Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Selbst­be­stim­mung vor dem Lebensende

Der Mangel an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und staatlicher Verantwortung in der Altenpflege .

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.100-107

 „Ich bring’ mich um! Ich bring’ mich um!“, schnaubt die ältere Frau. Sie läuft mit ihrem Gehwagen über die langen Flure eines Altenwohnheims – irgendwo in Deutschland. Sie dreht ihre tägliche Runde und bringt dabei wiederholt – mal lautstark, mal eher im Selbstgespräch versunken – Gefühle zum Ausdruck, die für unsereins Drohungen gleich kommen. Diese Worte lassen uns aufhorchen, genauso sehr, wie sie bei uns Unwohlsein verursachen.
Was bringt diese Frau dazu, die sich im so genannten Dritten Lebensalter befindet, solch fatalistische Gefühle zu entwickeln? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Dritten und Vierten Lebensalter, in dem viele unserer Mitmenschen hilfe- und pflegebedürftig werden oder sind und dem Lebensende, dem diese Publikation besondere Beachtung schenkt? Widmen wir der Situation der zwei Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland und der menschenrechtlich erforderlichen Gewährleistung ihres Rechts auf Selbstbestimmung und ihren anderen Rechten hinreichend Aufmerksamkeit?
Mit der aktuellen öffentlichen Diskussion über Sterbebegleitung, Sterbenlassen oder Patientenverfügung verbinden sich existenzielle Fragen, die seit vielen Jahren zu Recht eine beachtliche Aufmerksamkeit erhalten.1 Es geht im Kern um das Verhältnis des Rechts auf Selbstbestimmung und des Rechts auf Leben; darüber hinaus geht um die Frage, welche Rolle dem Staat bei ihrer Gewährleistung zukommt. Bei der Suche nach den „richtigen“ Antworten wird enorm viel diskutiert und gestritten, denn es dabei prallen scheinbar wenig konsensfähige, weltanschaulich sehr differente Positionen aufeinander. Nimmt man allerdings den unmittelbaren Lebensabschnitt vor dem Lebensende – also die Abschnitte des so genannten Dritten und Vierten Lebensalters – in den Blick, so entsteht im Vergleich der Eindruck, dass das Recht auf Selbstbestimmung in der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht denselben Stellenwert genießt. Gemeint ist damit nicht die Geringachtung im normativen Sinne. Es besteht Einigkeit darüber, dass Selbstbestimmung immer gleich wichtig ist. Vielmehr – und das ist der tragende Gedanke dieses Essays – uns fehlt derzeit die notwendige gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Wahrnehmung staatlicher Verantwortlichkeiten für die Menschenrechte älterer Menschen mit Pflegebedarf. Aber gerade hier fordern uns die gegebenen Realitäten in Deutschland besonders heraus.
In Deutschland leben ungefähr fünf Millionen hilfe- und pflegebedürftige Menschen. Zirka zwei Millionen Frauen und Männer davon sind als pflegebedürftig im gesetzlichen Sinne anerkannt. 1,6 Millionen von ihnen sind älter als 60 Jahre. 1,4 Millionen von allen Pflegebedürftigen sind Frauen. Ihr Anteil unter den Pflegebedürftigen nimmt mit den Altersstufen über 75 Jahre zu. Aus Gründen der Demografie wächst die Anzahl derer, die altersbedingt pflegebedürftig sind. Bezogen auf die älteren pflegebedürftigen Personen sprechen wir also schon heute über eine große Gruppe dieser Gesellschaft, die in Zukunft immer größer wird. Für sie spielen die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung eine besonders wichtige Rolle. Warum?
Pflegebedürftigkeit im Alter kennzeichnet eine Lebenssituation, die grundsätzlich als verletzlich angesehen werden muss. Die individuellen Möglichkeiten zur selbständigen Lebensführung und sozialen Teilhabe können meist altersbedingt nur mit Hilfe und Pflege aufrecht erhalten oder wieder hergestellt werden. In vielen Fällen geht die persönliche Selbständigkeit allerdings schrittweise verloren. In diesem Zuge können multiple einseitige und bevormundende Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Außerdem ist es in der Situation der Pflegebedürftigkeit um ein Vieles schwerer, sich mit anderen für die Durchsetzung gemeinsamer Interessen zusammen zu schließen.
