Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Der verdrängte Tod

Ein Erfahrungsbericht.

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.136-139

Als Gemeindepfarrer ist man bemüht, Gemeindeglieder zu besuchen, wenn sie krank sind. Immer wieder habe ich dabei eine Erfahrung gemacht, die ich anfangs nicht recht einordnen konnte. Gerade wenn Menschen schwer krank waren, wurde meine Frage nach einem Besuch von den Angehörigen abgelehnt. Erst allmählich bin ich dahinter gekommen, dass das einen Grund hatte, den ich mir gar nicht vorstellen konnte. „Dann denkt der Kranke ja, er müsse bald sterben!“ Über den Tod täuscht man auch Schwerstkranke gern hinweg. In 35 Jahren Pfarrdienst habe ich nicht nur vielfache Erfahrungen dieser Art gemacht, sondern ich habe natürlich auch viele Beobachtungen gesammelt und darüber nachgedacht. Es ist ein subjektiver Bericht, der daraus resultiert. Ich denke aber, dass er auch anderen Anlass zum Nachdenken geben kann.
Die Angst, der Besuch des Pfarrers könnte als Hinweis auf den nahen Tod verstanden werden, hat traditionelle Bezüge und negiert sie zugleich. Im Mittelalter gab es Gebete mit dem Tenor „Bewahre uns, Herr, vor raschem Tod.“ Gemeint war, dass man sich in einem solchen Fall nicht auf das Jenseits und das erwartete und gefürchtete göttliche Gericht vorbereiten könnte. Dafür war natürlich der Besuch des Pfarrers beim Sterbenden unerlässlich. Warum dann heutzutage die Ablehnung? Einerseits ist anscheinend diese Vorstellung noch so weit vorhanden, dass man unterstellt, der Besuch des Pfarrers könnte als Vorbereitung auf das Jenseits und damit als Ankündigung des nahen Todes verstanden werden. Die Ablehnung des Besuches war aber gleichzeitig die Absage an den traditionellen Jenseitsglauben. Der Besuch des Pfarrers, die Gelegenheit zu einem Beichtgespräch, zum Nachdenken über Fehler und Versäumnisse des Lebens und die Möglichkeiten von Vergebung und Versöhnung wurden abgelehnt, weil die traditionelle Jenseitsvorstellung nicht mehr gegeben war. Damit wurden zugleich ein letztes Nachdenken über den Sinn und die Aufgaben unseres Lebens und über Hilfen zum Abschiednehmen abgeblockt. Dabei ist die Sinnfrage gerade angesichts des Todes und unseres in der Regel irgendwie unfertigen Lebens die eigentliche Frage nach dem Wert unseres Tuns und nach seiner Geborgenheit in größerem Zusammenhang. Das wurde und wird verdrängt. Mit den einfachen menschlichen Verpflichtungen wollte und will man wohl selbst zurechtkommen vom Ausführen des letzten Willens bis zur Regelung der Bestattung, von der Benachrichtigung der Verwandten und Freunde bis zur Gestaltung der Traueranzeige, den Karten, die zu verschicken wären, und der Einladung nach der Trauerfeier. Der Pfarrer wurde für die Trauerfeier gebraucht und allenfalls für das Trösten der Angehörigen.
Andererseits habe ich bei vielen Trauerfällen auch erlebt, dass es fatal war, nicht auf den Tod hingewiesen zu haben. Wie oft gab es hinterher das Nachdenken, was man eigentlich noch gern gesagt hätte von Entschuldigungen bis zu Abschiedsworten der Liebe. Wie oft hätte man noch gern etwas gefragt oder die Enkelkinder noch einmal zur Großmutter, zum Großvater gebracht. Wie viele bedauerten auf einmal, dass sie nicht noch einmal rechtzeitig zu Besuch gekommen sind: „Ja, wenn ich gewusst hätte, wie ernst es ist…“ Mich hat es nachdenklich gemacht, als meine Großmutter ihre todkranke Schwester besucht hatte und dann beim Herausgehen sagte. „Das war jetzt besser als erst zur Beerdigung zu gehen.“ Aber die Möglichkeit des Besuchens, des Abschiednehmens, setzt voraus, dass man offen vom herannahenden Tod spricht, und das vermeiden die meisten.
