Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Selbst­be­stim­mung in der Biopolitik

Zehn Punkte zur Orientierung über das Alte im Neuen.

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.36-42

Der nachfolgende Text enthält grundsätzliche Bemerkungen zur Selbstbestimmung in der biopolitischen
 Debatte in der Bundesrepublik Deutschland. Wiederholungen älterer Aussagen1 sind vermieden.

1. Meinungsklima. Im Frühjahr dieses Jahres machte das Wort vom „Fetisch Selbstbestimmung“ die Runde. Da es aus einer kritischen Haltung gegenüber biopolitischen Innovationen kam, löste es keinen Sturm der Entrüstung aus. Es wurde vielmehr wiederholt und anerkennend zitiert.
Die Duldsamkeit wird niemanden überraschen. In Deutschland findet jeder ein offenes Ohr, der die Fortschritte der biowissenschaftlichen Forschung als Bedrohung und die Chancen der medizinischen Technik als Gefährdung der Humanität verwirft.
Wer auch nur wagt, die damit einhergehende Dogmatisierung eines alten Zustands (der ja seinerseits bereits auf zahllosen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik beruht) in Frage zu stellen, wird ohne Rücksicht auf die Achtung vor seiner Person als gewissenloser Parteigänger der Forschungslobby denunziert. Wenn es philosophisch klingen soll, wirft man ihm „Utilitarismus“ vor, ganz gleich, ob er tatsächlich dem Prinzip der Nutzeinkalkulation anhängt, und natürlich auch ohne Rücksicht darauf, ob der Utilitarismus wirklich so verwerflich ist, wie man gerne tut.2
Doch wie dem auch immer sei: Im vernebelten Meinungsklima unserer Republik ist jeder willkommen, der bioethische Zweifel sät, um biopolitische Abwehr zu ernten.

2. Innovation und Tradition. Menschlich gesehen, ist die Abwehr des Neuen verständlich. Platon, der erste Philosoph, der politische Fragen systematisch behandelt und dem wir nicht nur eine große Parabel über den Zusammenhang von seelischer Ordnung und politischer Gerechtigkeit,3 nicht nur eine auf die Verknüpfung individueller Gegensätze gründende Lehre politischer Organisation,4 sondern auch den ersten realistischen Verfassungsentwurf Europas verdanken,5 Platon sieht die größte Gefahr für ein geordnetes Gemeinwesen in der Neuerungssucht (philia tōn neōn) der Jugend und der Künstler.6

Das ist für sich schon bemerkenswert genug. Schließlich bilden wir uns ein, erst die Moderne setze den Menschen unablässigen Veränderungen aus. Viele meinen, erst in der Neuzeit ereile den Menschen das Schicksal des Wertewandels und des unwiederbringlichen Traditionverlusts. So gut wie alle sind davon überzeugt, erst das „moderne Subjekt“ sei Opfer des von ihm selbst erzeugten Fortschritts, so dass es gut daran tue, sich eine Atempause in der beschleunigten Umwälzung aller Dinge zu verschaffen.

3. Erziehung: Über das Alte  zum Neuen. Platon berichtet, dass schon im ägyptischen Großreich7 die Sorge vor der unablässigen Veränderung der Einstellungen und Werte so groß gewesen sei, dass alles, was man für die Kontinuität des Daseins als wichtig erachtete, für „heilig“ erklärt worden sei.8
Platon nimmt sich die altägyptische Heiligsprechung dessen, was sich nicht verändern soll, zum Vorbild. Deshalb haben die Fest- und Feiertage in seinem Verfassungsentwurf eine besondere Bedeutung. Doch im Bewusstsein der damals schon gut achtzig Jahre zurückliegenden ersten „sophistischen“ Aufklärung, die mindestens so einschneidend war wie die zweite Aufklärung des 18. Jahrhunderts, und angesichts der Tatsache, dass die Menschen seiner Zeit den Göttern nur wenig Aufmerksamkeit schenken (vor allem die Jugend war gegen Ende des 5. vorchristlichen Jahrhunderts kaum noch zum Tempelbesuch zu bewegen),9 schlägt Platon den Weg ein, den auch wir für den einzig gangbaren halten, nämlich den über eine gute Erziehung. Letztlich können nur Wissen und Bildung die Kontinuität erzeugen, die eine sich selbst steuernde Gesellschaft benötigt.10

