Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Ärztliche Beihilfe zum Suizid oder „Laienhilfe“?

Ein Vergleich zwischen der Schweiz, Oregon und den Niederlanden.

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.117-135

 

1. Einführung

Für die Erwägung des Für und Wider um die ethische Legitimation einer Beihilfe zum Suizid werden hier drei Arten von Problemen unterschieden:
– der mögliche Irrtum des Betroffenen über die Annahme der Aussichtslosigkeit der Lage und des Fehlens einer Alternative zur Beendigung von unerträglichem Leiden
– der mögliche Missbrauch eines Suizids zugunsten der Interessen  Dritter
– das Risiko gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, die die Schwelle für Suizide senken könnten, z.B. durch eine Entwertung gefährdeter Personengruppen.
Diese drei Probleme korrespondieren mit den juristischen Kriterien der Urteilsfähigkeit und der Tatherrschaft beim Betroffenen, nach denen Suizid und Beihilfe problematisiert werden (Reiter-Theil 2004a, 2005a).
Im internationalen Vergleich zwischen der Schweiz und jenen Ländern, die sich aktiv mit einer straffreien Praxis der Beihilfe zum Suizid auseinandersetzen, drängt sich die Kontrastierung zwischen einer durch Laien organisierten gegenüber einer ärztlichen Beihilfe zum Suizid auf. In der Schweiz ist die liberale Tradition der Toleranz des Suizids sowie der Beihilfe seit 1942 bundesgesetzlich verankert. Die Praxis der Suizidbeihilfe durch Laienorganisationen wie z.B. EXIT (mit unterschiedlich direkter oder indirekter Beteiligung durch Ärzte und andere Heilberufe) unterscheidet sich deutlich von der Handhabung der Suizidbeihilfe in den Nachbarländern der Schweiz (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich); sie unterscheidet sich aber auch sehr deutlich von der Praxis derjenigen Länder, welche die ärztliche Beihilfe zum Suizid gesetzlich regeln und zulassen, nämlich Oregon/USA und Niederlande (im Gegensatz zu Belgien, die nur die aktive Sterbehilfe legalisierten). Vor diesem Hintergrund eines internationalen Vergleichs werden offene Fragen sowie Unterschiede zur Schweiz analysiert. Dabei stehen präventive Aspekte zur Vermeidung der drei Problemkategorien – Irrtum, Missbrauch, gesellschaftliche Fehlentwicklungen – im Zentrum.
In der aktuellen Situation in der Schweiz bestehen zahlreichen „Grauzonen“, vom Notfalleinsatz bis zur Sterbebegleitung, in denen ethische Entscheidungen über eine etwaige Suizidbeihilfe unvermeidlich sind. Verschiedene Hilfsangebote zur ethischen    Orientierung wie Richtlinien, Prinzipien oder Ethik-Konsultation werden diskutiert.

2. Inter­na­ti­o­nale Perspek­ti­ven: Oregon – Niederlande

2.1 Oregon
Oregon und die Niederlande haben ebenso die Schweiz eine fortgeschrittene Toleranz des Suizids sowie der Beihilfe des Suizids aufzuweisen. Im Unterschied zur Schweiz, in der die Suizidbeihilfe durch organisierte Laien erfolgt, haben die beiden anderen Länder in neuerer Zeit eine je spezifische Gesetzgebung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung hervorgebracht.
Der Staat Oregon verabschiedete sein liberales Gesetz zur ärztlichen Suizidbeihilfe in einem Referendum mit schwacher Mehrheit ursprünglich bereits 1994 (Colburn 1994; Oregon Death with Dignity Act 1995, zitiert nach Sulmasy 2001, S. 252); das Inkrafttreten des Gesetzes wurde jedoch durch Gerichtsverfahren und eine daraus folgende Gerichtsentscheidung verhindert, die eine erneute Volksbefragung festlegte. Dieses wiederholte Referendum, das dieses Mal zur Niederschlagung des Gesetzes formuliert war, wurde jedoch klar abgelehnt (Egan 1997, zitiert nach Sulmasy 2001, S. 252). Nachdem der U.S. Supreme Court (das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten) eine abschließende Berufung der Gegner anzuhören abgelehnt hatte, wurde das Gesetz schließlich 1997 in Kraft gesetzt (Booth 1998, zitiert nach Sulmasy 2001, S. 252). 1997 hatte der U.S. Supreme Court sich auch mit den Berufungen in den Fällen Vacco v. Quill 1997 und Washington v. Glucksberg 1997 zu befassen. Aus diesen Anlässen entschied er, dass amerikanische (Bundes-)Staaten die unbedingte Verpflichtung hätten, Leben zu erhalten und vulnerable Personen zu verteidigen, dass es indessen in der Verfügung jedes einzelnen Staates läge zu entscheiden, ob sie die ärztliche Suizidbeihilfe ächten oder legalisieren wollen. Obwohl die Begründungen in den zahlreichen Beratungen beträchtlich differierten, beschlossen die Richter einstimmig, dass die amerikanische Verfassung kein Recht auf ärztliche Beihilfe zum Suizid gewährt. Jedoch wurde den Bundesstaaten die Freiheit eingeräumt, mit entsprechenden Gesetzen zur Liberalisierung der Suizidbeihilfe zu experimentieren, sofern sie dies wünschten. 
Nach dem aktuell geltenden Gesetz des Bundesstaates Oregon, USA, dem „Oregon Death with Dignity Act“, verabschiedet am 27. Oktober 1997, wird es Einwohnern mit terminaler Krankheit ermöglicht, vom Arzt eine tödliche Dosis zur eigenen Verwendung verschrieben zu bekommen. Dies ist jedoch nur unter bestimmten Bedingungen zulässig: bei Erwachsenen und kompetenten Patienten mit der Prognose, dass ihre Krankheit in ca. 6 Monaten zum Tod führt. Das Gesetz erlaubt keine aktive Sterbehilfe, bei der ein Arzt oder ein Anderer bei einer Person ein Medikament direkt zur Beendigung des Lebens anwendet (Chin et al 1999; Sullivan et al 2000). Die gesetzlichen Anforderungen in Oregon sehen mehrere Schritte vor, die erfüllt sein müssen, wenn eine Beihilfe zum Suizid straffrei bleiben soll. Es bedarf einer schriftlichen und zweier mündlicher Anfragen an den Arzt, die im Abstand von mindestens 15 Tagen erfolgen sollen. Zwei Ärzte müssen bestätigen, dass es sich um eine terminale Erkrankung mit der entsprechenden Prognose handelt und dass der Patient entscheidungsfähig (kompetent) ist. Wenn auch nur ein Arzt die Entscheidungsfähigkeit (Kompetenz) des Patienten durch Depression oder eine andere psychiatrische / psychologische Störung beeinträchtigt sieht, muss der Patient zur weiteren Untersuchung / Beratung überwiesen werden. Der Arzt muss den Patienten über alle möglichen Alternativen zum Suizid informieren, die einen Ausweg aus der Leidenssituation eröffnen könnten wie eine palliative Betreuung, die Aufnahme in ein Hospiz oder stärkere Schmerzkontrolle. Seit Inkrafttreten des Gesetzes wurden sämtliche Fälle, in denen Patienten um ärztliche Mitwirkung an ihrer Selbsttötung gebeten haben sowie die tatsächlich erfolgten Suizidbeihilfen dokumentiert und publiziert (Chin et al 1999; Sullivan et al 2000). Damit legt Oregon eine einmalige Datenbasis zur Evaluierung der ärztlichen Suizidbeihilfe unter streng kontrollierten, legalisierten Bedingungen vor.