Die vierte Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat versucht, Menschen auch danach zu fragen, was sie im Blick auf den Tod denken. In den dafür angesetzten Gruppengesprächen gab es zwei Hauptreaktionen. Die einen Gespräche führten ganz schnell zur Frage der Beerdigung. Kann man den Angehörigen zumuten, später eine Grabstelle zu pflegen? Soll man sich nicht lieber anonym beerdigen lassen? Die anderen führten zu unsicherem Tasten nach dem, was nach dem Tod kommen könnte. Da gingen die Meinungen auseinander vom Nichts bis zu allerlei Überlegungen über ein Weiterleben der Seele. Die traditionellen kirchlichen Vorstellungen von Auferstehung und künftigem Gericht kamen fast nicht mehr vor, die nichtbiblische Vorstellung einer Seele war überraschend weit verbreitet. An Stelle der Sorge um ein Gericht gab es – wenn überhaupt – Überlegungen, dass Gott ja vergibt und nur das Gute will.
Was selbst bis weit in die traditionelle Gemeinde sichtbar wird, merkt man erst recht, wenn man die medizinische Behandlung von Sterbenden und Todkranken ansieht. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Menschen kaum Angst vor dem Tod, dagegen große Angst vor den Schmerzen bei Krankheit und Sterben haben. Da kann die moderne Medizin erfreulich helfen, allerdings oft um den Preis, dass man das Sterben gar nicht bewusst erlebt. In anderen Fällen, in denen nicht Schmerzen quälen, sondern bei Herzproblemen jede Aufregung gefährlich ist, wird selbst herbei eilenden nächsten Angehörigen mit aller medizinischen Autorität geraten, nicht ans Krankenbett zu kommen, um ja keine Aufregung zu verursachen. Der so wichtige Abschied von Vater oder Mutter wird ebenso blockiert wie der Besuch des Pfarrers oder der Pfarrerin. Tod und Sterben sind zum medizinischen Problem geworden. Die Bedeutung des Todes für die Familie und die menschliche Umgebung, für das eigene Abschließen mit dem Leben und einen wirklichen Abschied verschwindet dahinter ebenso wie jegliche Frage nach größeren Zusammenhängen und Aufgaben unseres Lebens.
In gewisser Weise ist das konsequent und entspricht dem Denken der meisten Menschen. Wie oft habe ich gehört: „Am liebsten möchte ich einmal tot umfallen oder morgens nicht mehr aufwachen. Dann habe ich wenigstens keine Schmerzen.“ Meine Be-   obachtung ist jedoch, dass ein unerwarteter plötzlicher Tod für die Umgebung besonders schlimm ist. Man ist nicht nur nicht darauf vorbereitet. Man kann auch nicht Abschied nehmen, nicht nochmals Liebe, Dank und Verbundenheit zum Ausdruck bringen, kann vielleicht auch nicht mehr etwas bereinigen, was noch trennt oder belastet. Meine Konsequenz aus vielen Trauerfällen ist jedenfalls, dass ich mir nicht mehr wünsche, plötzlich tot umzufallen. Da will ich lieber eine Zeit lang –  hoffentlich nicht zu lange – krank sein, spüren, dass ich Abschied nehmen muss, und dann auch in Ruhe Abschied nehmen können. Aber das ist eine persönliche Überlegung, beim Sterben ist jeder mit seinen Schmerzen allein, und schwer ist ein endgültiger Abschied immer – für den Sterbenden wie für seine Umgebung.