4. Öffentliche Fremdkontrolle. Es befremdet und empört uns bis heute, dass Platon im Interesse der Erziehung auch Zensurmaßnahmen für angebracht und durchführbar hält. Aber wenn wir sehen, welche manifesten Kontrollen im öffentlichen Diskurs über bioethische Fragen wirksam sind, dann scheint es heute doch mehr Platoniker zu geben als vermutet.
Wenn etwa der Bundeskanzler nicht sagen darf, dass er sich eine Steigerung biowissenschaftlicher Forschung wünsche, ohne der „Gewissenlosigkeit“ gescholten zu werden; wenn einem zeitweilig als Minister tätigen Philosophen unterstellt wird, er verbreite „Killerparolen“, nur weil er an die „Selbstachtung“ als Prinzip der Selbstschätzung des Menschen erinnert; oder wenn die amtierende Bundesjustizministerin, weil sie die mögliche Verfügung über das eigene Sterben rechtlich sichern will, zur „Buchhalterin des Sterbens“ avanciert, dann sehen wir, wie auch ohne Zensur für Immobilität gesorgt werden soll.
Doch über das Meinungsklima ist bereits genug gesagt. Mir genügt, wenn bewusst wird, dass die Veränderung von Anfang an zur menschlichen Kultur gehört, und der Versuch, ihr Einhalt zu gebieten auch.

5. Eine persönliche Ansicht. Ganz gleich, wie die geschichtlichen Tatsachen sind: Man kann es niemandem verwehren, von ihnen abzusehen. Jeder hat das Recht, seine Zeit seinem eigenen Urteil zu unterwerfen. Deshalb darf ich gestehen, dass mir selbst die Dynamik der Zivilisation, die dem verbesserten Komfort alles opfert, widerstrebt. Die Welt, die in der Raserei unablässiger Verbesserungen entsteht, hat meine Sympathien nicht, und es ist tröstlich zu wissen, dass man unter diesen Bedingungen nur ein Leben hat.
Gleichwohl habe ich kein Verständnis für jene, die in ihren politischen Optionen so tun, als könnten sie den Prozess der Zivilisation verzögern, umkehren oder gar zum Stillstand bringen. Denn man braucht nur ein Minimum an Selbstbeobachtung, um sich einzugestehen, dass man in allem, was man selber tut, die Beschleunigung der weltweiten Modernisierung befördert. Oder gibt es jemanden, der sich vernehmlich gegen die Umwälzungen wehrt – ohne sie durch Teilnahme zu verstärken? Jemanden, der nicht liest, der nicht telefoniert, nichts verwendet, das mit modernen Verkehrsmitteln transportiert werden muss, und der sich vom Geld ebenso fernhält wie von der Medizin?
Gewiss, es gibt Menschen, die lehnen Bluttransfusionen ab. Aber sie stehen gleichwohl an den Straßenecken, tragen Goretex und haben ihre im Rotationsdruck hergestellten Broschüren durch Plastikfolien gegen die Witterung geschützt.
Ich muss das nicht vertiefen. Es genügt die Feststellung, dass wir alle die Dynamik verstärken, die den Umschwung aller Verhältnisse beschleunigt und Neues stets auf Kosten des Alten schafft. Wir sind es selbst, die abstraktes Recht, bürokratische Administration und technische Konvention an die Stelle vertrauter Selbstverständlichkeiten setzen. Dabei geben wir Gewohnheiten auf, die noch vor kurzem provozierende Neuerungen waren. Und um uns im selbsterzeugten Wandel nicht selbst zu verlieren, vertrauen wir auf Hilfsmittel, die alles nur noch allgemeiner und schneller machen: auf die formalisierte Interessenvertretung, auf die Wissenschaft und auf die Technik. Also beschleunigt auch der Ethikrat die Krise, in der er raten soll.