Gesellschaftspolitisch bedeutsam ist, dass Pflegebedürftige hierzulande kaum eine nennenswerte politische Lobby haben. So irritierend diese Feststellung auf den ersten Blick sein mag, aber spätestens im Vergleich zu den anderen professionell organisierten und überaus mächtigen Akteuren im Bereich Pflege wie den Leistungsträgern, Leistungserbringern und ihren Verbänden, wird die strukturelle Schwäche dieser Gruppe sehr leicht kenntlich. Angesichts dieser Ausgangslage wird deutlich, dass die Menschenrechte älterer Personen in Pflege eine Art „Lobby-Ersatzfunktion“ haben. Das bedeutet mit anderen Worten, dass dem Staat, der einen fairen politischen Prozess freier politischer Kräfte garantieren soll, in Ergänzung dazu zusätzlich ein Bündel menschenrechtlich begründeter Staatenpflichten auferlegt wird um die Interessen der älteren Personen mit Pflegebedarf besonders zu schützen.
Dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung staatlicher Verantwortlichkeit für die Situation von älteren Menschen mit Pflegebedarf zu gering ist, kann an einigen Beispielen beleuchtet werden. Im Jahre 2001 beispielsweise brachte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nach der Prüfung des offiziellen vierten Staatenbericht Deutschlands seine “große Besorgnis über die menschenunwürdigen Zustände in Pflegeheimen (…), die auf strukturelle Mängel im Pflegebereich beruhen” zum Ausdruck.2 Der internationale Fachausschuss empfahl der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zuge ausdrücklich, “Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Situation von Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen” zu ergreifen.
Wie kam es dazu? Zwei deutsche Nichtregierungsorganisationen brachten in ihren Parallelberichten das Thema Altenpflege in Deutschland vor das internationale Fachgremium. Der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland räumte daraufhin unter Druck geraten ein, dass es in Deutschland Defizite im Pflegebereich gibt. Diese Tatsache und die abschließenden Empfehlungen des Fachgremiums sorgten zwar auf allen Seiten – auch in der deutschen Öffentlichkeit – für einiges Aufsehen. Jedoch führten sie nicht zu eine intensiven, nachhaltigen Auseinandersetzung – weder in der deutschen Öffentlichkeit, noch im parlamentarischen Rahmen, geschweige denn zu einer öffentlichen Stellungnahme der deutschen Regierung.3
Drei Jahre später veröffentlichte der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung den Bericht „Qualität in der ambulanten und stationären Pflege“.4 Es handelt sich der Anlage nach zwar nicht um eine repräsentative Untersuchung. Aber zum ersten Mal trägt diese quasistaatliche Institution Datenmaterial aus allen Bundesländern zusammen und bereitet es in Bezug auf Bereiche wie Inkontinenzversorgung, Ernährung und Flüssigkeitsversorgung auf. Damals wie heute ist man sich im Wesentlichen einig darüber, der Bericht legt ernst zu nehmende Defizite in elementaren Bereichen der Pflege offen.5
Zwei Aspekte sind an diesem Ereignis besonders hervorzuheben. Zum einen kritisierten Fachleute und Pflegekritiker zu Recht den MDS, weil dieser in seiner öffentlichen Darstellung des Berichts auf die hohen „Zufriedenheitswerte“ der Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen abstellt und die damit die anderen bestürzenden Erkenntnisse geschickt in den Hintergrund rückt. Bekanntlich sind aber die Ergebnisse solcher „Zufriedenheitsbefragungen“ in den Wissenschaften wegen bislang unlösbarer methodologische Schwierigkeiten äußerst umstritten; zu große Zweifel bestehen an der Aussagekraft solcher Ergebnisse. Zum anderen sieht sich die Bundesregierung durch den Bericht bis heute nicht veranlasst, eine weitergehende umfassende Untersuchung in Auftrag zu geben. Und das obwohl der MDS weder die Ursachen festgestellter Defizite erforscht hat noch eine hinreichende empirische Grundlage für vernünftiges weitergehendes staatliches Handeln bieten kann. Der Forderung nach einer umfassenden repräsentativen und unabhängigen Untersuchung ist die Regierung bis heute nicht nachgekommen.
