Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Symbo­li­sches Strafrecht

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 107-114

Immer häufiger liefern mediale Skandale den Anstoß für neue Bestimmungen im Strafrecht: Edathy-Affäre und das Verbot von Nacktaufnahmen Jugendlicher; Dopingaffären im Leistungssport und Anti-Doping-Gesetz; der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und die Vorratsdatenspeicherung … Monika Frommel kommentiert im folgenden Beitrag, welche Auswirkungen ein derart symbolisches Strafrecht hat, das kurzfristig reagiert und mit dem Politiker vor allem ihre Betriebsamkeit unter Beweis stellen wollen.

Beginnen wir mit einem Beispiel: der offensiven Pressearbeit durch institutionell freie Journalisten. Sie kann künftig nach dem neuen Straftatbestand der Datenhehlerei (§ 202a neu StGB) verfolgt werden. Enthüllungsjournalisten hatten früher den Ruf, ein wenig verschroben zu sein. Sie galten als einsame Wölfe, die sich monate-, manchmal jahrelang durch verstaubte Akten wühlten; oder die sich, wie Günter Wallraff, für ihre verdeckten Recherchen eine zweite Identität zulegten. Doch die digitale Revolution hat auch die investigative Arbeit der Medien revolutioniert. Auf der Global Investigative Journalism Conference, dem Weltkongress der investigativen Journalisten in Lillehammer, zeigten Computerexperten kürzlich in Workshops die neuesten Methoden und Tricks der Datensuche. Lauter kleine Edward Snowdens spürten verborgene Dokumente auf und beförderten mit wenigen Klicks in Facebook und Twitter Spuren zutage. Derartige Spuren existieren heute über nahezu jede und jeden, massenhaft. Die Kunst besteht allein darin, sie mit technischem Know-how in den sozialen Medien zu finden, die Spuren miteinander zu verknüpfen und Profile zu erstellen. Blitzschnell kann die Adresse eines mutmaßlichen Drogendealers ermittelt werden oder der Freundeskreis eines verdächtigen Islamisten. Manche Enthüller sehen darin kein Problem, zählen sie sich doch zu den Guten, die nur das Beste wollen. Überdies behaupten sie, all die von ihnen aufgespürten Informationen hätten die Nutzer freiwillig ins Netz gestellt. Für jede einzelne Information mag das theoretisch stimmen; aber nicht mehr für all die Querverbindungen zwischen den Daten und die sich daraus ergebenden Profile.
Im Frühjahr 2015 ärgerte sich Hans-Georg Maaßen, Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), über die Veröffentlichung geheimer Pläne zum Ausbau der Internetüberwachung im Blog netzpolitik.org. Maaßen stellt eine Strafanzeige gegen Journalisten des Portals; das Innenministerium widerspricht nicht, das Justizministerium bleibt ruhig. Es hätte eine Weisung erteilen können, so sensible Themen wie die Pressefreiheit nicht zum Gegenstand kontroverser Sichtweisen zu machen, aber der Minister schwieg. Das BfV hatte die Enthüllungen als Verrat von „Staatsgeheimnissen“ eingestuft. Der Bundesanwalt ist vorsichtig, verzichtet auf prozessuale Zwangsmaßnahmen und möchte die Frage eines vorliegenden Straftatbestands zunächst gerichtlich klären lassen. Nun wird es kompliziert. Am Ende geht der Bundesanwalt vorzeitig in Pension, der Justizminister stoppt das Ermittlungsverfahren und erscheint als Retter des Rechtsstaates. Das Publikum – sofern es nicht zu gut informiert ist – glaubt nun, die Pressefreiheit sei umfassend geschützt.
Während diese Kontroverse theatralisch ausgetragen wird, bringt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der künftig Datenhehlerei (ein äußerst dubioser Tatbestand) unter Strafe stellt. Auf den „Geheimnisverrat“ kommt es dabei nicht mehr an. Die Grünen kritisieren im Oktober die neue Gesetzgebung, aber ohne Erfolg. Der neue Straftatbestand ist demnächst geltendes Recht. Kundige reiben sich die Augen und fragen, was wir für eine Strafrechtskultur haben, in der heuchlerisch so getan wird, als ginge es um möglichst enge Grenzen der Strafbarkeit, aber gleichzeitig genau diese Grenzen ausgeweitet werden.
Als Reflexhaftes Strafrecht lässt sich eine Gesetzgebung charakterisieren, die nicht mehr Probleme lösen, sondern in erster Linie auf Skandale medienwirksam reagieren will. Sie greift reflexhaft Forderungen nach mehr Strafrecht auf und schämt sich zugleich, dass sie so agiert. Beides passt zu Politikern und Lobbyisten, die in erster Linie medienwirksam sein wollen. Strafrecht eignet sich für die Personalisierung von Problemen, weil es ohnehin seit dem 19. Jahrhundert personalisiert ist (Schuldprinzip). In einer Mediengesellschaft kann man auf diese Weise „Zeichen“ setzen. Praktisch für diejenigen, welche sich über die mittel- und langfristigen Folgen ihres Tuns erst einmal keine Gedanken machen, weil sie das Tempo der sich überstürzenden Skandale ohnehin überfordert. Beides – die Inszenierung eines Skandals und das Ingang-Setzen eines spektakulären Strafverfahrens – funktioniert nur, wenn diejenigen, die das betreiben, das komplexe Geschehen unangemessen reduzieren. Besonders auffällig ist dieser Verdummungseffekt, wenn ein Prominenter vor aller Augen von ganz oben nach ganz unten fällt.