6. Der basale Akt der Menschwerdung. Wie kann ein Mensch mit den Belastungen durch die Geschichte und im Sog permanenter Veränderungen leben? Nur dadurch, dass er sich selbst zu bestimmen sucht. Die Selbstbestimmung ist das Grundprinzip des menschlichen Lebens. In ihr verwandelt der Mensch den Grundimpuls des Lebendigen überhaupt, nämlich die Selbstorganisation, in einen bewussten Umgang mit seinem eigenen Dasein. In der Selbstbestimmung kommt die Freiheit des Menschen zu ihrem praktischen Ausdruck; hier wird sie in den Anspruch einer eigenen Verfügung über das Leben übertragen. Folglich legt sie den Grund für die menschliche Würde, die wir in der Person eines jeden Einzelnen zu achten haben.
Selbstbestimmung kann als der basale Akt der bewussten Menschwerdung bezeichnet werden, der ohne Freiheit nicht denkbar ist und ohne den sich weder die Personalität noch die Würde des Menschen verstehen lassen. Wer die Selbstbestimmung zum „Fetisch“ erklärt, macht auch die Prinzipien der Ethik zum „faulen Zauber“. Es fehlt nur noch, dass er die grundgesetzlich garantierten Grundrechte zum „Opium fürs Volk“ deklariert, dann haben wir das Vokabular zusammen, mit dem ein für viele noch heute als groß geltender Autor der Moral, dem Recht und der Religion den Garaus machen wollte.
Karl Marx, den ich hier im Auge habe, wäre kürzlich um ein Haar zum größten Deutschen erkoren worden. Das legt eine tiefere Schicht des öffentlichen Bewusstseins in Deutschland frei.

7. Ein neues Wort…. „Selbstbestimmung“ ist ein vergleichsweise junges Wort, das wir Immanuel Kant verdanken. Er nahm den seit langem üblichen Terminus der „Bestimmung“, den wir heute noch in der Botanik verwenden (wo er so viel wie „Definition“ oder „Determination“ bedeutet), und übertrug ihn auf das praktische Verhältnis des Menschen zu sich selbst.
Dabei kam ihm die bereits ausgeprägte praktische Bedeutung des deutschen Worts entgegen. 1748 hatte der Berliner Theologe Johann Joachim Spalding sein Buch über die Bestimmung des Menschen geschrieben und dargelegt, welche „Bestimmung“ dem Menschen von seinem Schöpfer auferlegt worden ist. Der aufgeklärte Spalding ging davon aus, dass der Mensch das göttliche Geschick zu begreifen und in seine eigene, bewusst zu lebenden Bestimmung umzusetzen habe.

8. … für eine alte Aufgabe. Das kleine gehaltvolle Werk des Theologen Spalding erlebte allein 13. Auflagen zu Lebzeiten Immanuel Kants. Der Begriff der Selbstbestimmung lag somit zum Greifen nahe. Kant verwendet ihn daher auch so, als habe es ihn schon immer gegeben, um damit die „Autonomie“ des Willens zu bezeichnen, in der ein Mensch zu seiner eigenen Verantwortung gelangt. Alles, was Kant zur Begründung der Freiheit, zum Primat der Vernunft, zum Selbstzweck der Person und zur Unbedingtheit des Sittengesetzes sagt, schießt im Begriff der Selbstbestimmung zusammen.
Das haben seine großen Nachfolger augenblicklich erkannt, allen voran Friedrich Schiller, der die Verbindung mit der menschlichen Würde auch in den Gestalten seiner Dramen unauslöschlich macht.11 Bei Fichte und Hegel – und das ist einer der wenigen Punkte, in denen sie sich einig sind – wird die Selbstbestimmung zum Ursprungsakt der Sittlichkeit, aus dem auch Recht und Politik entspringen.

