deutschland noch in den Anfängen steckt und ihr Potential längst nicht überall zur Verfügung steht, und zweitens deshalb, weil in einem kleinen, aber bedeutsamen Teil der Fälle auch die fortgeschrittenste Palliativmedizin machtlos ist gegen Schmerz, Atemnot, Übelkeit und andere krankheitsbedingte Leiden, die die letzte Lebensphase zur Qual machen können.
Im Übrigen kann vielfach auch eine optimale Schmerzbehandlung die Belastungen nur unwesentlich mildern, die die Hauptgründe für das Verlangen nach Sterbehilfe ausmachen: der irreversible Verlust von Autonomie, das Gefühl von Würdelosigkeit und das Empfinden, anderen zur Last zu fallen.

Meine Bedenken gegen die Praxis der aktiven Sterbehilfe sind pragmatischer Art und richten sich vor allem auf die begrenzte Kontrollierbarkeit einer solchen Praxis. Für den Arzt bedeutet die Erlaubtheit der aktiven Sterbehilfe nicht nur, dass er in verstärktem Maße mit Bitten um aktive Sterbehilfe konfrontiert wird und dass ihn die Erfüllung dieser Bitte im Regelfall psychisch erheblich belastet. Sie bedeutet auch, dass ihm ein erhebliches Quantum an Macht über den Patienten zuwächst. Diese Macht kann, da sie missbrauchbar ist, für den aktuellen und potentiellen Patienten gefährlich werden, insbesondere dadurch, dass die Erfordernis eines ausdrücklichen Sterbeverlangens nicht eingehalten und das Leben eines Patienten wenn nicht gegen, so doch ohne seinen erklärten Willen beendet wird.
Dieses Bedenken begründet keine pauschale Verwerfung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen. Sie legt jedoch die Überlegung nahe, ob nicht der Sicherheit des Patienten vor Fremdbestimmung mit einer Praxis des ärztlich unterstützten Suizids eher gedient wäre, wie sie gegenwärtig in dem amerikanischen Bundesstaaten Oregon verwirklicht ist. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass dem Arzt beim ärztlich assistierten Suizid eine weniger dominante Rolle zufällt. Indem der Arzt nicht mehr die ausführende, sondern nur noch eine unterstützende Rolle übernimmt, wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und das Interesse des Patienten an Schutz vor Missbrauch eindeutiger gewahrt.
Die dritte Form der aktiven Sterbehilfe ist m. E. so eindeutig ethisch inakzeptabel, dass sie keiner weiteren Diskussion bedarf. Demgegenüber lässt sich für die zweite Fallgruppe eine Lösung nicht so leicht finden. Ein urteilsunfähiger Patient kann sich in derselben verzweifelten Notlage befinden wie ein urteilsfähiger Patient und mit demselben guten Recht ein Ende seiner Leiden herbeiwünschen. Ein bloßer Behandlungsabbruch oder eine palliative Behandlung kann bei einem urteilsunfähigen Patienten im Einzelfall ebenso unvermögend sein, ihm seine Lage zu erleichtern wie bei einem urteilsfähigen Patienten, der zu einem ausdrücklichen Verlangen fähig ist bzw. dessen ausdrückliches Verlangen nicht in derselben Weise für unbeachtlich gehalten wird. Erklärt man eine aktive Sterbehilfe bei nicht-urteilsfähigen Patienten für generell unzulässig, nimmt man also in Kauf, dass diese Patienten gegenüber den urteilsfähigen gravierend benachteiligt werden. Ist es ethisch vertretbar, diese Benachteiligung aus Gründen erhöhter Sicherheit in Kauf zu nehmen?
Die an dieser Stelle erforderte Güterabwägung wird erschwert durch die Unsicherheit jedes Versuchs, die Risiken aus der Zulassung einer nicht ausdrücklich verlangten aktiven Sterbehilfe bei nicht-urteilsfähigen Patienten einigermaßen verlässlich abzuschätzen. Auf der einen Seite steht das Leiden derjenigen nicht-urteilsfähigen Patienten, denen auch durch Behandlungsabbruch und Palliativmedizin nicht angemessen geholfen werden kann. Ihnen wäre möglicherweise mit einer aktiven Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen, also durch eine Mitleidstötung zu helfen. Auf der anderen Seite stehen die Risikopotentiale einer Praxis, in der das Ausmaß des Leidens und der mutmaßliche Wille des Patienten durch den Arzt ohne Absicherung durch einen wirksam geäußerten Patientenwillen abgeschätzt werden muss. Auch wenn der Arzt sich redlich bemüht, die Binnenperspektive des Patienten einzunehmen und sich von eigenen und fremden emotional oder interessenbedingten Projektionen freizumachen, ist nicht auszuschließen, dass Fremdinteressen – wie das Interesse, das schwere Sterben eines anderen nicht miterleben zu müssen – in derartige  Beurteilungen einfließen, mit der Folge, dass das Leben des Schwerkranken in einer von diesem nicht gewünschten Weise verkürzt wird.