2.2 Niederlande
Diese Bedingungen in Oregon unterscheiden sich deutlich von den in den Niederlanden faktisch praktizierten Vorgehensweisen. Interessanterweise ist die niederländische Praxis der ärztlichen Suizidbeihilfe kaum im Ausland diskutiert worden, dafür wurde und wird umso mehr die aktive Sterbehilfe kritisiert. Am 28. November 2000 erklärte das niederländische Parlament die aktive Sterbehilfe sowie die ärztliche Beihilfe zum Suizid für legal. Dem war eine längere Phase der „Toleranz“ der Tötung auf Verlangen des Patienten durch einen Bezugsarzt unter bestimmten Bedingungen vorangegangen; diese sind u.a. Bedenkzeit des Patienten, Einholen einer zweiten ärztlichen Meinung, Meldepflicht. Die aktive Sterbehilfe sowie die ärztliche Beihilfe zum Suizid waren dennoch während der letzten zwei Jahrzehnte vor der Gesetzesänderung 2000 technisch gesprochen illegal. Ärzte waren aber praktisch vor Strafverfolgung geschützt, wenn sie bestimmte Regeln einhielten. Die neue Legalisierung wurde einerseits als Fortschritt, andererseits als Beweis für die „schiefe Ebene“ bewertet (Sulmasy 2001, S. 256). (Belgien folgte 2003 dem niederländischen Modell, ausschließlich für die aktive Sterbehilfe, die ärztliche Suizidbeihilfe wurde nicht legalisiert, sie ist gesetzlich separat und restriktiv geregelt; vgl. Nys 2003.)
Im Folgenden soll ausschließlich die niederländische Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, nicht aber die Handhabung der aktiven Sterbehilfe diskutiert werden. Aus den Niederlanden wurde Selbstkritik bezüglich der Handhabung der ärztlichen Mitwirkung an Patienten-Selbsttötungen laut: Es gebe zu wenig empirische Evidenz über die Durchführung und zu wenig Literatur über die den Entscheidungen vorangehenden ärztlichen Konsultationen untereinander und mit den Patienten; Kritik wird auch aus den konstruktiven Vorschlägen von Onwuteaka -Philipsen und Van der Wal (2001) im Detail erkennbar. Die Autoren entwickeln vor diesem Hintergrund das „Amsterdam-Modell zur Konsultation mit einem 2. Arzt“ (Onwuteaka -Philipsen, van der Wal 2001). Es hat zum Ziel, die Handhabung der Beihilfe zum Suizid professioneller zu gestalten, dabei die Praktiker zu unterstützen und für ein einheitliches Vorgehen zu sorgen. Im Zentrum steht dabei die Feststellung, ob eine alternative Behandlung zur Suizidbeihilfe möglich wäre, sei diese palliativ oder kurativ. – Hierzu ist nachdenklich anzumerken, dass es erstaunlich ist, wenn kompetente niederländische Autoren es für möglich halten, dass eine ärztliche Beihilfe zum Suizid stattfindet, solange noch eine kurative Therapie, also eine Heilbehandlung des zu dem Leidenszustand führenden Krankheitsgeschehens möglich ist. Zumindest halten die Autoren es für notwendig auszuschließen, dass Ärzte dies übersehen oder vergessen (zu prüfen); es mag auch Fälle geben, in denen eine Heilungsmöglichkeit erst ganz kurzfristig und nur für Spezialisten erkennbar wird; für solche Fälle ist diese Zusatzbedingung außerordentlich wichtig.
Als weitere Bedingungen werden formuliert: Der Wunsch des Patienten muss frei, überlegt und stabil sein. Es muss ferner ausgeschlossen werden, dass die Kompetenz des Patienten, diese Entscheidung zu treffen, beeinträchtigt ist, z.B. durch Morphin, Hirnmetastasen oder psychiatrische Probleme. Es ist wohl nicht daran gedacht, dass das Vorliegen einer psychischen Störung (psychiatrischen Erkrankung) per se zum Ausschluss des Patienten, also zu einer Verweigerung seines Wunsches auf Unterstützung einer Selbsttötung bedeuten soll. Es geht vielmehr darum festzustellen, ob die Willensbildung des Patienten, beispielsweise durch ein Krankheitsgeschehen, beeinträchtigt    oder verunmöglicht wird. Ein umfassendes Krankheitsgeschehen vermag die Willensbildung zwar grundsätzlich zu beeinflussen; hier soll jedoch das Kriterium geprüft werden, ob das Krankheitsgeschehen die Willensbildung im eigentlichen Sinne unfrei werden lässt.

2.3 Probleme des Verfahrens in Oregon bzw. den  Niederlanden
Auch dann, wenn man den „Experimenten“ zur Liberalisierung oder Professionalisierung der ärztlichen Suizidbeihilfe nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht oder diese unterstützt, muss man sich mit den ungelösten Problemen der Vorgehensweisen befassen, die von Autoren aus Oregon bzw. den Niederlanden berichtet werden.

„Moralische Traumatisierung“?
Im ersten Bericht aus Oregon nach den ersten Erfahrungen mit der Umsetzung des neuen Gesetzes berichten die Autoren, dass Ärzte über seelische Belastungen im Zusammenhang mit ihrer Beteiligung an der Patienten-Selbsttötung geklagt hätten:
„This was really hard on me” (Chin et al 1999).
Eine Begleitung – oder besser Vorbereitung – der betreffenden Ärzte wäre demnach erforderlich, um zu vermeiden, dass es hier zu möglicher Weise anhaltenden Belastungen kommt. Nennen wir diese Belastung hypothetisch eine „moralische Traumatisierung“, die dadurch zustande kommen kann, dass ein Mensch mit einem hohen ärztlichen Ethos im Nachhinein Zweifel entwickelt und sein Handeln nicht (mehr) mit seiner angestammten beruflichen Tradition, seinem weltanschaulichen Überzeugungssystem oder seinen persönlichen Wertvorstellungen zur Übereinstimmung bringen kann. Damit nehmen wir hypothetisch an, dass das Gewissen – als ein moralisches „Organ“ – Schaden nehmen könnte durch eigenes Tun oder Unterlassen. Diese Annahmen könnten aber ebenso für medizinische Laien bzw. Angehörige gelten, die den Suizid eines Anderen unterstützen. Vermutlich gelten diese Annahmen für Ärzte in besonderer Weise, da sie nicht nur als zivile Personen, sondern ausdrücklich als beruflich Handelnde zur Bewahrung des Lebens verpflichtet sind.
Die Heranziehung von Ärzten zur Mitwirkung an Patienten-Selbsttötung bedarf daher eines offenen Prozesses der Auseinandersetzung mit den Grundlagen und möglichen Grenzen dieses Lebens-Schutzgebotes; es muss untersucht werden, und zwar im Sinne einer offenen Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dieses Gebot Ausnahmen haben soll. Die legale Liberalisierung dürfte als Vorgang ungenügend sein, diesen Prozess zu leisten, auch wenn wie in Oregon breite öffentliche Debatten geführt worden sind. Es bedarf eines ethischen Dialogs innerhalb des gesamten Gesundheitswesens unter allen beteiligten Berufsgruppen, bevor diese für die heutige westliche Welt noch spürbare Tabu-Überschreitung differenziert und mit Vernunftgründen bewertet werden kann. Möglicher Weise hat dieser ethische Dialog in den Niederlanden bereits in angemessener Ausführlichkeit stattgefunden. Jedenfalls blicken niederländische Ärzte bereits auf 20 Jahre liberaler Praxis im Umgang mit der ärztlichen Unterstützung des Sterbens durch aktive Tötung auf Verlangen sowie ärztliche Beihilfe zum Suizid zurück. Da in diesem Land parallel auch die Medizinethik als die Disziplin und das Forum, wo diese Wertkonflikte bearbeitet werden können, ausgebaut wurde, finden wir hier eine sehr sorgfältige und fortgeschrittene Auseinandersetzung vor.

