Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Memorandum zur Straf­rechts­re­form

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 6-8

Änderungen am deutschen Strafrecht wurden seit Mitte der 1950er Jahre in Politik und Rechtswissenschaft breiter diskutiert. 1962 legte die von Bundesjustizminister Fritz Neumayer einberufene Große Strafrechtskommission einen zweiten Gesetzentwurf vor, der zentrale Elemente der späteren sozialliberalen Wende in der Strafrechtspolitik enthielt.
Mit diesem  Entwurf setzte sich die ein Jahr zuvor gegründete Humanistische Union (HU) intensiv auseinander. Ihre Mitgliederversammlung verabschiedete am 16. November 1963 ein Memorandum zur Strafrechtsreform, das tags darauf von Fritz Bauer und Alexander Mitscherlich öffentlich vorgestellt wurde. Obwohl viele der damals kritisierten Strafnormen (etwa: Kuppelei, Ehebruch, Unzucht zwischen Männern) inzwischen reformiert bzw. abgeschafft wurden, dürften die grundsätzlichen Bemerkungen zu den Ansprüchen an ein modernes Strafrecht heute noch genauso aktuell sein wie damals. Aus diesem Grund stellen wir den Text dem aktuellen Schwerpunkt voran.

Der „Entwurf eines Strafgesetzbuches (E StGB 1962) mit Begründung“ (BR-Drs. 200/62) entspricht in wichtigen Teilen nicht den Anforderungen, die an eine moderne Kriminalgesetzgebung zu stellen sind. Die grundsätzlichen Mängel des Entwurfes und seiner Begründung sind u. E. in folgendem zu erblicken:
Der Entwurf läßt den in der modernen Gesellschaft bestehenden Pluralismus ethischer Wertvorstellungen unberücksichtigt: Er ist bei der Regelung weltanschaulich umstrittener Straftatbestände – z. B. bei der ethischen Abtreibungsindikation, der Homosexualität und der künstlichen Samenübertragung – in Text und Begründung ganz unverkennbar einseitig an der katholischen Moraltheologie und dem scholastischen „Naturrecht“ orientiert. Das widerspricht dem Wesen und den Prinzipien eines demokratisch-pluralistischen Rechtsstaates, in dem neben katholischen auch evangelische Christen und Nicht-Christen gleichberechtigt zusammenleben. Das Strafrecht ist ein Recht für alle und muß deshalb von Gruppenwertungen frei bleiben. Andernfalls wird die Gerichtsbarkeit vom Gesetz zu schwerwiegenden Eingriffen in die Gewissensfreiheit und die Intimsphäre genötigt.
Die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften, insbesondere der Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie und der Sozialwissenschaften sind in dem Entwurf nicht genügend berücksichtigt. Ebenso fanden die rechtlichen Regelungen und rechtspolitischen Erfahrungen des Auslands keinen wesentlichen Niederschlag.
Wenn das geplante Gesetzgebungswerk der realen menschlichen und gesellschaftlichen Situation der westlichen Welt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gerecht werden und den verpflichtenden Namen „Reform“ verdienen will, muß es von folgenden Grundüberzeugungen getragen sein:
I. Das neue Strafrecht muß vom Geist des Grundgesetzes ausgehen. Der Kern des Grundgesetzes ist die konkrete Freiheit der einzelnen Person. Die Auswirkungen der Grundfreiheiten, die auf dem Gedanken der Toleranz beruhen, sind deshalb im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform noch einmal zu überprüfen und in die Überlegungen viel mehr als bisher einzubeziehen. Überall, wo Strafvorschriften mit den Grundrechten der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Freiheit des Gewissens, der Meinung und der Information, der Freiheit der Kunst oder mit dem Gebot des Schutzes der Intimsphäre zu kollidieren drohen, ist für den Gesetzgeber äußerste Zurückhaltung am Platz. Als Richtschnur für solche strittigen Entscheidungen muß der für den modernen Rechtsstaat charakteristische, vom Grundgesetz (Art. 1, I und Art. 2, II) und von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützte Grundsatz gelten: „Im Zweifelsfalle für die Freiheit!“