Wie hoch sind die Kosten dieses Politikstils?

Sie sind beträchtlich. Regelmäßig wird es versäumt, die komplexen Rahmenbedingungen eines von den Medien kurzzeitig skandalisierten Problems zu analysieren. Ohne Personalisierung kein Skandal. Reagiert wird in Deutschland ohnehin reflexhaft mit der Forderung nach und dem Beschließen von Gesetzen. Wer weiß schon, was alles wie und warum geregelt worden ist. Beliebt ist neuerdings unbestimmtes Strafrecht. Es entsteht, wenn angenommene oder auch nur phantasierte Schutzlücken geschlossen werden. Gesteigert wird diese Unsicherheit durch Strafrecht dadurch, dass manche Straftatbestände offensichtlich nur noch ermittlungsrelevant sind – sie werden benutzt, um Ermittlungsverfahren einzuleiten, aber kaum je zur Anklage gebracht oder gar verurteilt. In einem Ermittlungsverfahren kommt es aber nicht darauf an, was bewiesen ist, sondern nur darauf, ob ein „Verdacht“ angenommen werden kann. Wird dieser Anfangsverdacht dann – unter Missachtung der Unschuldsvermutung – öffentlich breit getreten, ist das symbolische Kapital der (öffentlich) verdächtigten Person so gut wie immer zerstört. Wie langfristig ihr dieser Schaden nachhängen wird, bleibt dem Zufall überlassen.
Aber es gibt noch weitere Kosten. Gewöhnt sich eine Gesetzgebung an diesen Stil, und in dieser Legislaturperiode kann man ihn schon als Routine beobachten, dann ignoriert sie systematisch die schon vorhandenen, insbesondere die nicht-strafrechtlichen Instrumente. Wenn ihre Möglichkeiten systematisch ausgeschöpft und verbessert würden, ließe sich damit – meist sehr viel besser – Prävention und Kontrolle erreichen, ganz ohne Strafrecht. Statt sich diese Routine anzugewöhnen, vernachlässigt die aktuelle Politik systematisch die Analyse, Bewertung und Prognose der Probleme und Wirkungen neuer Strafnormen (bzw. Ordnungswidrigkeiten).
Die Kosten der sich steigernden strafrechtlichen Unsicherheit werden derzeit in Kauf genommen, weil man den symbolischen Nutzen der Skandalisierung überbewertet. Eine Politik, die im wesentlichen nur noch „Zeichen“ setzen will (Lobbyisten fordern solche „Zeichen“), ist weder rational noch wirksam. Es entsteht lediglich eine neue Art des Klientelismus. Deswegen kommt es auch fast nur noch auf Signale an. Außerdem gewöhnt man sich in einer Mediengesellschaft an diesen manipulativen und bisweilen geradezu heuchlerischen Stil. Politiker gaukeln dem Publikum vor, dass eine von allen Onlinemedien verbreitete Meldung als solche schon Wirkung zeige. Gewöhnt man sich aber daran, reflexhaft zu verkünden, dass ein Verhalten strafbar sei, die Staatsanwaltschaft bereits einschreite, und betreibt eine Änderungsgesetzgebung in Permanenz (wie etwa im Sexualstrafrecht seit 15 Jahre üblich), dann hat das leider nicht nur symbolische, sondern auch sehr reale, zerstörerische und für die Gesellschaft äußerst fatale Wirkungen. Strafrecht verliert langfristig seine Glaubwürdigkeit. Auch die öffentliche Moral, von der ständig die Rede ist, wird korrumpiert. Verloren geht das Wissen, dass jede Moral auf innerer Überzeugung beruhen muss und gerade nicht beliebig instrumentalisiert werden darf. Strafrecht hingegen lebt vom äußeren Zwang. Es wirkt nur, wenn es sparsam genutzt wird. Wer es in gesellschaftlich umstrittenen Debatten (etwa der Sterbehilfe) einsetzt, zerstört es. Vergessen wird außerdem, dass jedes Recht nicht nur die intendierten Folgen erzeugt, sondern zugleich auch unerwünschte und paradoxe Effekte. Deshalb soll Strafrecht möglichst auf ein (zwar historisch wandelbares, aber dennoch jeweils eng begrenztes) Kernstrafrecht reduziert bleiben. Andernfalls überwiegen langfristig die negativen Folgen gegenüber den ohnehin viel zu kurz gedachten symbolischen Wirkungen.

Wie sieht nun die Straftheorie aus, die zu einer hyperaktiven Mediengesellschaft passt?

Das symbolische Strafrecht verzichtet zunehmend auf die bislang übliche empirische Forschung, um die spezialpräventiven Wirkungen neuer Normen zu testen, und setzt ganz auf die symbolische Funktion. Es geht um indirekte Generalprävention. Dabei wird der Nutzen einer Begrenzung des Strafrechts auf Rechtsgüterschutz systematisch unterschätzt. Unbestimmtes Strafrecht zerstört nicht nur die Legitimität, auch die systematische Stimmigkeit der jeweiligen Regelungsbereiche verschwimmt. Permanent geändertes Strafrecht wird überkompliziert, undurchschaubar und – im Einzelfall – manipulierbar. Am Ende muss die Regelungswut mit Diversion kompensiert werden, was einem Verzicht auf rechtsstaatliche Rationalität gleichkommt. Wer nur auf öffentlichkeitswirksam geschürte Empörung reagiert, verliert schnell den Überblick. Dies kann man an zwei Beispielen zeigen:

Der Fall Edathy

Homosexuelle, die junge Männer begehren, profitieren nicht von der Akzeptanz, die ansonsten homosexuellen Menschen entgegen gebracht wird. Reste der alten Homophobie produzieren neue moralische Kreuzzüge. Männer, die zwar abweichend, aber nicht pädosexuell sind, können seit dem 2008 geänderten Sexualstrafrecht mit dem Etikett „Kinder- und Jugendpornographie“ belegt und zur Unperson erklärt werden. Überspielt wird, das nur dann ein gesellschaftlicher Konsens besteht, wenn es um klare Fälle der Kinderpornographie geht. Das Strafrecht des Jahres 2008 hat einen unbestimmten Straftatbestand der Jugendpornographie (mit der Schutzaltersgrenze von 18 Jahren) geschaffen. Der ist für Ermittlungsverfahren wie geschaffen, um alle Grenzen eines eng begrenzten Strafrechts aufzulösen. Da unklar ist, wie alt eine abgebildete Person wirklich ist, ermöglicht diese Strafnorm ein an Willkür grenzendes Vorgehen im Ermittlungsverfahren. Während der Edathy-Affäre legte das Justizministerium noch nach und schuf mit dem Verbot der Verwendung von Bildmaterial nackter Jugendlicher (§ 201a StGB) – ein Vergehenstatbestand unterhalb der Schwelle der Jugendpornographie – ein weiteres, beliebig manipulierbares Instrument gegen die Nutzer kommerzieller Angebote dieser Art. Wieso setzen Strafverfolgungsorgane (zuständig für „Pornographie“ ist das BKA) auf die Ermittlung und Sanktionierung der Konsumenten? Wieso nutzt man nicht die Instrumente des Bundesdatenschutzgesetzes (Persönlichkeitsrechte der Dargestellten), das doch ebenfalls Strafnormen kennt? Wieso behindert man nicht mit Hilfe eines angemessenen Jugend-Datenschutzes die Entstehung solcher – in der Tat unangemessenen – Märkte? Zuständig für Datenschutz sind die Innenministerien der Länder. Sie sind notorisch schlecht ausgestattet. Rational ist das nicht zu erklären. Gewollt ist offenbar die exkludierende Beschämung von einzelnen, sexuell abweichenden Männern.

Maternalismus und Paternalismus: das geplante Prostituiertenschutzgesetz

Betrachten wir nun eine andere Seite des Problems. Die Forderung schwedischer Feministinnen beim Thema Sexkauf gleichen dem, was früher Moralismus bewirkt hat. Schwedische Politikerinnen wollen jede Prostitution (den in Schweden verbotenen Sexkauf) verhindern und greifen zu einem Instrument, das die Käufer beschämt. Sie fordern für ganz Europa eine möglichst weit gefasste Freierbestrafung. Nahezu unbeschränkt sind die Ermittlungsmöglichkeiten, weil zugleich behauptet wird, dass fast jede Prostituierte (sexuell) ausgebeutet werde und folglich „Opfer“ sei; Opferschutz statt Sittenwidrigkeit. Die Zuschreibung einer strukturellen Opferrolle führt ohne weitere Umstände zu einem entsprechend strategisch formulierbaren Verdacht gegen Freier. Das ist gewollt. Man hält Abschreckung durch peinliche Ermittlungen für angemessen, um „Frauenrechte“ durchzusetzen. Dass eine solche Strategie nicht wirksam sein kann, wissen alle Politikerinnen, aber das hat schwedische Feministinnen bislang nicht daran gehindert, ihren Weg zu exportieren. In Deutschland wurde derartiges aggressiv 2013 und dann auch noch 2014 gefordert. Dass es hier nicht so weit kam, liegt lediglich daran, dass die Strafrechtsreform der 1970er Jahre noch nachwirkt. Aber wie lange hält diese Skepsis? Wie schwer es ist, Prostitution angemessen zu regeln, zeigen die Widerstände gegen eine gewerberechtliche Regulierung der Prostitutionsstätten (siehe dazu den Beitrag von Howe in diesem Heft). Behauptet wird, dass es darum gehe, Menschenhandelsopfer aufzuspüren. Solange die Bundesregierung dieser Opferideologie anhängt, wird sie in dieser Legislaturperiode keinen wirksamen Schutz gegen die Übervorteilung von Prostituierten erreichen. Propaganda hemmt nun einmal effektive Reformen.