Eskalation zur Tötung auf Verlangen
Gleichwohl werden auch aus den Niederlanden Probleme mit der Durchführung der Suizidbeihilfe berichtet, die vor allem für andere Länder, in denen keine aktive Sterbehilfe zugelassen ist, von größter Bedeutung sind: Es handelt sich um Komplikationen bezüglich der Effektivität des Vorgehens, die – zumindest in den Niederlanden – Übergänge zu aktiver Sterbehilfe nach sich ziehen können. Groenewoud et al berichten (2000):
“Problems of any type were more frequent in cases of assisted suicide than in cases of euthanasia.”
Damit sind z.B. Probleme gemeint, dass die Patienten die vorgesehene tödliche Dosis nicht vollständig oder rechtzeitig einnehmen konnten, etwa weil sie das Bewusstsein verloren, mit der Folge, dass das Eintreten des Todes nicht gewährleistet war. In den Niederlanden kann dann unter Umständen eine Eskalation zur Tötung auf Verlangen gerechtfertigt sein. Wie wären solche Situationen in Oregon zu handhaben, wo diese Eskalation nicht zulässig, sondern strafbar ist, jedoch ein Arzt den Vorgang begleitet? Wie sieht das demgegenüber in einem Land wie der Schweiz aus, in der in der Regel gar kein Arzt bei der Selbsttötung anwesend ist?

Entweder – Oder
Die Liberalisierung und ärztliche Professionalisierung der Suizidbeihilfe eröffnet sicherlich Chancen zur Kontrolle einer Praxis, die ansonsten „im Untergrund“, mit erheblichen Belastungen und Risiken sowie Irrtumsanfälligkeiten für alle Beteiligten ablaufen würde. Sie erfordert aber auch die Chance, hier Lernprozesse zu ermöglichen. Man kann nicht eine Praxis in den Handlungsbereich der ärztlichen Profession verlegen und dann deren angemessene Ausübung tabuisieren; das wäre irrational und widersprüchlich. Die Entscheidung wird zwischen Entweder und Oder verlaufen müssen: Entweder wünscht man eine kompetente Handhabung; dann muss es eine „Kunst“ der Ausübung geben, oder man lehnt dies vollständig ab – mit den Folgen der Kriminalisierung oder Laisierung der Suizidbeihilfe.

3. Die Situation in der Schweiz

3.1 Zur öffentlichen Debatte und rechtlichen Situation
Die Themen des assistierten Suizids oder der (aktiven) Sterbehilfe werden in der Schweizer Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert. Im Gegensatz zu den Diskussionen über die Suizidbeihilfe, wie sie in Oregon, den Niederlanden oder anderen europäischen Ländern geführt werden und die sich auch in den Beratungen des Europarats niederschlagen, liegt der Fokus der schweizerischen Debatte jedoch bisher nicht primär auf der ärztlichen Mitwirkung an der Selbsttötung. Der Konflikt dreht sich hier vor allem um die Praxis von Laienorganisationen wie Exit oder Dignitas und anderen Gruppierungen, die sich die Erleichterung der Selbsttötung – ausdrücklich ohne Beteiligung der Ärzte – auf die Fahne geschrieben haben. So ermöglicht Exit den von ihren Vertretern so genannten „Assistierten Suizid“, indem sie Mitgliedern auf Wunsch eine tödliche Dosis Barbiturat (Secobarbital / Pentobarbital) verschafft. Exit z.B. handelt gezielt auf einer nicht-medizinischen Grundlage, lehnt die Beteiligung von Ärzten als „medizinischen Paternalismus“ ab und versteht ihre auf Laien gestützte Hilfe als Sterbe-Beistand.
Der assistierte Suizid ist in der Schweiz – wie übrigens in den meisten europäischen Ländern – nicht verboten. Gemäß Strafgesetzbuch, Art. 115, ist Beihilfe zum Suizid (das Schweizerische Bundesgesetz wurde 1942 etabliert; vorher existierten nur kantonale Gesetze) nur dann strafbar, wenn sie aus „selbstsüchtigen“ Motiven erfolgt. Kritiker der liberalen Praxis in der Schweiz wenden ein, dass diese Formulierung nicht geeignet sei, Missbrauch zu ahnden. Aktive Sterbehilfe hingegen ist in der Schweiz klar verboten (Strafgesetzbuch, Art. 114).
Die Ärzteschaft steht dem eher reserviert, zumindest ambivalent gegenüber, wobei sich Einzelne durchaus unterstützend an den von Laienorganisationen „moderierten“ Selbsttötungen beteiligen, indem sie das erforderliche Rezept ausstellen. Ärztliche Kompetenz steht laut Statuten nicht im Vordergrund der Laienorganisationen; sie steht ihnen auch nicht ohne Weiteres zur Verfügung. Die Kontroverse und Unsicherheit in der ethischen Beurteilung wird noch dadurch verstärkt, dass die Kantone ihre Freiheiten nutzen, voneinander deutlich abweichende Praxisformen zu etablieren und zu legalisieren. So ist die Stadt Zürich durch eine Regelung hervorgetreten, die vielfach als zu liberal und zu weitgehend kritisiert worden ist und auch in anderen Kantonen bisher kaum Nachahmung gefunden hat. Hier ist es erlaubt, als Bewohner einer Institution der Pflege (Einrichtungen des Gesundheits- und Umweltdepartements) Besuch von „Sterbehelfern“ der entsprechenden Laienorganisationen zu empfangen und unter bestimmten Bedingungen, die teilweise durch die internationalen Beispiele in den Niederlanden bzw. Oregon beeinflusst sein mögen, seine Selbsttötung durchzuführen. Erste Fälle, in denen solche Formen der Selbsttötung auch in Zürcher Kliniken erfolgt waren, wurden in den Medien überwiegend kritisch kommentiert und mit massiven Widerständen, insbesondere aus der Krankenhausseelsorge, unter Berufung auf die Beeinträchtigung von Mitpatienten beantwortet. Mit der Regelung wird festgelegt, dass die Selbsttötung in Pflegeinrichtungen auf eine Weise zu geschehen hat, die andere Bewohner des Heimes nicht beeinträchtigt; sie darf beispielsweise nicht im selben Zimmer mit einem anderen Bewohner/Patienten geschehen.
Im Unterschied zu kritischen Stimmen aus einer eher restriktiven Position wird aber auch der umgekehrte Vorwurf geltend gemacht, diese Zürcher Regelung sei mit einer unangemessenen „Bürokratisierung“ des Sterbens verbunden, leiste letztlich keinen Beitrag zum Lebensschutz und schränke die Freiheitsrechte der Betreffenden in inakzeptabler Weise ein: „Die Zürcher Regelung wird in der Praxis so restriktiv verstanden, dass das Kriterium der ‚unheilbaren Krankheit‘ (und der Beginn des Sterbevorgangs) vorausgesetzt wird, obwohl diese begriffliche Verengung der Sterbehilfe mit der materiell rechtlichen Zulässigkeit der Suizidunterstützung kollidiert“, schreibt der Jurist Gunther Arzt (2003, S. 589). „Die hier anhand des Zürcher Modells skizzierten formellen Kriterien lassen sich in fast beliebiger Weise ausbauen. Angesichts der vom BverfG (Bundesverfassungsgericht, Anm. SRT) dem demokratischen Gesetzgeber oktroyierten Bürokratisierung des Schwangerschaftsabbruchs erscheint mir die Bürokratisierung der Sterbehilfe unausweichlich. Auch diese Bürokratisierung wird die Beteiligten massiv belasten, ohne zum Schutz des Lebens wirklich etwas beizutragen. Wenn zum Schutz des Lebens so hohe bürokratische Lücken aufgebaut werden, dass sich der Sterbewillige zum Weiterleben gezwungen sieht, weil die administrativ-juristischen Hürden, die einer missbräuchlichen Sterbehilfe vorbeugen sollen, auch eine erlaubte Sterbehilfe zu mühsam machen, dann muss dies zur Konkurrenz zwischen legaler bürokratischer und illegaler unbürokratischer Sterbehilfe führen“ (Arzt 2003, S. 591f).
Es ist interessant, dass ein Jurist wie Gunther Arzt nicht etwa den Gedanken einer „Medikalisierung“ der Sterbehilfe oder der Suizidbeihilfe thematisiert und als Paternalismus kritisiert, wie die Laienorganisationen dies tun, sondern die „Bürokratisierung“ als einen Modus der Kontrolle anprangert, der eher in die Domäne der Rechtsgelehrten oder Ordnungspolitiker gehört als in die der Heilkundler. Dabei weist das Zürcher Modell durchaus eine Komponente der Medikalisierung auf, da neben anderen Aspekten auch eine fachliche Aufsicht oder Begleitung der Entscheidung zur Suizidbeihilfe vorgesehen ist: „Falls das ‚Betreuungsteam‘ (im Heim; Anm. SRT) Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Person hat, die einen organisierten Suizid plant, muss ein vom Heim unabhängiges Team (Arzt plus Pfleger) eingeschaltet werden. In allen Fällen ’sucht die Leitung … mit der suizidwilligen Person das Gespräch und empfiehlt ihr den Beizug einer unabhängigen Fachperson’“ (Arzt 2003, S. 588). Unter ausschließlich an Freiheitsrechten orientierten ethischen Überlegungen mag man diese Verfahrensregulierung oder Standardisierung kritisieren, sei es wegen ihres bürokratischen, medizinischen, paternalistischen oder professionalistischen Charakters. Unter dem Aspekt der Vermeidung von folgenschweren Irrtümern, z.B. über die wahrgenommene Ausweglosigkeit der Lage der suizidwilligen Person oder über ihre vermutete Entscheidungsfähigkeit und im Interesse einer Handlungssicherheit der Verantwortlichen in der Institution spricht dagegen viel für die Etablierung allgemeiner Regeln, die eine Prozeduralisierung bewirken und damit eine gewisse Unabhängigkeit von situativer und persönlicher Willkür erschließen können.
Aber selbst dann, wenn man das Freiheitsrecht der Selbsttötung grundsätzlich und auch in der Praxis respektiert und sich Modellen und Erfahrungen aus Oregon oder den Niederlanden öffnet, bleiben in der aktuellen Situation in der Schweiz – nicht nur in der Stadt Zürich – aktuell mehrere Brennpunkte bestehen, die zu ethischen Kontroversen Anlass geben und die nach einer Klärung und Befriedung verlangen.