Mangel an gesellschaftlicher und staatlicher Verantwortlichkeit zeigt sich darüber hinaus daran, wie die neue Regierungskoalition das Thema Pflege behandelt. An sich bot die Regierungsbildung eine große Chance, nach der Pattsituation der Vorgängerregierung und dem Politikstillstand während des Wahlkampfes 2005. Von der drängenden Problematik der Sache her wäre es notwendig gewesen, dass sie die Situation in der Pflege, insbesondere der Pflegequalität politische Priorität einräumt. Stattdessen stuft sie das Thema Pflege in der Koalitionsvereinbarung lediglich als Reformvorhaben ein. Sie schiebt die Pflegeversicherungsreform und damit die Chance, für das Thema Pflege mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, bis zum Abschluss der umstrittenen Gesundheitsreform auf.6 Dabei sollte der Umgang mit alten, pflegebedürftigen Menschen in Deutschland eines der gesellschaftlichen Anliegen sein, die dauerhaft die notwendige politische Aufmerksamkeit genießen – und zwar ganz unabhängig von Gesetzesreform oder Finanzierungsengpässen.
Um Aufmerksamkeit für die Situation der Mehrheit der älteren pflegebedürftigen Personen in Deutschland zu schaffen und insbesondere um ihre sozialen Menschenrechte zu stärken, hat das Deutsche Institut für Menschenrechte im Juni diesen Jahres die Studie „Soziale Menschenrechte älterer Personen in Pflege“ herausgebracht.7 Diese Studie stellt die völkerrechtlichen Standards vor und analysiert die Situation der älteren Personen in Pflege in Deutschland aus rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Die Untersuchung folgt dem Menschenrechtsansatz.
Ausgangspunkt des Menschenrechtsansatzes ist, jeden Menschen allein aufgrund seines Menschseins als Rechtssubjekt anzuerkennen. Jedem Menschen werden – um der Menschenwürde willen – individuelle und elementare Rechte zugesprochen, die in den Mittelpunkt aller sozialen Prozesse zu stellen sind. Diese Rechte sollen nicht nur auf dem Papier stehen soll, sondern gelebte Wirklichkeit werden. Die wesentliche Konsequenz des Ansatzes ist, dass Pflegebedürftige keine auf den guten Willen Dritter angewiesene Bittsteller sind. Vielmehr haben sie das Recht, Hilfestellung in Situationen der Pflegebedürftigkeit zu erhalten und angemessen zu wohnen.
Wesentlich für den Menschenrechtsansatz ist außerdem die unbedingte Beachtung des Diskriminierungsverbots. Das Diskriminierungsverbot ist ein menschenrechtliches Strukturprinzip, das gewährleisten will, dass alle Menschen in den Genuss gleichberechtigter Freiheit gelangen. Dies bedeutet nicht allein, dass der Staat Einzelne und Gruppen vor Diskriminierung zu schützen hat; es gibt ihm darüber hinaus auf, die strukturelle Benachteiligung einzelner Gruppen aktiv abzubauen und zu gewährleisten, dass ihren Bedürfnissen angemessene Leistungen in Form sinnvoller und gute Pflegeangebote zu Verfügung stehen.
Das Diskriminierungsverbot verlangt zudem, innerhalb der Gruppe der Pflegebedürftigen weiter zu differenzieren. Beispielsweise haben pflegebedürftige Personen mit Migrationshintergrund oder an Alzheimer erkrankte Pflegebedürftige völlig unterschiedliche Bedürfnisse. Um deren Diskriminierung zu verhindern und ihnen gleichzeitig eine angemessene Behandlung widerfahren zu lassen, um ihnen den gleichberechtigten Zugang zu den allgemeinen Rechten auf Pflege und angemessene Unterbringung tatsächlich zu verschaffen, brauchen diese Personengruppen gegebenenfalls besonderen rechtlichen Schutz oder besondere politische Unterstützung.
Dass Defizite in der Altenpflege in Deutschland bestehen, ist bereit seit Jahren bekannt. Die deutschen Medien berichten oft sehr kritisch. Die Berichterstattung konzentriert sich allerdings in der Regel auf Einzelfälle. Unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen belegen Mängel in Einzelbereichen der Pflege. Wie weit verbreitet Pflegemängel sind, hat auch der bereits erwähnte Bericht des MDS deutlich gemacht.
Die Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte kommt auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse zu dem Schluss, dass in der Altenpflege in Deutschland „strukturelle menschenrechtliche Defizite“ bestehen. Das bedeutet, Mängel treten so häufig auf, sind so weit verbreitet, dass man nicht mehr von Einzelfällen sprechen kann. Vielmehr müssen sie als strukturbedingt gelten. Menschenrechtlich relevant sind diese Defizite, weil sie das Leben einer großen Anzahl von Menschen in Deutschland – und zwar in elementaren Lebensbereichen wie zum Beispiel in den Bereichen Ernährung, Flüssigkeitsversorgung oder Dekubitustherapie – schwer beeinträchtigen.