Punitiver Populismus

Schlägt Paternalismus oder Maternalismus in unreflektierte Strafrechtsgläubigkeit um, wird es bedenklich. Der Schweizer Kriminologe Karl-Ludwig Kunz1 diagnostiziert für die Schweiz einen punitiven Populismus, der sich auf die Intensität des Strafens beschränkt. Die Schweizer Bevölkerung setzte über Volksbegehren durch, dass Sexualstraftäter unter bestimmten Bedingungen lebenslang verwahrt werden; ebenso will sie, dass auch auf Alltagskriminalität mit kurzen Freiheitsstrafen reagiert wird. In Deutschland ist die Intensität des Strafens eher moderat. Hier hält sich das milde Strafklima, das vor knapp 50 Jahren eingesetzt hat. Aber die neuen Moralisten weiten den Umfang des Strafrechts (die Extension) schleichend aus und scheuen sich auch nicht, ihre jeweils für richtig befundene Moral straf- oder ordnungsrechtlich zu stabilisieren, was per se schon illegitim ist. Wer die Reform-Debatte der 1970er Jahre noch kennt, ist besorgt über diese irrationale Wendung und die Re-Moralisierung des Strafrechts. Welche Veränderung der gesellschaftlichen Debatten über Ethik und Moral haben diese Re-Moralisierung begünstigt?

Historischer Wandel

In den 1970er Jahren ging es noch darum, eine repressive Moralisierung zurück zu drängen. Das repressive Verständnis reicht zurück in die Anfangszeit des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) von 1870. Es konnte in der Weimarer Zeit nicht korrigiert werden und ging noch in den 1940er und 1950er Jahren verhängnisvolle Koalitionen mit dem jeweiligen Zeitgeist ein. Nicht nur die Erfahrung mit „furchtbaren Juristen“, sondern auch ein Überdruss an„Sittlichkeitsdelikten“ wie Ehebruch, Homosexualität unter Erwachsenen („widernatürliche Unzucht“), Abtreibung2 und „Förderung der Prostitution“ stärkte die Reformer. Ihre Ideen setzten sich allerdings – man denke nur an die zähen Debatten um die Abtreibung (die Beratungslösung kam erst nach der „Wende“ im Jahre 1995) und die Prostitution (ProstG 2002) – erst Jahrzehnte später durch.
Aber auch aktuell gibt es noch die alten Widerstände. Man denke nur an die für diese Legislaturperiode angekündigte Neuregelung der Prostitution, die nicht voran kommt. Der vorliegende Entwurf krankt daran, dass er einerseits die Bordelle nicht konsequent kontrolliert, insbesondere keine effektive Preiskontrolle anstrebt, sich aber andererseits nicht scheut, die individuellen Sexarbeiterinnen zu drangsalieren (durch komplizierte Anmeldepflichten und Pflichtuntersuchungen). Unverhohlen werden – wohl wissend, wie schädlich solche Eingriffe in die persönliche Freiheit der angeblich Geschützten sind – Zwangsuntersuchungen und Zwangsberatungen als „Hilfe“ deklariert. Der Entwurf heißt heuchlerisch Prostituiertenschutzgesetz, verdient aber diesen Namen nicht, weil er diejenigen, welche er zu schützen vorgibt, in die Illegalität treibt (Normenfalle).

„Moral“ als „kritische“ Instanz?