II. Die einzige legitime Aufgabe des Strafrechts ist die Abwehr antisozialer Angriffe auf den Rechtsfrieden. Keinesfalls gehört es dagegen zu den Aufgaben des Staates, Handlungen unter Strafandrohung zu verbieten; die weder Einzelpersonen noch der Allgemeinheit einen Schaden zufügen.
III. Strafvorschriften, die nicht auf diesen Voraussetzungen beruhen oder die sich als praktisch wirkungslos oder gesellschaftspolitisch bedenklich erwiesen haben, sind abzuschaffen, auch wenn eine solche Entscheidung im einen oder anderen Fall nicht sofort von der öffentlichen Meinung verstanden werden sollte. Der Staat muß in solchen Fällen darauf hinwirken, daß sich in der Öffentlichkeit allmählich ein Verständnis für die begrenzten Aufgaben des Strafrechts und die Unterschiede zwischen Recht und Moral ausbreitet. Der Gesetzgeber hat auf keinen Fall „allgemeine“ Emotionen, Vorurteile oder Gebräuche zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen.
IV. Das Parlament sollte sich mit den internationalen Rechtsentwicklungen befassen und nur solche Handlungen unter Strafe stellen, die in den Strafgesetzen aller westlichen Kulturnationen als strafwürdig angesehen werden. Ein modernes Gesetz, dessen Geist nicht provinziell und partikularistisch sein soll, muß vor allem den europäischen Einigungsentwicklungen Rechnung tragen.
V. Die Bundestagsabgeordneten und die zuständigen Ausschüsse sollten in jedem Fall vor endgültigen Entscheidungen von der Möglichkeit der Befragung der wissenschaftlichen Sachverständigen Gebrauch machen und die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft auch dann objektiv berücksichtigen, wenn sie ihren subjektiven politischen oder weltanschaulichen Meinungen zuwiderlaufen.
Auf der Grundlage der genannten allgemeinen rechts- und sozialpolitischen Erwägungen bittet die Humanistische Union den Bundestag, folgende Einzelvorschläge und Formulierungsentwürfe zu prüfen und in die Vorarbeiten zur Strafrechtsreform mit einzubeziehen (wir folgen dabei der Reihenfolge des Strafrechtsentwurfs E 1962 der Bundesregierung):
1. Die Zuchthausstrafe sollte wegen der außerordentlichen Erschwerung der Resozialisierung der Verurteilten und der praktischen Undurchführbarkeit im modernen Strafvollzug in ein neues Strafrecht nicht mehr übernommen werden. (Siehe allgemeine Richtlinien, Punkt III). Der neue § 12, der die Straftaten nach ihren strafrechtlichen Folgen einstuft, könnte in Absatz 1 lauten: „Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die mit Gefängnis über 10 Jahre und Verlust öffentlicher Rechte bedroht sind.“
2. Die §§ 24 und 25 des Entwurfs („Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ und „Verminderte Schuldfähigkeit“, also § 51 des geltenden Rechts) mögen in folgender Gesetzesvorschrift zusammengefaßt werden: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen einer in ihren Ursachen für ihn nicht erkennbaren, vom Bewußtsein willentlich nicht zu beeinflussenden, körperlich oder seelisch bedingten krankhaften Störung unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus diesem Grunde erheblich vermindert, so kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern oder von Strafe absehen.“

Das Memorandum wurde ursprünglich veröffentlicht in vorgänge 12/1963, S. 380-383; sowie als Humanistische Union (Hrsg.), Vorschläge zur Strafrechtsreform – als Memorandum dem Strafrechtsausschuss des Deutschen Bundestages überreicht, HU-Schriften 2, München 1964.

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