9. Neue Chancen in einer alten Tradition. Die Herkunft des praktischen Begriffs der Selbstbestimmung aus der theoretischen Bestimmung von Sachverhalten legt alte, längst verloren geglaubte Parallelen zwischen Erkennen und Handeln frei. Sie ermöglicht zugleich, neuesten Gemeinsamkeiten zwischen dem in Natur und Gesellschaft tragenden Prozess der Selbstorganisation und den Akten des Selbstbewusstseins nachzugehen. In den Leistungen der Selbstbestimmung verliert der die moderne Debatte irritierende Abgrund zwischen Sein und Sollen an Bedeutung, und es wird möglich, die Ethik ohne rituelle Abgrenzung von den Natur- und den Sozialwissenschaften zu begründen.12
Da fügt es sich gut, wenn der neue Begriff Selbstbestimmung mit den ältesten Überlegungen zur Bestimmung des Menschen zusammenfällt: Bei Platon ist der „ungehörnte“, „unbehufte“ und „federlose“ Mensch ein „zweibeiniges“, „in Herden lebendes“ und „sich aus freiem Willen selbst bewegendes Tier“, das sich selbst zu lenken und so zu steuern vermag, dass er sich der schweren Aufgabe stellt, „für sich selber Sorge zu tragen“.13
Für die antiken Denker stand damit zugleich außer Zweifel, dass der Mensch auch selber zu lernen habe, wie man zu sterben habe.