Grundsätzlich hat das Recht auf Selbstbestimmung im Verfassungsrecht, aber auch im einfachen Gesetzesrecht, insbesondere im Pflegeversicherungsrecht seine feste Verankerung gefunden.8 So sollen zum Beispiel die Leistungen der Pflegeversicherung den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbst bestimmtes Leben zu führen, dass der Würde des Menschen entspricht.9 Trotz rechtlicher Vorgaben und konzeptionellen Ansätzen in den Pflegewissenschaften10 ist die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung von der Lebenswirklichkeit vieler pflegebedürftiger Menschen hierzulande weit entfernt, ohne dass es dafür eine vernünftige Erklärung gibt.
Zahlreiche pflegebedürftige Personen müssen in einem Ausmaß Beschränkungen ihres Rechts auf Selbstbestimmung und anderer Rechte hinnehmen, wie das für uns „Nicht pflegebedürftige“ völlig inakzeptabel wäre: Während „Nicht pflegebedürftige“ auf die Toilette gehen, wann sie wollen, und dann essen, wann sie möchten, und schlafen gehen und aufstehen nach ihren Gewohnheiten – um nur einige der wesentlichen „Selbstverständlichkeiten“ aus unserem Alltag herauszugreifen –, sind diese für viele Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrichtungen heute vielerorts nicht gegeben. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner müssen in stationären Einrichtungen zusammen mit einer anderen Person das Zimmer teilen, obwohl sie das nicht möchten, nicht wenige leben zu Dritt teilweise auf unbestimmte Zeit in einem Zimmer.11 Befremdlich ins Feld geführte Sachzwänge, wie Pflegekräftemangel, leere Kassen oder Zeitknappheit können solche Defizite aus menschenrechtlicher Sicht schwerlich rechtfertigen. An dieser Stelle ist zu bekräftigen, dass es in Deutschland zahlreiche gute Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste gibt. Außerdem leisten viele Pflegekräfte oft unter sehr schwierigen Arbeitsbedingungen ihr Bestes. Diese Tatsachen können jedoch nicht darüber hinweghelfen, dass sich die gegebenen strukturellen Defizite in der Pflege bei vielen Betroffenen mit so wesentlichen Einschränkungen verbinden, dass sie als menschenrechtlich defizitär qualifiziert werden müssen.
Trotz der internationalen Aufmerksamkeit für die hiesigen Verhältnisse und den Handlungsempfehlungen, die internationale Fachgremien vor nunmehr vor fünf Jahren an Deutschland gerichtet haben, scheint sich nichts entscheidend verbessert zu haben. Der Appell an die politischen Verantwortlichen immer daher noch aktuell. Es gilt immer noch, durch außerordentliche staatliche und gesellschaftliche Anstrengungen, die Rechte älterer Personen in Pflege in diesem Lande zu sichern.
Was ist zu tun? Es gilt zum einen, die staatliche Überwachungspraxis im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verbessern, da die menschenrechtlichen Defizite auch durch strukturellen Schwächen in den vorgesehenen Kontrollmechanismen und in der Kontrollpraxis bedingt sind. Der beratungsorientierte Prüfungsansatz der zuständigen Organisationen ist grundsätzlich sinnvoll, solange damit positive Effekte für das interne Qualitätsmanagement der Einrichtungen zu erreichen ist. In den Fällen aber, in denen der “beratungsorientierte Prüfungsansatz” nicht greift, sollten Prüfungsbesuche unangemeldet durchgeführt werden. Als Konsequenz ist notfalls zum Schutz der menschenrechtlichen Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner eine kommissarische Heimleitung durch den Staat einzusetzen.