Offenbar hat sich das Verständnis von Moral in den letzten 50 Jahren erheblich gewandelt. Vielen Menschen scheint Moral eine kritische Instanz zu sein gegen „Macht“ und „Gier“. Letztere werden verantwortlich gemacht für die Ausbeutung der Natur (Moral des Umweltschutzes als Lösung), der Tiere (Tierwohl als Gegen-Strategie) und des Menschen (Recht, ggf. auch Strafnormen gegen alle Formen der Ausbeutung). Die Strafverfolgung von Menschenhandel scheint in diesem Licht sinnvoll, um ein ungehemmtes ökonomisches Denken zu bremsen. „Moral“ könnte helfen, meinen viele, um Probleme im Gesundheitswesen und in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu lösen. Solange diese neue Sensibilität die Zivilgesellschaft aktiviert und die Politik zu neuen, internationalen Lösungen zwingt, ist sie zu begrüßen. Aber leider geht sie auch einher mit einer neuen Strafrechtsgläubigkeit, welche in einer Mediengesellschaft die Politik zur Selbstdarstellung und einzelne Politiker zur Demonstration von Aktivität motiviert, statt objektiv bestehende Probleme tatsächlich angemessen und so effektiv wie möglich zu lösen.

Was also hat sich verändert? Was waren die Ziele der großen Strafrechtsreform der 1970er Jahre und was wollen Politiker heute?