Arzt-Suizidenten-Beziehung unverzichtbar
Es kommt vor und lässt sich – bisher – nicht ausschließen, dass der im Auftrag des Vereins das Rezept verschreibende Arzt den Antragsteller nicht kennt, nicht kennen lernt und auch die Krankenakte nicht studiert. Zu dieser Einschätzung kommen auch nach dem Untersuchungszeitraum der Pilotstudie von Frei et al (2001) weitere überregionale Arbeitsgruppen in der Schweiz.

Nochmals: Risiko der Eskalation
Fließende Übergänge oder Grauzonen zwischen assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe können auftreten, ohne dass es legale oder ethische Lösungen für die entstehenden Konflikte gäbe: Wenn – wie bei den von Groenewoud et al (2000) für die niederländische Praxis berichteten Komplikationen – nach der vollständigen  oder unvollständigen Einnahme des Mittels nicht der Tod, sondern etwa Bewusstlosigkeit eintritt, ist das weitere Vorgehen unklar oder zumindest konfliktbehaftet und stellt alle Anwesenden vor unlösbare Probleme. Eine „Nachhilfe“, die im Sinne des Sterbewunsches aktiv wird, dürfte den Tatbestand der verbotenen aktiven Sterbehilfe erfüllen, da zumindest die Tatherrschaft des Betreffenden (zweites Kriterium gegenüber der Entscheidungsfähigkeit) nicht mehr gegeben sein wird.

„Rettung“ als Komplikation
Aus derselben Komplikation des nicht eintretenden Todes bei versuchtem Suizid kommt es unter Umständen zum Rettungseinsatz mit nachfolgender Einlieferung in die Notaufnahme. Ein Mensch, der sein Leben „in Würde und Ruhe“ und selbstbestimmt beenden wollte, wird zum Patienten, der nicht sterben konnte und nun nach den Regeln ärztlicher Kunst behandelt und ggf. am Leben erhalten werden muss, auch wenn er bereits schwerst geschädigt sein mag. Auch für die Behandelnden und Pflegenden stellen sich hier Herausforderungen, in denen ethische Konflikte unvermeidlich sind. (Von diesen Überlegungen explizit ausgenommen sollen die verdienstvollen Bemühungen sein, Suizidenten zu retten, bei denen eine faire Chance besteht, dass sie nach ihrer Rettung, evtl. mit Hilfe von Behandlungsangeboten, wieder Hoffnung und Lebensmut schöpfen, was häufig der Fall ist.) Hier wären vorausschauende Orientierungshilfen, Handreichungen, Beratungsformen angezeigt.

Hilfestellung für alle Berufsgruppen
Die Berufsgruppe der Pflegenden fordert mit Recht ihre bisher unzureichende Beteiligung an der Diskussion über – ärztliche – Suizidbeihilfe ein; Ärzte, Pflegende und Psychologen verlangen entsprechende Hilfestellungen.1 Solche werden beispielsweise im Rahmen von Trainingskursen zum Klinischen Ethik-Konsil  erarbeitet (zum Ethik-Konsil siehe Reiter-Theil 2000, 2001, 2003, 2005b).

Krankenhäuser und Heime als „Gastgeber“?
Schließlich soll als Brennpunkt noch die Kontroverse erwähnt werden, ob die Sterbehilfe-Laienorganisationen Zugang zu Krankenhäusern erhalten sollen, wie dies in Pflegeinstitutionen in Zürich der Fall ist, oder nicht. Im Interesse einer Kontrolle und Begleitung mit ärztlicher Fachkompetenz – nach einer konsequenten Einzelfallprüfung – wäre diese Entwicklung diskutabel; aber gerade der „Anti-Paternalismus“ der Laienorganisationen dürfte dem im Wege stehen, wollen deren Repräsentanten doch ihre Kompetenz auf die so verstandene „Sterbegleitung“ nicht abgeben oder teilen. Aber als reine „Gastgeber“ und Erfüllungsgehilfen für Suizide und die entsprechenden Vereine sollten Krankenhäuser aus ethischen Gründen ausscheiden; sie würden sonst ihre Hoheit und Verantwortung über Handlungen für und „an“ den ihnen anvertrauten Patienten abgeben. Demgegenüber hat eine Umfrage der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) erbracht, dass bis auf ein Universitätsspital (Lausanne) noch keine Klinik offiziell den assistierten Suizid mit Hilfe von Laienhelfern erlaube (www.SAMW.ch).