Um die Rechtsposition der Hilfe- und Pflegebedürftigen zu stärken, sollte ein bundeseinheitlicher “Standard für die menschenwürdige Grundversorgung” entwickelt werden. Jede pflegebedürftige Person sollte gegenüber ihrer Einrichtung ihre Rechte einfordern können. Seit der Föderalismusreform ist die Notwendigkeit noch klarer, dass es gilt, im Bereich der Altenpflege gleich gute Lebensverhältnisse, zum Beispiel mittels bundesweiter Maßstäbe, zu garantieren. Ein solcher Standard würde außerdem das Recht der Personen mit Pflegebedarf stärken, wenn die allgemeine gesetzliche Verpflichtung „entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse“ in Bezug auf die menschenwürdige Grundversorgung mindestens konkretisiert und mit einem gesetzlich begründeten individuellen Anspruch gekoppelt wird.
Außerdem sollte die Regierung mehr als bisher dafür Sorge zu tragen, die Interessen der Gruppen mit besonderen Lebens- und Bedarfslagen mittels systematischer Verfahren zu ermitteln, um diese besser in der Politik berücksichtigen zu können. Frauen und Männer, insbesondere mit Migrationshintergrund, Alleinlebende, Homosexuelle, ältere Menschen mit Behinderung, hochaltrige Menschen, demenzkranke Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen, um nur einige Gruppen zu nennen, erfahren innerhalb der großen Gruppe der Hilfs- und Pflegebedürftigen immer noch zu wenig Beachtung. Auch für diese Gruppen sollten in naher Zukunft sinnvolle Pflegeangebote unterschiedlicher Art zur Auswahl bereitstehen.
Die Bundesländer sollten den Gemeinden bei der Einrichtung weiterer unabhängiger Pflegeberatungs- und Beschwerdestellen zu unterstützen und den Ausbau bestehender Stellen fördern, um Transparenz zu erhöhen und mehr Partizipation zu ermöglichen. Denn wie die Erfahrung zeigt machen örtliche Pflegeberatungs- und Beschwerdestellen wie Informationszentren oder Notruftelefone die Verhältnisse grundsätzlich durchsichtiger. Sie eröffnen wichtige Handlungsoptionen für Betroffene, Angehörige und Pflegepersonal, sich für die eigenen Rechte oder die Rechte der Angehörigen einzusetzen.
Nicht zuletzt sollte die Bundesregierung, eine Bundeskampagne für eine menschenwürdige Pflege starten. Die Kampagne sollte die Leistungen und Anstrengungen der privaten und professionellen Pflegekräfte anerkennen die bereits heute Hilfs- und Pflegebedürftige begleiten und versorgen. In diesem Zuge sollte sie außerdem das Gebot einer menschenwürdigen Pflege festigen; dieses gilt es im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit und unter allen an der Pflege beteiligten Akteuren zu verankern.
Zusammenfassend lässt sich eine mangelnde gesellschaftliche Aufmerksamkeit und staatliche Verantwortung für die Situation und die Rechte der älteren Personen in Pflege konstatieren. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Auf die denkbaren kulturhistorischen, sozialpsychologischen und marktpolitischen Erklärungsansätze war in diesem Zusammenhang nicht näher einzugehen. Denn aus menschenrechtlicher Sicht reicht es aus, menschenrechtliche Defizite aufzuzeigen, um an die bestehende staatliche Verantwortung zu erinnern und Abhilfemaßnahmen anzumahnen. Weite Teile des Staates stellen sich noch nicht hinreichend ihrer menschenrechtlich begründeten Verantwortungen.
  Diese Situation bildet den Hintergrund, vor dem die Debatten um den „richtigen“ staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Faktum Lebensende, um Sterbehilfe und Patientenverfügung geführt wird. Man kann sich gut vorstellen, dass in der Phase des Älterwerdens die persönliche Einstellung zu Fragen des Lebens und Lebensendes auch davon abhängt, in welchen äußeren Umständen man sich befindet. Dies gilt umso mehr für die Personen mit Hilfe- und Pflegebedarf, die Strukturen hilflos ausgeliefert sind, in denen ein menschenwürdiges Altern schwer möglich erscheint.  

1    Siehe statt vieler Nationaler Ethikrat (2006): Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme, Berlin, Internetpublikation; Deutscher Bundestag / Enquete-Kommission (2004): Ethik und Recht der modernen Medizin. Zwischenbericht Patientenverfügung, Berlin, Internetpublikation.
2  Siehe CESCR (2001): Concluding Observations: Germany, UN Doc. E/C.12/1/Add.68 vom 24.09.2001, Ziffer 24 und 42. Im Unterschied zu der üblichen Form der Empfehlungen brachte er mit der Aufforderung zu Sofortmaßnahmen eine besondere Dringlichkeit staatlichen Handelns zum Ausdruck.