Ziel des Strafrechts sollte der Schutz von Rechtsgütern sein. Strafrecht ist kein Instrument der Volkspädagogik. Individuelle Moral ist plural. Jede sozial verankerte Ethik setzt voraus, dass die jeweiligen Werte akzeptiert, also freiwillig befolgt werden. Dazu müssen diese Werte innerlich geteilt werden. Repressives Recht hingegen muss sich – was seinen Umfang betrifft – beschränken, denn es hat einen Zwangscharakter. Es muss für alle gelten, darf also nicht hochselektiv gegen wenige Einzelne eingesetzt werden. Schon gar nicht darf Strafrecht ein Mittel zu medialen „Normbekräftigung“ sein.
Diese Prinzipien stammen aus einer Zeit, die als liberale Strafrechtsreform (1969-1974) in die Geschichte einging und noch heute wirkt. Damals wurden die sogenannten „Sittlichkeitsdelikte“ beseitigt. Aber die Wirkung dieser Ära lässt nach. Wenn Strafrecht im wesentlichen „Signale“ für moralische Postulate setzt, dann handelt es sich nicht mehr um Rechtsgüterschutz, sondern nur noch um punitiven Populismus. Populistisch wird es, weil es seine eigene Wirksamkeit nicht mehr abwartet und untersucht, im wesentlichen auf kurze Effekte setzt und sich langfristig selbst delegitimiert. Die rationale Sicht der großen Strafrechtsreform scheinen gegenwärtig ohne Not durch andere Politikformen ersetzt zu werden. Aber was sollen diese bewirken?
Um das überkommene Strafrecht zu rationalisieren, forderten liberale Strafrechtler damals die Rückkehr zu einem Kernstrafrecht. Bei strittigen Fragen sollten ferner außerstrafrechtliche Regelungen Vorrang haben. Übersetzt in die Gegenwart würde dies beispielsweise heißen: statt der immer noch üblichen und weitgehend sinnlosen, wenn nicht sogar schädlichen Konsumentenstrafbarkeit bei illegalen Drogen eine konsequente Regulierung der Märkte; keine Ermittlungsparagraphen, die Nutzer von Bildern und Dateien, die an der „Grenze“ zur strafbaren Kinderpornografie angesiedelt sind, die also eigentlich erlaubt, wenn auch extrem peinlich für den Nutzer sind – sondern ein effektives Bundesdatenschutzgesetz und eine angemessene Implementation der dort geregelten Instrumente, um kommerzielle Anbieter und Tauschbörsen zu verfolgen und (so weit möglich) zu unterbinden. Statt Derartiges auch nur zu überlegen, wurden Ermittlungsparagraphen geschaffen. Wo sie gelten, kann durchsucht und beschlagnahmt werden, weil der pauschal geäußerte Verdacht gegen eine „verdächtige Person“ im Ermittlungsverfahren gar nicht mehr zu widerlegen ist. Wer irgendwelches halblegales Bildmaterial bestellt hat, könnte darüber hinaus ja auch problematische Nacktfotos von Kindern und Jugendlichen erhalten haben. Außerdem kann es ja noch schlimmer gewesen sein … Strafrecht auf Halde schafft fatale Routinen in einer Rechts(un)kultur mit ausgefransten Ermittlungsverfahren und einer großzügigen Praxis der Verfahrenseinstellungen nach dem Opportunitätsprinzip. Zwar gilt theoretisch die Unschuldsvermutung, aber sie ist praktisch wertlos geworden.