3.2 Ethische Brennpunkte im Lichte von zwei Studien zur Suizid­bei­hilfe

I. Die Praxis von Exit
Bis heute ist die Pilotstudie (Frei et al 2001) über 43 konsekutive Exit-Suizide in der Region Basel aufschlussreich, auch wenn erste Anzeichen dafür bestehen, dass Exit bestimmte dort artikulierte Vorbehalte gegenüber ihren Vorgehensweisen aufgenommen hat. Zum Untersuchungszeitpunkt stellten die Autoren fest, dass Exit die Begehren verschiedener Interessenten auf Suizidassistenz akzeptiert und umgesetzt hatte, die gar nicht den in ihren eigenen Statuten formulierten Bedingungen entsprachen. Diese Statuten sehen und sahen bereits in den Neunzigerjahren vor, dass Suizidassistenz nur dann gewährt wird, wenn die Person schwer erkrankt und leidend ist und wenn davon auszugehen ist, dass sie ihre Entscheidung aus freien Stücken gebildet hat. Dem gegenüber schreiben Frei et al (2001), dass
– in 26 % der retrospektiv untersuchten Fälle keine ernsthafte behindernde oder terminale Erkrankung (laut Akten) festzustellen war, hingegen
– in 14 % frühere psychiatrische Behandlungen laut Krankengeschichte vorlagen, die jedoch vom Suizidenten nicht erwähnt worden waren;
– des Weiteren wurde erkennbar, dass die auch hier für das Ausstellen des Rezeptes notwendige ärztliche Mitwirkung ohne Standards und Kontrolle erfolgte (Frei et al 2001)

Laienorganisationen und „medizinischer (Anti-) Paternalismus“
Besonders der letzte Punkt gibt Anlass zum Nachdenken, denn die beiden ersten könnten durch entsprechende Sorgfaltsmaßnahmen „technisch“ abgemildert oder gelöst werden. Was ist davon zu halten, wenn Laienorganisationen eine Hilfe anbieten, die frei von medizinischem Paternalismus sein soll, aber aus offensichtlichen Gründen dennoch auf die Mitwirkung von Ärzten angewiesen bleibt? Diese Ärzte wiederum müssten, um – auch wenn man dies medizinethisch kontrovers beurteilen kann – fachlich einigermaßen kompetent und ethisch vertretbar zu handeln, die Person (um den Ausdruck „Patient“ zu vermeiden) sehen, sprechen und sich davon überzeugen, dass hier nicht vordringlich „andere Hilfe“ als Suizidassistenz angezeigt wäre. Dies trifft jedoch laut den Studienergebnissen keineswegs selbstverständlich zu.

Ärztliche Sorgfaltspflichten
Bis heute kommen Fälle vor, in denen das Rezept ohne Kenntnis des Arztes der Person, ohne diesbezügliche Vergewisserung über die immerhin medizinischen Voraussetzungen – wie terminale Krankheit und schweres Leiden – an die Adresse der Laienorganisation ausgestellt werden. Wie sollte es auch anders sein, lautet hier die provokative Frage: Stellen wir uns vor, ein Arzt möchte höhere Standards realisieren und untersucht den Patienten, kommt aber zu einer zweifelhaften Einschätzung, die dieser nicht übernehmen will. Oder: Der Arzt kommt zu einer Übereinstimmung mit dem Antragsteller, dass dessen Leiden durch Suizidassistenz ein Ende gesetzt werden soll und darf. In beiden Fällen wird er sich in einen Vorgang verwickeln, der sich belastend entwickeln und konflikthaft eskalieren könnte, der von seiner Fachgesellschaft wahrscheinlich ambivalent, wenn nicht ablehnend beurteilt wird, ihm Schaden an seiner Reputation einbringen kann, und mit dem er selbst auch kaum ins Licht der Öffentlichkeit geraten möchte.

Ambivalenz und Kooperation
Soll die Schlussfolgerung daraus lauten, dass schweizerische Ärzte gut daran täten, dass sie – wenn sie aus Überzeugung das Freiheitsrecht der Selbsttötung unterstützen wollen – dies heimlich und hinter verschlossenen Türen, und vor allem praktisch anonym ohne Kontakt zu der bedürftigen Person durchführen sollten? Dies bringt sie jedoch in Widerspruch zu den Idealen der Arzt-Patienten-Beziehung, die ja auch dann gelten sollen, wenn „der Patient“ mündig und momentan nicht behandlungsbedürftig ist oder eine vorgeschlagene Behandlung vielleicht ablehnt. Der Widerspruch zwischen der öffentlichen Ambivalenz der Ärzteschaft einerseits und der inoffiziellen Kooperation mit den Befürwortern des assistierten Suizids ist jedoch gut belegt.

II. Die Schweiz im europäischen Vergleich
Eine bekannte niederländische Arbeitsgruppe um van der Maas initiierte eine Kooperationsstudie zum Vergleich der Praxis der Sterbehilfe bzw. Suizidbeihilfe in fünf Ländern der Europäischen Union mit ganz unterschiedlichen Traditionen – Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Schweden – und der Schweiz, die sogenannte EURELD Study (van der Heide et al 2003). Greifen wir zunächst die Zahlen aus der Schweiz über die Todesfälle, die durch assistierten Suizid erfolgen, heraus: 0,4 % aller Todesfälle in der Deutschschweiz erfolgen durch assistierten Suizid, das sind 200 Fälle pro Jahr. Im Gegensatz zu Oregon, wo es sich stets um ärztlich assistierte Suizide nach dem oben beschrieben Verfahren handelt, sind diese von Ärzten unterstützten, oder besser gesagt begleiteten Selbsttötungen in der Schweiz sehr selten: 92 % aller dokumentierten assistierten Suizide im Untersuchungszeitraum in der Schweiz waren durch Laienorganisationen zustande gekommen.
Die Autoren berichten aber auch über Fälle von aktiver Sterbehilfe, nicht nur in den Niederlanden, wo diese legalisiert erfolgen kann, sondern auch in der Schweiz, wo diese verboten ist; sie fanden eine gegenüber der bereits relativ hohe Zahl von assistierten Suiziden doppelte Zahl von Fällen illegaler aktiver Sterbehilfe, also 400 pro Jahr in den retrospektiv ausgewerteten Krankenakten (van der Heide et al 2003). Auch dieser Befund stützt die Einschätzung, dass die Ärzteschaft hier die Schwierigkeit hat, gleichsam „in zwei Welten“ zu leben und zu handeln, in der offiziellen einerseits und der inoffiziellen andererseits. Eine solche Situation setzt die Betreffenden enormen Widersprüchen und Konflikten aus, die sich sehr belastend auf die berufliche und persönliche Haltung auswirken dürften.
Die Ergebnisse der EURELD-Studie wurden in den Schweizer Printmedien rezipiert, jedoch ohne große Erregung.2 In der Berichterstattung und Kommentierung wurde die Praxis der Suizidbeihilfe in der Schweiz erwähnt, z.B. dass die Schweiz hier „international die Spitzenreiterrolle innehat“ (s. Fußnote 2, Nr. 1). Die in der Schweiz doppelt so häufig dokumentierte illegale aktive Sterbehilfe (gegenüber der nicht verbotenen Suizidbeihilfe) wird unter Berufung auf einen Rechtsmediziner relativiert in dem Sinne, dass es bei der aktiven Sterbehilfe in der Schweiz meistens nicht um die Verkürzung des Lebens um Wochen oder Monate gehe, sondern höchstens noch um Stunden (s. Fußnote 2, Nr. 2).