Freilich sind diese Abwägungsschwierigkeiten keine Besonderheit der aktiven Sterbehilfe. Sie gelten ebenso für den Behandlungsabbruch und die terminale Sedierung, verstanden als Behandlungsabbruch unter Bewusstseinsdämpfung- bzw. -ausschaltung. Insofern erscheint mir die in Deutschland verbreitete Kritik an der Undurchsichtigkeit der niederländischen Praxis der aktiven Sterbehilfe ohne Verlangen bei nicht urteilsfähigen Patienten zumindest solange einseitig, wie sie nicht auch die parallelen Undurchsichtigkeiten des in Deutschland praktizierten Behandlungsabbruchs ohne ausdrückliches Verlangen bei nicht-urteilsfähigen Patienten moniert. Wann eine Behandlung bei nicht Urteilsfähigen abgebrochen wird, ist in Deutschland ebenso wenig reguliert wie die aktive Sterbehilfe bei Nicht-Urteilsfähigen in den Niederlanden und liegt ebenso weitgehend in der Entscheidungshoheit des Arztes.
Ich neige dazu, die aktive Sterbehilfe ohne Verlangen bei nicht-urteilsfähigen Patienten als allzu missbrauchsgefährdet abzulehnen. In den schwierigen Fallkonstellationen, um die es dabei geht, würde dem Wohl des Patienten, aber auch einer eventuell vorliegenden Patientenverfügung, mit der der Patient eine Fortsetzung der Behandlung (einschließlich künstlicher Ernährung und Hydrierung) unter den gegebenen Bedingungen vorgreifend abgelehnt hat, durch eine terminale Sedierung deutlich besser gedient.

3. Das recht­se­thi­sche Problem

Sterbehilfe ist nicht nur ein ethisches, sondern auch ein rechtsethisches Problem, d. h. es muss unter ethischen Gesichtspunkten geklärt werden, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß und mit welcher Regelungsdichte eine ärztliche Sterbehilfe verrechtlicht werden sollte, wie groß die Spielräume ärztlichen Ermessens sein sollten und in welchem Maße Divergenzen zwischen Rechtsnorm und etablierter und akzeptierter Praxis tolerierbar sind.
Ich mache keinen Hehl aus meiner Auffassung, dass ein allzu krasses Auseinandergehen von Rechtsnorm und faktisch etablierter Praxis ein beträchtliches Risiko birgt – das Risiko einer systematischen Erosion der Rechtssicherheit und der Verbindlichkeit des Rechts. Wenn etwas verboten ist oder für rechtswidrig erklärt ist, sollte es auch nicht getan werden dürfen. Der juristische Kniff, offenkundige Verbotsnormen auf einen bloß „deklaratorischen“ Status herunterzuinterpretieren und aus ihnen quasi pädagogische Ermahnungen ohne konkrete Rechtsfolgen zu machen, entspricht nicht dem üblichen – und erhaltenswerten – Verständnis von rechtlichen Verboten. Man wird deshalb nicht beides haben können: die Aufrechterhaltung eines strafrechtlichen Verbots der aktiven Sterbehilfe und die „Grauzone“ einer von allen Beteiligten gebilligten Praxis der systematischen Verletzung dieses Verbots in Einzelfällen. Aber auch die Eröffnung der Möglichkeit eines Absehens von Strafe, wie sie der sogenannte „Alternativentwurf Sterbehilfe“ von 1986 vorsah, scheint mir keine gute Lösung. Der „Alternativentwurf“ sah vor,  dass die Tötung auf Verlangen zwar weiterhin grundsätzlich verboten sein soll, dass in den § 216 des Strafgesetzbuches jedoch eine Ausnahmebestimmung aufgenommen wird, die dieses Verbot für bestimmte Fälle mildert. In Fällen unerträglicher Leidenszustände, die „nicht durch andere Maßnahmen behoben oder gelindert werden“ können – so der Entwurf -, sollte das Gericht von Strafe absehen können.
Es wäre ehrlicher und eindeutiger, in den jeweiligen Fällen eine Ausnahme von der Rechtswidrigkeit und nicht nur eine Ausnahme von der Strafbarkeit zu machen.