Derartige Praktiken wollten die Strafrechtsreformer vor 45 Jahren abschaffen. Ihr kriminalpolitisches Anspruch lautete damals: bevor der Staat strafrechtliche Instrumente wählt, muss er prüfen, ob das erstrebte Ziel überhaupt auf diese Weise erreicht werden kann (und ob es vielleicht mildere Mittel als ein strafrechtliches Verbot gibt, um dieses Ziel zu erreichen). Als Postulat hatten diese Prinzipien Erfolg, aber sie wurden nie wirklich konsequent umgesetzt. Heute sind wir fast schon so weit, dass diese Prinzipien mittlerweile gar nicht mehr eingefordert werden. Moral gilt nicht mehr als herrschaftsstabilisierend, sondern als kritisch. Dass Moral in einer Mediengesellschaft nur dann „mächtig“ ist, wenn es gelingt, einen Skandal zu inszenieren, gerät dabei in Vergessenheit. Die Gefahr des Populismus ist zwar präsent, aber sie wird heruntergespielt. Fatal wirkt indessen die Kombination von Personalisierung und Skandalisierung sowie deren exkludierende Effekte. Die Deutschen sind nicht mehr an harten Strafen interessiert (das Strafklima ist eher mild), aber sie erweitern ohne jedes Problembewusstsein den Umfang dessen, was strafrechtlich reguliert werden kann. Unpräzises Strafrecht breitet sich aus wie ein Ölfleck. Wir sind in Deutschland noch nicht so weit wie in der Schweiz, wo die lebenslängliche Verwahrung durch einen Volksentscheid eingeführt und die schädlichen, aber eher wirkungslosen Kurzzeit-Haftstrafen noch heute praktiziert werden. Stattdessen bahnt sich hierzulande ein rot-grün-schwarzer Konsens an, wonach unmoralisches oder auch nur selbstschädigendes Verhalten auch strafbar sein soll.
Diese Tendenz ist nicht neu, sie zeigt sich bereits seit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, also kurz nach der Strafrechtsreform, in der Drogenpolitik und in der Abtreibungsfrage. Gegenwärtig prägt sie Debatte um die seit über 10 Jahren ausstehende gewerberechtliche Regulierung der Prostitution, die seit dem Prostitutionsgesetz von 2002 überfällig ist (s. den Beitrag von Howe in diesem Heft).
Immerhin: auch halbherzige Reformen haben ihre Erfolge. Seit den 1970er Jahren gehen – mit leichten Schwankungen – die Freiheitsstrafen zurück; seit der Jahrtausendwende sinkt die Kriminalität. Zwar gibt es zahlreiche Regelverstöße, aber sie könnten in außer-strafrechtlichen Kontrollen angegangen werden. Der Umfang des Strafrechts könnte radikal beschränkt werden. Was hindert uns daran?

PROF. DR. MONIKA FROMMEL   Jahrgang 1946, ist promovierte Rechtswissenschaftlerin und habilitierte 1986 mit einer Untersuchung über „Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion“. Nach einer Professur für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität in Frankfurt am Main (1988 – 1992) erfolgte 1992 der Ruf an die Kieler Christian-Albrechts-Universität, wo sie bis zu ihrer Emeritierung im September 2011 das Institut für Sanktionenrecht und Kriminologie leitete. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Kriminologie aus feministischer Perspektive sowie das Sexualstrafrecht. Frommel ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Neue Kriminalpolitik und Mitglied im Beirat der Zeitschrift Kritische Justiz sowie der Humanistischen Union.

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