3    Vgl. Ute Hausmann (2003): ”Wir leugnen nicht, dass es Defizite gibt”. Bilanz des vierten deutschen Staatenberichts zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, in: Jahrbuch Menschenrechte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 313-323.
4    Siehe Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (Hrsg.) (2004): Qualität in der ambulanten und stationären Pflege. 1. Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) nach § 118 Abs. 4 SGB XI, Essen, Internetpublikation.
5    Nicht zuletzt unter Bezugnahme auf diesen Bericht kommt das Deutsche Institut für Menschenrechte in seiner Studie „Soziale Menschenrechte älterer Personen in Pflege“ im Jahr 2006 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland „strukturelle menschenrechtliche Defizite“ bestehen. Zu dieser Studie, siehe unten im Text.
6    Siehe den Koalitionsvertrag von CDU / CSU / SPD (2005) „Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit“, Berlin, Kapitel 8.
7   Valentin Aichele / Jakob Schneider (2006): Soziale Menschenrechte älterer Personen in Pflege. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) wurde im Jahr 2001 auf Empfehlung des Deutschen Bundestages gegründet. Als „Nationale Menschenrechtsinstitution“ gemäß den „Pariser Prinzipien“ der Vereinten Nationen agiert es politisch unabhängig. Das DIMR hat den Auftrag, den Schutz der Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene zu fördern. Seine Aufgaben reichen von Information und Dokumentation über anwendungsorientierte Forschung und Politikberatung bis hin zu menschenrechtsbezogener Bildungsarbeit. Die Studie kann im Buchhandel oder im Internet unter www.institut-fuer-menschenrechte.de bestellt werden.
8   Verfassungsrechtlich ist das Recht auf Selbstbestimmung niedergelegt in den verfassungsrechtlich verbürgten Rechten auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG); dem eng damit verknüpften allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie der durch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgten Menschenwürde.
9   Vgl. § 2 Elften Sozialgesetzbuch (SGB XI); siehe außerdem § 6 und 28 Abs. 4 SGB XI; vgl. aus dem Recht der Menschen mit Behinderung zum Beispiel § 1 SGB IX.
10  Siehe Michaela Eggert / Vjenka Garms-Homolová / Katrin Theiss (2005): Diskussionpapier I: Konzepte der Teilhabe und Selbstbestimmung. Projekt Entwicklung und exemplarische Erprobung eines Qualitätsniveaus zum Thema „Gewährleistung von Aspekten persönlicher Lebensführung und Teilhabe bei Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf“, Berlin.
11  Vgl. daz die jüngste Untersuchung von Ulrich Schneekloth (2005): Hilfe- und Pflegebedürftige in Alteneinrichtungen 2005. Schnellbericht zur Repräsentativerhebung im Forschungsprojekt „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in Einrichtungen“ (MuG IV), Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Internetpublikation.
 
Literatur  
Valentin Aichele / Jakob Schneider (2006): Soziale Menschenrechte älterer Personen in Pflege. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Die Studie kann im Buchhandel oder im Internet unter www.institut-fuer-menschenrechte.de bestellt werden.
Deutscher Bundestag / Enquete-Kommission (2004):  Ethik und Recht der modernen Medizin. Zwischenbericht Patientenverfügung, Berlin, Internetpublikation.
Michaela Eggert / Vjenka Garms-Homolová / Katrin Theiss (2005): Diskussionspapier I: Konzepte der Teilhabe und Selbstbestimmung. Projekt Entwicklung und exemplarische Erprobung eines Qualitätsniveaus zum Thema „Gewährleistung von Aspekten persönlicher Lebensführung und Teilhabe bei Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf“, Berlin.
Nationaler Ethikrat (2006): Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme, Berlin, Internetpublikation.
Ute Hausmann (2003): ”Wir leugnen nicht, dass es Defizite gibt”. Bilanz des vierten deutschen Staatenberichts zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, in: Jahrbuch Menschenrechte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 313-323.
Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (Hrsg.) (2004): Qualität in der ambulanten und stationären Pflege. 1. Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) nach § 118 Abs. 4 SGB XI, Essen, Internetpublikation.
Ulrich Schneekloth (2005): Hilfe- und Pflegebedürftige in Alteneinrichtungen 2005. Schnellbericht zur Repräsentativerhebung im Forschungsprojekt „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in Einrichtungen“ (MuG IV), Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Internetpublikation.

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