Ethische Kriterien
Aus der Perspektive der Ethik in der Medizin wären allerdings viel eher qualitative ethische Kriterien zur Rechtfertigung geeignet: nämlich Kriterien wie
– dass der Patient oder sein legitimierter Stellvertreter dies so gewünscht hätten
– dass unerträgliches Leiden des Patienten Linderung verlangt habe
– dass der Sterbeprozess bereits im Gang gewesen sei und nicht habe verlängert werden sollen oder
– dass auf diese Weise Wertvorstellungen des Patienten und evtl. seiner Bezugspersonen auf ein Sterben in Würde besser hätten realisiert werden können
„Quantitative Kriterien“ (z.B. „nur wenige Stunden“) sind wenig geeignet, bei prinzipiellen ethischen Fragen zur Klärung und Legitimation beizutragen, der Versuch wirkt eher so, als werde der Wertkonflikt nicht anerkannt. Auch unter restriktiven normativen Bedingungen sind Rechtfertigungen z.B. für eine Leidenslinderung, die ein vorzeitiges Versterben des Patienten „in Kauf nimmt“, möglich; es ist weder notwendig noch angemessen, die auf dem Spiel stehenden ethischen Fragen argumentativ einzusparen oder auszulassen.

4. Relevante Befunde aus empirischen Studien zum Umgang mit  Sterben und Tod

Was wissen wir über die Einstellungen der Bevölkerungen zu diesen Fragen? Schröder und Ko-Autoren (2003) haben in einer repräsentativen Befragung in Deutschland herausgefunden, dass die Akzeptanz verschiedener Formen der Sterbehilfe sowie der Beihilfe zum Suizid in der Bevölkerung differenziert und teilweise ambivalent bis ablehnend ausfällt. Damit wollten sie Meinungsumfragen, die auf einer eher reduktionistischen Basis voreilig von einer Akzeptanz der Tötung auf Verlangen berichteten, falsifizieren. Schröder und Coautoren fanden in ihrer Befragung heraus, dass etwas mehr als die Hälfte des repräsentativen deutschen Bevölkerungsquerschnitts die Beihilfe zur Selbsttötung als Aufgabe des Arztes ansieht, während etwas weniger als die Hälfte dem widerspricht. Es gibt jedoch, unabhängig von Ausbildungsstand, Alter und sogar Gesundheitszustand kaum – nur zwischen 3 und 6 Prozent –  Befragte, die sich zu dem Zeitpunkt vorstellen können, selbst ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. Die Vorstellung, man werde die eine oder andere Form der Begleitung selbst weder brauchen noch wünschen, muss also nicht bedeuten, dass man deren Zulässigkeit kritisch beurteilt. Die Ergebnisse belegen vielmehr, dass die deutsche Bevölkerung in weiten Teilen die Auffassung vertritt, man solle auch Dinge zulassen und regeln, die man selbst gar nicht in Anspruch nehmen möchte. Schröder und Ko-Autoren bezeichnen dieses Hauptergebnis mit Recht als ein nicht polarisiertes, sondern „differenziertes öffentliches Meinungsbild zum Thema ärztliche Sterbehilfe“.

Sind empirische Daten ethisch relevant?
Was folgt aber aus einem empirischen Befund, dass ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung diese oder jene Präferenzen in Bezug auf ein so persönliches und sensibles Thema wie Sterben hat? Können und sollen empirische Ergebnisse überhaupt Wirkung auf normative und ethische Beurteilungen haben? Sie können, sofern die Bedingungen und die Ebenen differenziert werden. Die Antworten von Personen, die Autonomie bzgl. ihrer eigenen Existenz innehaben, zu existenziellen Fragen sind ethisch relevant, nicht beliebig. Diese Antworten müssen ernst genommen werden, beispielsweise von der Politik und vom Gesetzgeber, der Lebensformen häufig nachträglich in geltendes Recht zu verwandeln hat. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass nicht jedwede Mehrheits- oder „Minderheitsmeinung“ geeignet ist, in das Rechtssystem eines Gemeinwesens aufgenommen zu werden; die Beurteilung dieser Frage hängt u.a. auch davon ab, ob eine Position mit der Verfassung des Staates kompatibel ist, wie es um den Schutz von andersdenkenden Minoritäten bestellt wäre usw.
Empirische Ergebnisse sollen auch von der Ethikdiskussion zur Kenntnis genommen werden; nur so kann gewährleistet werden, dass Realität und ethische Reflexion in einem dynamischen Naheverhältnis stehen und bleiben (Reiter -Theil 2004b). Ein renommierter Vertreter der amerikanischen Medizinethik, Experte für Fragen am Lebensende, Daniel P. Sulmasy, hat eine interdisziplinäre Ethik-Forschung zu Fragen der Sterbehilfe und Suizidbeihilfe gefordert (2001), die „hinter die Zahlen“ schaut, die auf empirische Daten baut und Bezug nimmt, aber vornehmlich spezifische Einsichten erbringt, die auf qualitativen Forschungsverfahren basiert (S. 258).
Vermeintlich einfache „Ableitungen“ von ethischen Folgerungen aus Fakten stellen jedoch klassische Denkfehler und Fehlschlüsse dar, die zu vermeiden sind. Wenn aber Studien beispielsweise enthüllen, dass stillschweigend oder offen gegen geltendes Recht verstoßen wird, ohne dass dieses Konsequenzen hätte, so ist dies ein ernst zu nehmender Anlass für eine öffentliche Debatte; diese Debatte sollte dem Ziel dienen, einem naturwüchsigen Auseinanderdriften zwischen Norm und Wirklichkeit eine Alternative entgegenzusetzen. Andernfalls müsste man sich als Bürger einer demokratischen Gesellschaft, deren Grundwerte Verteidigung verdienen, dafür mitverantwortlich fühlen, wenn die für alle verbindlichen Grundlagen dieses Gemeinwesens unterhöhlt würden, wenn Gesetze nur als ungefähre Anhaltspunkte, über die man sich bei Bedarf auch hinwegsetzen kann, betrachtet würden, ohne dass man sich der Anstrengung unterzieht, für eine vielleicht notwendige Reform der Gesetze auch aktiv einzutreten.