10. Altes im Neuen. In der modernen Lebenswelt ist so gut wie alles neu. Aber wenn der Mensch sich seiner Geschichte erinnert und sich kritisch fragt, was ihm möglich ist und was er um seiner selbst willen, von sich verlangt, dann erscheint keineswegs alles so überraschend und ausweglos, wie es mit der Fixierung auf das Entwicklungstempo der Kultur erscheint.
Dann wissen wir erstens, dass der Mensch für sein Leben Sorge zu tragen hat, obgleich er es sich nicht selbst verdankt. Damit erledigen sich bereits alle Einwände gegen die Selbstbestimmung, die unterstellen, hier wolle der Mensch mehr als er zu leisten vermag. Natürlich können Einzelne und Gruppen, ja, ganze Völker scheitern, weil sie sich zu viel vorgenommen haben. Aber die Selbstbestimmung verlangt nicht mehr, als das zu tun, was ernsthaft von einem verlangt werden kann.
Dabei ist zweitens unvermeidlich, dass sich jeder in einem vorgegebenen Lebenskontext zu bewegen hat. Er muss zahllose Abhängigkeiten beachten, muss sie nach eigener Einsicht nutzen und wird nicht selten das größte Glück in dem erfahren, was ihm ohne sein Zutun zukommt. So gern er sich dann auch bestimmen und betreuen lassen kann, seine moralische Zuständigkeit lässt sich ebenso wenig suspendieren wie sein Recht auf Selbstbestimmung. Nur der Ausfall seiner Kräfte durch Krankheit oder unter der Einwirkung äußerer Gewalt kann daran etwas ändern.
Zum Bewusstsein der Abhängigkeit gehört drittens die Anerkennung der Tatsache des Lebens mit der zugehörigen Folge des Todes. Man weiß von der begrenzten Zeit, die im Takt von Bedürfnis und Befriedigung, von Aufmerksamkeit und Ermüdung in kleine und kleinste Portionen aufgeteilt ist. Über sie lässt sich selbst nur in kleinen und kleinsten Schritten disponieren. Dies geschieht immer nur aus dem Binnenraum des Lebens. Wer hingegen über das eigene Dasein so verfügen will, als stünde er außerhalb, der überschätzt seine eigenen Kräfte, die ganz und gar dem eigenen Leben zugehören. Deshalb liegt im Suizid, der angesichts der Realität des Daseins immer verständlich ist, aber niemals hinreichend begründet werden kann, ein anmaßender Umgang mit den eigenen Kräften.
Selbstbestimmung ist viertens an bewusst gemachte, also mit teilbare Ziele und Zwecke des Menschen gebunden. Wer sich selbst bestimmt, hat die Möglichkeit der Kommunikation über seine Motive und Interessen. Auch dadurch entstehen Verbindlichkeiten, denen man in der Regel von sich aus zu genügen sucht und die in der Regel auch seine Umgebung zur Aufmerksamkeit verpflichten.
Die Struktur des Selbstbewusstseins, das notwendig zur Selbstbestimmung gehört, besteht fünftens aus einer Beziehung eines Ich auf Andere seiner selbst, die stets auf gemeinsame Sachverhalte gerichtet ist. Das Ich, die Anderen und die von ihnen gemeinte Welt gehören zusammen. Unter den praktischen Bedingungen der Selbstbestimmung kommt diese Struktur des Bewusstseins als Selbstverantwortung, als Verantwortung für seinesgleichen und als Verantwortung für die Welt, in der ihr Leben möglich ist, zum Ausdruck.
Die unaufhebbare Einbindung in den natürlichen, geschichtlichen und sozialen Kontext des Lebens stellt sechstens klar, dass die Selbstbestimmung nicht in Opposition zur Verantwortung oder zur Solidarität zu begreifen ist. Das wird zwar immer wieder behauptet, aber man braucht sich nur vor Augen zu führen, wie man jemanden dazu bringen kann, Verantwortung wahrzunehmen oder Solidarität zu üben: In jedem Fall ist an seine eigene Einsicht oder an sein gegebenes Wort zu erinnern. Somit zeigt sich, dass die Selbstbestimmung auch allen sozialen Pflichten zugrunde liegt.
Siebtens kommt das Recht auf Selbstbestimmung dem Menschen für die ganze Zeit seines Lebens zu. Es ist nicht an Vorleistungen des Selbstbewusstseins gebunden. Im Fall schwerster Erkrankungen kann es zwar auf dem Rechtsweg eingeschränkt werden, aber niemals dazu führen, dass einer, eine Gruppe oder auch ein Schiedsgericht über das Lebensende eines Anderen verfügt. Das folgt aus der strikten Bindung der Selbstbestimmung an die Freiheit, den Selbstzweck der Person und die Würde des Menschen.
Achtens schließt das Recht auf Selbstbestimmung ein, dass einem Menschen nicht verwehrt werden kann, sich selbst das Leben zu nehmen. Selbst wenn die besten Gründe gegen die Selbsttötung sprechen, haben wir jedem das Recht zuzugestehen, seine eigene Disposition über sein Lebensende zu treffen.
Mit diesem Recht ist neuntens die Pflicht der Gesellschaft verbunden, den Willen des Einzelnen zu respektieren. Das gilt auch für langfristige Dispositionen die einer für sein Lebensende trifft. Da sich diese Disposition auf die eigene Lebensführung bezieht, muss sie jederzeit wieder revidierbar sein. Sie kann sich überdies nur auf jene Lebenslage erstrecken, in denen das Sterben durch Handlungen Anderer verlängert wird. Denn alles andere nötigte einen Menschen, über das Leben eines Anderen mit einer Endgültigkeit zu verfügen, die sowohl der Selbstbestimmung des einen wie auch der des Anderen entgegensteht.
Auf eine abschließende Formel gebracht, lässt sich zehntens sagen: Selbstbestimmung des einen setzt die Anerkennung der Selbstbestimmung des Anderen voraus. Deshalb verbietet es die Achtung vor der Selbstbestimmung des Anderen, von ihm zu verlangen, dass er mir die Selbstbestimmung endgültig nimmt. Wer eine Tötung auf Verlangen will, verlangt von sich selbst zu wenig und vom Anderen zu viel. So richtig es daher sein kann, den Willen eines Sterbenden zu akzeptieren, so verwerflich ist es, ihm die Entscheidung abzunehmen.
Der Respekt vor der Selbstbestimmung verlangt, dass ich dem anderen das Recht auf seinen eigenen Tod nicht nehme. Der Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen verlangt aber auch, dass niemand, der sein Leben nicht mehr erträgt, von einem anderen erwartet, dass er es ihm nimmt. Die passive Sterbehilfe ist durch die Moral und durch das Menschenrecht gedeckt, nicht aber eine aktive Handlung, die den Tod eines anderen herbeiführt. Es mag in einem langjährigen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu einer Situation kommen, wo der Arzt im Einvernehmen mit dem Sterbenden weiß, was zu tun ist. Aber wenn das, was heute unter dem Titel der „aktiven Sterbehilfe“ verhandelt wird, zum Auftragsbestand von Institutionen (oder wirtschaftlich arbeitenden Organisationen) wird, verkehrt sich die Idee der Selbstbestimmung in ihr Gegenteil.
Wer selbstbestimmt aus dem Leben scheiden will, muss es schon selber tun. Er kann und darf von anderen nicht erwarten, dass sie sein Leben beenden. Die Fortschritte der Medizin dürfen ihn jedoch erwarten lassen, dass sein Leben nicht künstlich verlängert wird. Er hat vor allem das Recht, apparative Eingriffe abzulehnen. Diese Ablehnung muss er auch im Vorhinein so artikulieren können, dass sie für andere – im Fall seiner eigenen Unfähigkeit – verbindlich ist. Das Instrument der Patientenverfügung ist daher moralisch und juridisch zu stärken. Wer ein Testament für möglich hält, darf, wenn er konsequent ist, die Rechtswirksamkeit einer Patientenverfügung nicht in Abrede stellen.