Was viele angesichts des Todes denken, habe ich in ganz anderem Zusammenhang gehört. Als einer Frau mit zwei kleinen Kindern der Mann früh starb, sagte man im Dorf: „Das ist wirklich traurig.“ Warum? „Die hat ja keine vernünftige Versorgung.“ Die materiellen Folgen des Todesfalls waren wichtiger als die inneren Probleme wie Schmerz, Verlust von Liebe und Geborgenheit und eigene Trauer. Es kann allerdings auch anders sein. Als ein sehr alter Herr starb, der mit seinem Sohn seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte, wollte es der Zufall, dass ich ihn kurz vorher noch zum Geburtstag besucht hatte. Da hatte er plötzlich von seinem Sohn gesprochen, nach ihm und seiner Familie gefragt und die Situation bedauert, die er aus Ärger über die Heirat des Sohnes selbst herbeigeführt hatte. Ausgerechnet die Tochter des Bürgermeisters aus der seit Generationen konkurrierenden anderen vornehmen Familie hatte der nämlich geheiratet. Als ich nun zu eben diesem Sohn wegen der Beerdigung des Vaters kam, konnte ich von dem Gespräch berichten, und es war eine Erleichterung zu spüren, die zeigte, welche Last die Situation auch für ihn gewesen war. Es können also auch solche Fragen angesichts des Todes belastend sein, und es ist höchst problematisch, wenn Menschen über den Ernst einer Krankheit hinweggetäuscht werden. Wichtig ist allerdings, wie man darüber spricht und welche Hilfe man im Blick auf deutlich werdende Probleme anbieten oder wenigstens vermitteln kann. Nicht zuletzt ist es hilfreich, wenn der Sterbende nicht allein gelassen wird, sondern Angehörige oder  Freunde da sind, die seine Hand halten, über seinen Kopf streichen können, weil so bis zuletzt die Liebe deutlich wird, die wichtiger ist als alle Theorien über ein Jenseits.
Der Berliner Praktische Theologe Professor Klaus-Peter Joerns hat unter Berufung auf Befragungen von Gemeindegliedern und Pfarrern notwendige Abschiede der kirchlichen Verkündigung von manchen Traditionen gefordert, um zu einem glaubwürdigen Christentum zu kommen. Er fordert, die Toten wirklich tot sein zu lassen, spricht von den vielen kleinen Abschieden als kleinen Toden in unserem Leben, geht von der völligen Verwesung des Leibes aus und bleibt dann doch bei einer recht vagen Vorstellung eines zu Gott Gehörens, einer Auferstehungshoffnung, die er aber nicht weiter beschreiben kann und will. Es läuft anscheinend auf das hinaus, was in den Gesprächen, die die EKD -Untersuchung zitiert, mit dem Weiterleben der Seele angesprochen war. Merkwürdigerweise geht Joerns aber gar nicht auf die veränderte Praxis des medizinischen Umgangs mit Sterben und Tod ein. Dass diese in unserer Gesellschaft völlig akzeptiert ist, bedeutet in Wahrheit, dass alles, was in fast jedem Gottesdienst mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis angesprochen wird von Jesus Christus, der „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten“, und vom Glauben „an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, praktisch negiert wird. Geblieben ist die Mitmenschlichkeit, die sich Gedanken macht über die Belastung Angehöriger, über die Hilfe bei Schmerzen durch die  Medizin wie über liebevolle Begleitung in der Hospizbewegung. In der Praxis ist es eine gewisse Entmythologisierung, die in der Kirche umstritten ist, aber offensichtlich längst die Wirklichkeit prägt.  
 
Literatur  
Huber, Wolfgang, Friedrich, Johannes, Steinacker, Peter  (Hrg.) Kirche in  der Vielfalt der Lebensbezüge, Gütersloh 2006
Jörns, Klaus-Peter, Großeholz, Carsten (Hrg.) Was die Menschen wirklich glauben, Gütersloh 1998.
Jörns, Klaus-Peter Notwendige Abschiede, 2.Aufl. Gütersloh 2005.

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