5. Hilfe­stel­lungen für die ethische Orien­tie­rung – Rechts­normen und medizi­nisch-e­thi­sche Richtlinien

Welche Hilfestellung für die ethische Orientierung bieten nationale oder grenzüberschreitende Richtlinien? Gesetze werden unsere ethischen Fragen in der Regel nicht beantworten, sondern uns lediglich Leitplanken für die Grenzziehung zwischen dem Zulässigen und dem Verbotenen, dem Strafbaren bieten; steuern und lenken müssen wir selbst. Gerade in der Medizin und besonders an der Grenze zwischen Leben und Sterben, zwischen einer Hilfe als Lebenserhaltung und einer Hilfe als Sterbeerleichterung, wartet man wohl vergeblich darauf, durch einfache juristische Konzepte von Verantwortung oder Fehlbarkeit befreit zu werden.
Schüttauf (2003) zeichnet in seiner rechtshistorischen Untersuchung zum Suizid nach, wie die Tradition der Freiheit zur straflosen Selbsttötung in der deutschen und französischen Aufklärung entstanden ist und Schritt für Schritt rechtlich durchgesetzt wurde: im Jahr 1751 durch Friedrich II in Preußen und 1791 durch das Revolutionsparlament in Frankreich, schließlich 1870 im neuen Reichsstrafgesetzbuch für das gesamte Deutsche Reich (S. 90). Konsequenterweise fällt heute nach herrschender Meinung nicht die Mitwirkung als solche an einer Selbsttötung, die ja straffrei ist, unter das Strafgesetz. Wenn überhaupt eine Strafbarkeit geltend gemacht wird, dann ist es die anschließend unterlassene Hilfeleistung, sobald der Suizident die Kontrolle über den Tathergang verloren hat, die den Beteiligten – insbesondere den Arzt –  zur Rechtfertigung zwingt.
Das Unterlassen einer Hilfeleistung (der Versuch der Lebensrettung) kann laut einem Urteil des (Deutschen) Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1954 (Schüttauf, S. 95, Fußnote 29) demnach ebenso wie ein Tun (die Tötung) bestraft werden, „wenn der Nicht-Handelnde eine sogenannte Garantenstellung einnimmt“, schreibt Schüttauf (S. 96). Wenn ärztliche Fachgesellschaften oder standesethische Kodizes die ärztliche Beteiligung an einer Selbsttötung grundsätzlich und ohne Ausnahme ächten, verbieten     oder als strafbar behandeln, so stützen sie ihre Position analog zu dieser Argumentationslinie ab. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass diese Argumentationslinie in der Scientific Community des Strafrechts – jedenfalls des deutschsprachigen – keine ungeteilte Zustimmung findet, im Gegenteil: „Gegen diese vom Bundesgerichtshof vertretene Konstruktion richtet sich nun die heftige Kritik der ganz herrschenden Lehre“, so Schüttauf (S. 96). Trotz der eigenen und unabhängigen Rechtsgeschichte der Schweiz finden wir genau diesen Konflikt, der als so typisch für die deutsche Debatte über die Beihilfe zum Suizid in der Ärzteschaft, der Jurisprudenz und in der Öffentlichkeit gelten kann, auch hier wieder, und zwar in der aktuellen Diskussion ihrer einschlägigen Richtlinien.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ist in den letzten Jahren mit einem hohen Engagement für medizinisch-ethische Richtlinien hervorgetreten und hat hier wegweisende Arbeit geleistet. Für die ärztliche Beihilfe zum Suizid relevant waren zunächst die „Medizinisch-ethischen Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerstgeschädigter Patienten“ vom  24.2.1995. In der Zwischenzeit wurde aus guten Gründen eine Revision dieser Richtlinien vorgenommen, um die Behandlung der Patientengruppe der „zerebral schwerstgeschädigten Patienten“ von derjenigen der „sterbenden Patienten“ zu unterscheiden (Bartels et al 2005). Mit der Ausdifferenzierung wurde die Frage der ärztlichen Mitwirkung an einem Suizid auf den zweiten Teil der revidierten Richtlinien verwiesen. Im Text der „alten“ Richtlinien lautete die Position der SAMW zum ärztlich assistierten Suizid noch:
– „Beihilfe zum Suizid ist kein Teil der ärztlichen Tätigkeit. Der Arzt bemüht sich, die körperlichen und seelischen Leiden, die einen Patienten zu Suizidabsichten führen können, zu lindern und zu ihrer Heilung beizutragen.“
Nach einer Übergangslösung für 2003 und 2004 mussten sich Ärzte in der Schweiz mit dem Konflikt zwischen einer traditionell angestammten Ächtung einer ärztlichen Mitwirkung am Suizid einerseits und einer andererseits herauf dämmernden Toleranz oder sogar möglichen Befürwortung einer Haltung auseinandersetzen, nach der es unter Umständen eine ethische Pflicht sein mag, einen Menschen in seiner Selbsttötung ärztlich zu begleiten, statt ihn sich selbst (allein) oder aber Laienhelfern zu überlassen. Wer nicht als diskreter Kooperationspartner der Laienorganisationen nur im Hintergrund ein Rezept ausstellt und anschließend seine Hände in Unschuld wäscht, sondern sich im Sinne einer „sprechenden Beziehungsmedizin“ (um diese Schlagworte zu verwenden) dem Leidenden zuwendet und ihm zugewandt bleibt, bis dieser verstorben ist, der riskierte bislang unter Umständen nachteilige Folgen schwer zu kalkulierenden Ausmaßes.
Dieser Konflikt, der sich in Deutschland ähnlich oder noch gravierender darstellt, ist selbst ein ethisches Problem, weil er widersprüchliches Verhalten, inkonsistente Bewertungen und jenen Verlust an Vertrauen in die Ärzteschaft mit sich bringt, den zu verhindern die Ächtung der ärztlichen Suizidbeihilfe ja gerade angetreten war.
In der Revision findet sich die Formulierung:
– „Diese Dilemma Situation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen.
– Entschließt er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen:
Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist.
Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt.
Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss.“
Wir erkennen, dass die Richtlinie sich an das Oregon-Modell anlehnt (wofür die Autorin in der Vernehmlassung zur Revision plädiert hatte), wenn auch die Ausführungsbestimmungen noch relativ undeutlich bleiben. Wenn die SAMW heute davon ausgeht, dass ihre neue, revidierte Fassung der „alten“ Richtlinien zur Sterbegeleitung die Suizidbeihilfe nicht mehr kategorisch aus der ärztlichen Tätigkeit ausschließen soll, so wird damit ein großer Schritt getan zugunsten einer transparenten und verantwortungsvollen Handhabung dieser „umstrittensten Frage der Menschheit“ (wie es Schüttauf 2003 einmal formulierte). Diese Haltung wird auch dann gelten und helfen können, wenn der eine Arzt den entstehenden Bewertungs- und Entscheidungsspielraum restriktiv, der andere diesen nutzen will. Wenn die SAMW diesen Schritt tut, so bedeutet dies zugleich eine erkennbare Umorientierung in Bezug auf die Prioritätenordnung der zentralen ethischen Prinzipien. Sie entscheidet in dieser Frage anscheinend zugunsten des Primats der Selbstbestimmung und des Respekts vor der Autonomie gegenüber dem ärztlich-wohlmeinenden Helfen-Wollen und den Pflichten der Schadensvermeidung und des Lebensschutzes, denen traditionell Vorrang eingeräumt worden war (Beauchamp, Childress 1994). Sofern die neuen Medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW diese Entscheidung noch vor allem dem Gewissen des einzelnen Arztes anheim stellen, so bleibt der wichtige Bereich der „prozeduralen Ethik“, also die Einrichtung allgemeiner und transparenter Regeln für Entscheidungsfindung und Handhabung noch zu leisten.
Hinsichtlich einer „prozeduralen Ethik“ oder einer allgemeinen Orientierung beim Vorgehen im Einzelfall wurde die bisherige Diskussion in der Öffentlichkeit, in Fachkreisen wie auch in den Medien m.E. noch nicht konkret genug geführt. Erste Ansätze dazu sind z.B. in Basel (Universitätsspital) in Arbeit. Wir sollten aus dem internationalen Vergleich vor allem Folgendes lernen: Diese sensiblen Fragen zwischen Leben und Sterben können nur mit gemeinsamer Anstrengung aus dem emotional besetzten Tabubereich in die Sphäre vernünftiger Argumente geführt werden. Entscheidungen in diesem Bereich – wenn sie fallen müssen – sollten nicht im Verborgenen und von „einsamen Verantwortlichen“ getroffen werden, sondern auf der Grundlage von Regeln der Urteilsfindung im Einzelfall, die kontinuierlich überprüft werden können. Hierzu bedarf es eines „Protokolls“ über die von der SAMW empfohlenen Kriterien, wann denn überhaupt die besagte „Ausnahme“ von der Zurückhaltung vor einer ärztlichen Suizidbeihilfe vertretbar erscheint. Dies ist eine Aufgabe, die beteiligten Disziplinen und Berufsgruppen in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Patientenversorgung noch zu leisten haben.
Es ist anzunehmen, dass es vielen Ärzten und Ärztinnen dennoch schwer fallen dürfte, diese Umorientierung in der Konsequenz einer ärztlichen Mitwirkung am Suizid mit zu vollziehen – so wie es auch für die Vertreter der Medizinethik im Konsil keineswegs einfache Diskurse werden; aber generell, so dürfen wir annehmen, ist die Zeit in der Schweiz jetzt reif dafür, die Widersprüche und die Polarisierung, die sich zwischen (Teilen der) Bevölkerung samt Laienorganisationen auf der einen Seite und Ärzteschaft auf der anderen Seite verfestigt hatten, zugunsten einer Verständigung und kompetenten Mitverantwortung auszuräumen.
In diesem Prozess einer Dialogentwicklung wird die ethische Reflexion als Entscheidungshilfe auf die Probe gestellt. Sowohl die Regelung der ärztlichen Suizidbeihilfe in Oregon als auch das Amsterdam-Modell sehen ausführliche Konsultationen der Ärzte vor den Entscheidungen pro oder contra Zulassung und Mitwirkung vor. Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen der Suizidbeihilfe sind in den beiden Ländern durch die Gesetzgebung dahingehend beantwortet worden, dass die Praxis unter den bestimmten Bedingungen zulässig, also gerechtfertigt ist, dass aber jeder einzelne Arzt, jede einzelne Ärztin seine bzw. ihre Entscheidung selbst zu treffen und zu verantworten hat. Dies enthebt die beteiligten Ärzte nicht etwa der Herausforderung, ethisch abzuwägen und zu argumentieren – im Gegenteil. Sowohl in Oregon als auch in den Niederlanden wird der Medizinethik als Teil der ärztlichen Kompetenz z.B. in der Ausbildung große Bedeutung beigemessen. Für den Fall, dass in der Schweiz mit einer eingeführten Praxis der Suizidbeihilfe durch Laienorganisationen, die von der Ärzteschaft vielleicht als „halb-offiziell toleriert“ gesehen wird, Entscheidungskonflikte auftreten, so gibt es (abgesehen vielleicht vom Verfahren der Stadt Zürich) bisher keine verlässlichen Regeln, nach denen vorzugehen wäre. Hier können interdisziplinäre Beratungsmodelle wie das Ethik -Konsil helfen, das zunehmend in und von Kliniken aufgebaut bzw. angefragt wird (Reiter-Theil 2000, 2001, 2003, 2005). Ethik -Konsile werden gerade für Fragen in den Grauzonen zwischen Lebenserhaltung und Sterbebegleitung oder Entscheidungen der Therapiebegrenzung in Anspruch genommen, und auch in Ländern mit sehr restriktiver Praxis der ärztlichen Suizidbeihilfe wie Deutschland gehören hier durchaus Probleme um einen Sterbewunsch und die mögliche Suizidalität des Patienten dazu (2003).