1   Dazu verweise ich auf die folgenden Publikationen: 1. Letzte Hilfe. Das moralische Problem im Umgang mit unheilbar Kranken, in: V. Gerhardt, Die angeborene Würde des Menschen. Aufsätze zur Biopolitik, Berlin, 2004, 161 – 178; ders.; Not und Notwendigkeit des Todes, in: ebd., 179 – 201; ders.: Noch einmal: Selbstbestimmung vor dem Tod, in: Zeitschrift für Biopolitik, 3. Jg. 2004, 3, 177 – 180. Außerdem: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität, München 2001.
2    Ich möchte die Eltern sehen, die in der moralischen Erziehung ihrer Kinder ohne den Hinweis auf schmerzhafte Folgen für Menschen und Tiere auskommen. Zumindest in der Sensibilisierung für ethische Fragen geht es nicht ohne die Mutmaßung über das mögliche Wohlbefinden anderer Lebewesen, auch wenn man darauf kein allgemeingültiges Prinzip der Ethik gründen kann.
3     Platon, Politeia (begonnen etwa 387 v. Chr.; abgeschlossen etwa 367).
4     Platon, Politikos (geschrieben etwa 355 v. Chr.).
5   Platon, Nomoi, (347 v. Chr. unabgeschlossen hinterlassen; etwa 320 von einem Nachfolger abgeschlossen).
6    Nomoi, VII. Buch, 797a ff.
7   Also in der Zeit, über die der Ägypten-Kenner Platon etwas wissen konnte: zwischen 2500 bis 400 v. Chr.
8    Nomoi, VII. Buch, 799a. Platon versteht das kathiereuein tatsächlich als einen bewussten Akt, den er politisch nachzuahmen empfiehlt. Hier also wird das Heilige nicht vorgefunden, sondern politisch gemacht. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass die Antike der Moderne nicht so ferne steht, wie die Modernen glauben.
9    Vgl. dazu die Bemerkungen des Tempelpriesters Euthyphron im gleichnamigen Dialog Platons.
10  Nach der Beschreibung des Politikos ist der Mensch das „sich selbst steuernde“ Herdentier. Es kann nur dann in Übereinstimmung mit seinen eigenen Ansprüchen leben, wenn sich auch die Herde, in der es lebt, selbst steuert. Das kommt dem modernen Politikverständnis sehr weit entgegen.
11  Vor allem aber ist an seine theoretischen Ausführungen in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und in Über Anmut und Würde zu denken.
12  Dazu des näheren: Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999.
13  Platon, Politikos 274d. Die Begriffe sind u. a. autarkeia, autopitaktikē, autodiagogē und epimēleia heautou.
 
 
 

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