Vielfach werden Bedenken laut gegen das Ansinnen, die Intimität der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung mit dem Instrument des Rechts – und dann sogar des Strafrechts – regulieren  zu wollen und damit in den innersten Nahbereich der Person einzudringen. Diese Bedenken sind verständlich. Sie sind jedoch m. E. nicht stark genug, dem Argument Genüge zu tun, dass die sachbedingte Nähe der Sterbehilfe zu schwerwiegenden Straftaten wie Totschlag und Mord sowie das Bedürfnis nach rechtlicher Sicherheit für alle Beteiligten eine möglichst klare und hinreichend eindeutig überprüfbare rechtliche Grenzziehung erfordert. Akte der Sterbehilfe in einer Grauzone des privaten und unkontrollierbaren Ermessens zu belassen, würde vor allem dem auf der Seite der Patienten ausgeprägten Bedürfnis nach Sicherheit vor missbräuchlichen Übergriffen und dem Bedürfnis nach Schutz vor Eigenmächtigkeit zu wenig gerecht.
Auch nachdem die niederländische Gesetzgebung zur Sterbehilfe rechtliche Klarheit gebracht hat, sind die in den Niederlanden geltenden Verfahrensregelungen wenig dazu angetan, die die Sterbehilfe weiterhin umgebende Grauzone aufzuhellen. Dem Arzt muss das Ansinnen, ausgeführte Akte aktiver Sterbehilfe zur Anzeige zu bringen und sich deren Unbedenklichkeit längeren Wartezeit durch eine Unbedenklichkeitserklärung bestätigen zu lassen, förmlich dazu einladen, es mit der Meldung nicht so ernst zu nehmen. Um ein höheres Maß an Gesetzeskonformität, Durchsichtigkeit und Rechtssicherheit zu erreichen, wäre eine Verfahrensregelung vorzuziehen, bei der der Arzt eine richterliche Genehmigung vor der Ausführung der aktiven Sterbehilfe einholt, ähnlich wie bei Zwangsmaßnahmen bei unter Betreuung stehenden Patienten eine vormundschaftsrichterliche Genehmigung eingeholt werden muss.

4. Ein grosso modo -Vergleich

Vergleicht man den status  quo in den Niederlanden und in Deutschland scheint mir  die niederländische Praxis selbst dann, wenn man die ethisch inakzeptablen Fälle von Sterbehilfe ohne Verlangen berücksichtigt, insgesamt immer noch vorzugswürdig. Grundlage dieser Einschätzung ist die Überzeugung, dass es für eine ethische Beurteilung zuallererst auf die Sicht der aktuellen und potentiellen Patienten ankommt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Situation in den Niederlanden der in Deutschland in mehreren Hinsichten überlegen:
1. In den Niederlanden stehen mit der ärztlichen aktiven Sterbehilfe und dem ärztlich unterstützen Suizid einige Sterbehilfe-Optionen mehr als in Deutschland zur Verfügung. Die Beruhigung, als schwer leidender unheilbar Kranker gegebenenfalls auf eine aktive Sterbehilfe oder auf ärztliche Beihilfe zu einem Suizid als ultima ratio hoffen zu können, dürfte die Furcht vor möglichen missbräuchlichen Anwendungen des dem Arzt damit zugestandenen Verhaltensspielraums mehr als aufwiegen. Auch wenn der assistierte Suizid in Deutschland anders als in den Niederlanden nicht strafrechtlich verboten ist, sind doch die Hindernisse zur Inanspruchnahme dieser Option in der Praxis so hoch, dass viele Patienten mittlerweile eher in die Schweiz fahren und sich einer dort operierenden Sterbehilfeorganisation anvertrauen, als auf einen deutschen Arzt zu hoffen.