6. Fazit: Folgerungen für die Praxis in der Schweiz

Aus den dargestellten Studien, Medien- und Erfahrungsberichten ist erkennbar geworden, dass in der Schweiz zurzeit Irrtum, potenzieller Missbrauch und gesellschaftliche Fehlentwicklungen bezüglich des assistierten Suizids noch nicht gänzlich auszuschließen sind. Insbesondere ist die faktische ärztliche Mitwirkung am assistierten Suizid in der Praxis weder transparent genug, noch ausreichend allgemein geregelt und bietet daher eine ethisch unbefriedigende Situation, die nach Bereinigung und Veränderung verlangt. Anzunehmen ist, dass – auch im Vergleich mit den internationalen Beispielen wie Oregon und den Niederlanden – medizinisch-klinische und ethische Kompetenz erforderlich sein werden, um diese Probleme zu lösen. Die Medizin sollte daher die Begleitung von Suizidenten nicht weiter allein den Laienorganisationen überlassen. Zu diesem Schluss ist auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften gekommen, die mit ihren neuen Medizinisch-ethischen Richtlinien 2004 eine entsprechende Umorientierung in ihren kommenden Richtlinien initiiert hat. Beim gegenwärtigen Diskussionsstand muss allerdings festgehalten werden, dass es nicht genügt, die Gestaltung des Vorgehens bei der Entscheidung dem einzelnen Arzt zu übertragen. Es ist unbedingt erforderlich, für den konkreten Einzelfall, in der privaten Praxis wie auch in Institutionen, Kliniken und Pflegeheimen, rechtzeitig eine offene Klärung einzuleiten, ob überhaupt, und wenn ja, mit welchem Vorgehen eine ärztliche Suizidbeihilfe möglich sein soll. Dazu gehört, dass die Verfahrensregeln und Sorgfaltspflichten formuliert und in eine Reihenfolge gebracht werden. Sofern dies nicht geleistet wird, können die von der SAMW formulierten Kriterien von sich aus keine ethische Orientierung entfalten, geschweige denn eine ethisch angemessene Praxis gewährleisten. Verantwortliches Handeln, gerade an den Grenzen von Tabus und Wertkonflikten ist auf transparente Regeln zu stützen.
Mit einer verantwortungsvollen Beteiligung der Medizin wird v.a. der Gefahr einer irrtümlichen Selbsteinschätzung von Betroffenen vorgebeugt, die mit Hilfe ärztlicher Zuwendung u.U. Alternativen zu einem Suizid wahrnehmen können; auch die Interessen und Einflüsse Dritter auf den Suizidwilligen können auf diesem Wege ggf. moderiert werden. Die Problematik einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung – Stichwort Entsolidarisierung – kann allerdings nicht der Medizin anheim gestellt werden. Hier braucht es breit angelegte Aufklärung und Maßnahmen.
Zwei Fachgesellschaften, die von ihrem Aufgabenspektrum grundsätzlich eher zu den Repräsentanten der Vorbehalte gehören dürften, die Schweizerische Gesellschaft für Rechtsmedizin und die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie, haben die Problematik im Jahr 2003 auf ihren Jahrestagungen offen thematisiert  und die hier vorgestellten Schlussfolgerungen konstruktiv diskutiert.3 Es ist zu hoffen, dass die Patientenorientierung, die Nachdenklichkeit und Vorurteilsfreiheit, mit der dort diskutiert werden konnte, beispielgebend wirken wird und einer allgemein zustimmungsfähigen Lösung den Boden bereiten kann. Es ist sehr zu hoffen, dass internationale und vergleichende Perspektiven für die Handhabung dieser schwierigen ethischen, rechtlichen und vor allem auch praktischen Fragen lehrreich sein können, um Irrtümer und Fehler zu vermeiden und Möglichkeiten für ehrliche und transparente Regelungen zu reflektieren.
 
 
1    Ich danke den TeilnehmerInnen am Ethik-Seminar (2003) des Städtischen Klinikums Nürnberg für ihre engagierte und differenzierte Diskussion des Themas.
2   „Brisante Zahlen zur aktiven Sterbehilfe in der Schweiz.“ TAGES-ANZEIGER, 19. Juni 2003, S. 1; „Gefragt oder ungefragt vom Arzt getötet.“ TAGES-ANZEIGER, 19. Juni 2003, S. 11
3    „In der Schweiz ist Sterbehilfe normal.“ BASLER ZEITUNG, 19. Juni 2003

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