Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Menschen­rechts­kom­mis­sar: Kontroll­de­fi­zite bei deutschen Geheim­diensten und allgemeine Empfeh­lungen

in: vorgänge 212 (4/2015), S. 151-154

Der Menschenrechtskommissar des Europarates (CHR), Nils Muižnieks, legte am 1. Oktober 2015 den Bericht seines Deutschlandbesuchs im April und Mai diesen Jahres vor. Die 47 Mitgliedsstaaten des Europarates werden in regelmäßigen Abständen vom jeweiligen Kommissar aufgesucht. In den Gesprächen mit Vertretern von Regierung, Parlament und Verwaltung, der Monitoring-Institutionen und der Zivilgesellschaft geht es um aktuelle Probleme des menschenrechtlichen Schutzes im jeweiligen Land und um Lösungsvorschläge. Der diesjährige Bericht enthält neben den Fragen des institutionellen Menschenrechtsschutzes, des Rassismus und der besonderen Schutzansprüche von Migrant/innen auch einen Abschnitt zur Aufsicht der Geheimdienste.

Der Bericht spricht angesichts der Snowden-Enthüllungen von einer „umfassenden Missachtung der Rechtsstaatlichkeit“ insbesondere auch durch deutsche Geheimdienste, die besonders eng mit der NSA und anderen amerikanische Behörden kooperiert haben (Rn. 53). Daher seien Änderungen an den gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit der Geheimdienste sowie eine strukturelle Reform der Aufsichts- und Kontrollmechanismen notwendig. Allen voran wird die personelle, technische wie fachliche Ausstattung des Parlamentarischen Kontrollgremiums und der G10-Kommission als völlig unzureichend eingeschätzt (Rn. 58), zumal letztere für immer mehr Aufgaben zuständig ist. Charakteristisch für das Kontrolldefizit sei etwa die Tatsache, „dass die G10-Kommission und ihre Mitarbeiter nicht ausreichend gerüstet sind, die G10-Daten zu lesen und zu analysieren“ (Rn. 60) – die Kommission damit ihrer zentralen Kontrollaufgabe nicht nachkommen kann. Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert, „die Erhöhung des Haushalts der Nachrichtendienste mit einer entsprechenden Erhöhung des Haushalts der Aufsichtsgremien zu verbinden.“ (Rn. 73)

Darüber hinaus bemängelt der Bericht, dass es eine starke Fragmentierung der geheimdienstlichen Kontrolle in Deutschland gebe, die zur Konkurrenz zwischen den einzelnen Kontrollgremien führt. Zudem entscheide die zu kontrollierende Bundesregierung weitgehend selbst, welche Geheimdienstaktivitäten unter welches Kontrollregime (PKGr, G10, Datenschutzaufsicht) falle (Rn. 62). Hier verweist der Bericht besonders auf die umstrittene Auslandsüberwachung des BND, die der Kontrolle der G10-Kommission entzogen ist, weil die Bundesregierung den Anwendungsbereich von Artikel 10 GG handstreichartig auf das Inland beschränkt hat und die Überwachung ausländischer Kommunikationsvorgänge durch den BND als „Ausleitung von Routineverkehren“ deklariert, der derzeit ohne jegliche gesetzliche Einschränkung stattfindet. [1] Der Bericht fordert dafür eine klare Regelung, die den menschenrechtlichen Schutz nach Artikel 8 Europäischer Menschenrechtskonvention gewährleistet (Rn. 75). Doch auch die reguläre Kontrolle der sog. strategischen Fernmeldeaufklärung durch den BND weise ein Kontrolldefizit auf, wenn „ca. 2 % der ‚G10-Gesuche‘ von der G10-Kommission abgelehnt, alle anderen genehmigt wurden.“ (ebd.)

Für die anstehende Reform des Geheimdienstrechts fordert der Kommissar zudem einen vollen Zugang der Aufsichtsgremien zu allen für ihr Mandat wichtigen Informationen und Unterlagen bei den Diensten. Die Kontrollgremien sollten mit Ermittlungsbefugnissen und Instrumenten ausgestattet werden, die diesen Zugang gewährleisten können (Rn. 74). Schließlich wird eine Ausweitung des Kontrollmandats gefordert, um die „Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen der Zusammenarbeit mit ausländischen Sicherheitsdiensten zu überprüfen, einschließlich der Zusammenarbeit in Form eines Informationsaustausches, gemeinsamer Operationen und der Bereitstellung von Ausrüstung und Training …“ (Rn. 76) Diese Aktivitäten deutscher Geheimdienste sind bisher faktisch jeder demokratischen Kontrolle entzogen.

Dass Deutschland von anderen europäischen Staaten in Sachen Geheimdienstkontrolle einiges lernen kann, zeigte bereits ein im Juni 2015 vom Kommissar vorgelegtes Themenpapier zu den nationalen Kontrollmechanismen der Geheimdienste in den Mitgliedsstaaten des Europarates. Diese Untersuchung war nach den Enthüllungen Edward Snowden veranlasst worden. Sie konzentriert sich ausschließlich auf die Kontrolle geheimdienstlicher Überwachungsbefugnisse, d.h. die Kontrolle der Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen.