2. Im Unterschied zu den Niederlanden lässt es die Rechtslage zur Sterbehilfe in Deutschland an der nötigen Rechtssicherheit für Ärzte, Patienten und Angehörige fehlen. Verantwortlich dafür ist vor allem, dass die Rechtslage fast ausschließlich durch die Rechtsprechung statt durch gesetzliche Regelungen definiert und u. a. deshalb in der Praxis nur schwer einschätzbar ist. Die durch die Rechtsprechung geschaffene Rechtslage ist vor allem hinsichtlich der Sterbehilfe durch Beihilfe zum Suizid unbefriedigend. Im internationalen Vergleich weist das deutsche Strafrecht das Paradox auf, dass es einerseits die Beihilfe zum Suizid selbst in vielen Fällen erlaubt, in denen der Suizid nicht auf eine freie und wohlinformierte Entscheidung des Suizidenten zurückgeht, dass es aber andererseits die Verhinderung des durch den Suizid eingetretenen Todes (d. h. die Wiederbelebung nach eingetretener Bewusstlosigkeit) von allen fordert, die – wie Ärzte und Angehörige – als „Garanten“ für den Suizidenten in besonderer Weise verantwortlich sind. Auch wenn die Rechtsprechung mittlerweile dazu übergegangen ist, in Fällen eines „freiverantwortlichen“ Suizids die Verpflichtung  zum rettenden Eingreifen fallenzulassen, kann bis heute kein Arzt oder Angehöriger sicher sein, dass  er sich durch die Nichtverhinderung eines Suizids nicht strafbar macht. Der Bundesgerichtshof konnte sich bisher nicht dazu entschließen, anzuerkennen, dass ein Patient dadurch, dass er den Suizid freiverantwortlich will, den Arzt oder seine Angehörigen aus ihrer Hilfsverpflichtung entlässt. Nur so könnten diese jedoch sicher sein, wegen des Verzichts auf  lebensrettende Maßnahmen nicht wegen Tötung durch Unterlassen oder unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden.
Auch die rechtliche Bewertung des Suizids selbst ist weiterhin unklar und moralisch dubios. Während in der Ethik und in der Öffentlichkeit (vgl. etwa die Reaktionen auf den Suizid der Kanzlergattin Hannelore Kohl) der freiverantwortliche Suizid in Sterbehilfesituationen seit längerem als Bestandteil des grundrechtlich verbürgten Freiheitsrechts gilt, hat der Bundesgerichtshof  noch in einem Urteil von 2001 an seinen Grundsatz aus den 50er Jahren angeknüpft, nach dem „die Rechtsordnung eine Selbsttötung – von äußersten Ausnahmefällen abgesehen – als rechtswidrig“ betrachtet.
3. Im Unterschied zu den Niederlanden sterben in Deutschland immer weniger Sterbende (gegenwärtig nur noch ein Viertel) zu Hause. Der Wunsch der meisten Menschen, in ihrer vertrauten Umgebung zu sterben, bleibt immer öfter unerfüllt.
4. Die Kommunikation über Tod und Sterben ist zwischen Ärzten und Patienten, Ärzten und Pflegenden, Patienten und Angehörigen in Deutschland vielfach gestört. Ärzte sind von ihrer Ausbildung und Aufgabe her zuallererst auf das Heilen ausgerichtet und nicht immer fähig oder willens, mit dem Sterbenskranken über sein bevorstehendes Sterben zu sprechen und ihn im Sterben zu begleiten. Auch die standesethische Debatte leidet unter Kommunikationsstörungen. Bereits der Titel der letzten einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer: „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung“ verweist auf eine – von der öffentlichen Debatte schon längst hinter sich gelassene – Berührungsangst dem Thema gegenüber. Tatsächlich geht es in diesen Richtlinien nur ganz am Rande um Sterbebegleitung im Sinne einer psychologisch-seelsorgerischen Hilfe im Sterben. In der Hauptsache geht es um Sterbehilfe im Sinne einer medizinischen Hilfe im und zum Sterben.
Insgesamt bleiben die Verhältnisse in beiden Ländern jedoch weit hinter dem Wünschenswerten zurück:
1. Der niederländischen Praxis der aktiven Sterbehilfe wäre eine Praxis vorzuziehen, in der das Selbstbestimmungsrecht der Patienten deutlicher zur Geltung käme. In Betracht käme dabei insbesondere eine Praxis des ärztlich assistierten Suizids, die an dieselben Bedingungen geknüpft wäre wie gegenwärtig die aktive Sterbehilfe. Erforderlich wären darüber hinaus Einschränkungen bei der aktiven Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen.
2.Unabhängig davon wäre zu fordern, in beiden Ländern die hinter den medizinischen Möglichkeiten zurückbleibenden Angebote an Palliativmedizin und Hospizdiensten zu erweitern. Mit dem notwendigen Ausbau der Palliativmedizin würde wohl auch der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe sehr viel seltener aufkommen.
3. Die Schmerzbehandlung in der Endphase von Krebserkrankungen scheint noch längst nicht überall zureichend. Die Bundesrepublik und die Niederlande liegen bei den Zahlen zur Verordnung von morphinhaltigen Schmerzmitteln noch immer hinter vielen anderen europäischen Ländern. Schuld daran sind u. a. Bequemlichkeit und sachlich verfehlte Ängste vor Suchtgefahren. 
  

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