Der Report stellt zunächst die sich aus internationalen Verträgen ergebenden Verpflichtungen (hard law) sowie die von verschiedenen Seiten erarbeiteten Empfehlungen und Resolutionen (soft law) bezüglich der Genehmigung und Kontrolle geheimdienstlicher Überwachungsmaßnahmen vor. Als verbindliche Rechtsgrundlagen zieht er u.a. die Europäische Menschenrechtscharta (Artikel 8 und 13) sowie die sich darauf beziehende Rechtsprechung der Europäischen Gerichte heran, an die die Mitgliedsstaaten des Europarats gebunden sind. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Unabhängigkeit, an Ausstattung und Befugnisse der Kontrollgremien, an individuelle Rechtsschutz- und Beschwerdemechanismen. Unter den internationalen Sonderberichten, Resolutionen und Empfehlungen der UN, des Europarats und der EU verweist der Report besonders auf die Ergebnisse der Venedig-Kommission des Europarates, die 1998 und 2007 umfassende Vergleiche verschiedener Kontrollmodelle vorlegte (s.S. 35f.).

Den jeweiligen Stärken und Schwächen der verschiedenen nationalen Kontroll- und Aufsichtsmechanismen widmet sich auch der Hauptteil des CHR-Reports (Kapitel 4). In Bezug auf die parlamentarischen Kontrollgremien (wie dem PKGr in Deutschland) stellt der Bericht u.a. fest, „that most are not in a position to undertake regular, detailed oversight of operational activities including the collection, exchange and use of personal data. Such monitoring is increasingly undertaken by non-parliamentary independent oversight bodies.“ (S. 42f.) Eine effektive Kontrolle sei zeitaufwändig, hoch spezialisiert und personalintensiv – und deshalb allein mit parlamentarischen Mitteln nicht zu gewährleisten. Gegen die parlamentarische Kontrolle sprächen zudem die mangelnde technische wie operative Expertise der meisten Parlamentarier/innen, deren oft begrenzte Amtszeit (wodurch sie wenig Erfahrungen aufbauen können) sowie die Gefahr der Politisierung der Aufsicht (s.S. 46).

Bei der externen, durch Expertengremien ausgeübten Geheimdienstkontrolle hebt der Bericht die power des Belgischen Aufsichtskomitees hervor, das über eigenes Ermittlungspersonal und über polizeiliche Befugnisse verfügt. In den Niederlanden und Norwegen haben die Kontrolleure zudem direkten Zugriff auf Dateien, Datenbanken und Korrespondenz der Dienste (S. 49f.). Unter den Ombudspersonen ist der serbische „Protector of Citizens“ erwähnenswert, der über die Bearbeitung individueller Beschwerden hinaus proaktiv tätig werden darf, auf Eigeninitiative hin Geheimdienstaktivitäten untersucht und die gerichtliche Überprüfung von Überwachungsgesetzen veranlassen kann.

Auch die gerichtliche Genehmigung bzw. Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen weist dem Bericht zufolge mehrere Defizite auf: Für die Qualität der gerichtlichen Entscheidungen sei die technische wie organisatorische Expertise der Richter/innen ebenso entscheidend wie in anderen Kontrollgremien. Zudem ließe sich bei der gerichtlichen Genehmigung von Überwachungsmaßnahmen eine Tendenz zu „rupper-stamping decisions“ ausmachen, bei denen die Anträge der Geheimdienste nicht ernsthaft geprüft, sondern fast automatisch genehmigt werden. Das liege nicht zuletzt daran, dass Richter (im Gegensatz zu anderen Kontrolleuren) für die Folgen ihrer Entscheidung nicht zur Verantwortung gezogen werden. So wichtig dieser Grundsatz für eine unabhängige Justiz sei, so kontraproduktiv ist er für ein externes Kontrollgremium. „By contrast, a minister or quasi-judicial authorising body can more easily be held to account in parliament or by an independent oversight body for the decision it makes and this possibility may have a salutary effect on decision making …“ (S. 56)

Aus seinen Untersuchungen leitet der Bericht des Menschenrechtskommissars 25 konkrete Forderungen bzw. Empfehlungen ab, wie die Wirksamkeit der Geheimdienstkontrolle verbessert werden könne (S. 11 ff.). Davon seien hier nur auszugsweise genannt:

  • volle Kontrolle der internationalen Zusammenarbeit, Kooperationen und Datentransfers zwischen den Diensten (Nr. 5)
  • Vorab-Prüfung und Genehmigung jeder geheimen Datenerfassung, auch bei ungezielter Massenüberwachung und auch dann, wenn es sich „nur“ um Metadaten der Kommunikation handelt (Nr. 6)
  • Ausweitung der Kontrolle auf alle Informationen, die sich im Besitz der Dienste befinden – auch wenn sie von ausländischen Stellen empfangen wurden (Nr. 14/16)
  • Aufsichtsorgane sollten rechtsverbindliche Anordnungen gegenüber den Diensten erlassen, laufende Überwachungsmaßnahmen beenden bzw. Überwachungsgenehmigungen widerrufen können (Nr. 11).

Wie wenig die Bundesregierung indes geneigt ist, solchen Forderungen nachzukommen, zeigen ihre mittlerweile veröffentlichen Antworten auf den Deutschland-Bericht des Kommissars.

Anmerkung:

[1] Vgl. dazu die Beiträge von Huber und Lüders in vorgänge 206/207.

Nils Muižnieks: Bericht des Menschenrechtskommissars des Europarats nach seinem Besuch in Deutschland, am 24. April und vom 4. bis 8. Mai 2015 – CommDH(2015)20 vom 1.10.2015

Democratic and effective oversight of national security services. Issue paper 2015/2 published by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, 5th June 2015 (deutsche Zusammenfassung erschienen als: Demokratische und wirksame Aufsicht über die nationalen Sicherheitsdienste. Themenpapier)

Alle Berichte sind abrufbar unter
https://wcd.coe.int/rsi/common/index.jsp.

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